Berit Glanz: Partikel
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Katharina Kohm
Berit Glanz: Partikel. Gedichte. Leipzig (Reinecke und Voß)
2020. 48 Seiten. 10,00 Euro.
Partikel wie Pointillismus
Gedanken zu Partikel von Berit Glanz
Die Analogie zwischen Malen und Dichten ist alt; ähnlichen
Ursprungs wie die zwischen Lyrik und Musik. Dass man sich Analogien bedient
beim Schreiben, um einer Poetik des Dichterischen näher zu kommen und dass sich
in der konkreten Dichtung eine Poetik wiederum skizzieren lässt, sodass Poesie
sich reflektiert, erscheint gegenwärtig als Mittel, das gleichzeitig Aussage
ist. Ohne diese Spiegelung und Brechung würden aktuelle Gedichte unterkomplex
erscheinen. Man erwartet es von ihnen. Ein Konstrukt, einen Unterbau.
Um das Stehen im Gemälde, das Stehenbleiben wie bei Bildern
einer Ausstellung, in einem Zyklus voll konsequenter Wandlungen des Themas, darum
geht es in Partikel von Berit Glanz, erschienen 2020 bei Reinecke &
Voß, einer Reflexion auf physikalisch-chemische Prozesse, aber auch Hinweis auf
den Namen eines konkreten Malers: Alfred Partikel.
Die Texte von Berit Glanz entstanden unter dem Eindruck vor
Ort im Rahmen eines Stipendiums des Künstlerhauses Lukas in Ahrenshoop. Die
Sprachwelt von Glanz und die Biografie des Malers sind verbunden durch den Ort
Ahrenshoop, der als Fluchtpunkt zeitversetzt durch die Sprachkunst und vormals
die Malerei des Malers hindurchgeht und als Ort zum Fixpunkt einer Begegnung,
zu ihrem Schnittpunkt wird.
Die Gedichte und lyrische Prosa fangen Stimmungen und Bilder ein, reflektieren synästhetisch bestimmte Figuren und Landschaften, die sich durch den Zyklus hinweg variieren und verwandeln. Immer wieder kristallisiert die Sprache jene beschriebenen Salzrosen und Witterungsprozesse von geolo-gischen Strukturen durch Meer und Wind.
Es schieben sich bewusst Zeiten ineinander, verwandeln sich, bis sie kristallin Partikel werden im Mosaik, das von weit weg betrachtet, ein Ganzes bildet und doch Erosionen zulässt, Geschiebe, Geschichte und Reibungspunkte. Man liest von Fischschwärmen, die durch das Gedicht hindurch mit der kristallinen Struktur von Salz kontrastiert werden, auch seziert. Dabei widersetzt sich die Anordnung der Texte einer formalen Ordnung. Mal sind ihnen Titel, manchmal lateini-sche Nummerierungen, mal nichts vorgeschaltet.
Mal handelt es sich um Verse, mal um lyrische Prosaminiaturen. Auch werden Gedichte wie Experimente durchbuchstabiert, zu einer „Gedichtreihe“, und es fällt schwer, nicht an Versuchs-reihen zu denken, „Dispersionsstudien“ von A-G, die den Band durchziehen wie Halterungs-punkte, und doch erscheinen diese Fixpunkte die Funktion von Ordnung zugleich zu konter-karieren, ja vorzuführen.
So wie mit dem Begriff „Dispersion“ die Verteilung von Wellen bzw. Partikeln innerhalb eines Raums gemeint ist, auch ein Zerlegen, etwa von Farben durch Brechung, trägt dieser disparate Vorgang auch dem Titel Rechnung. Doch ist das vorliegende Textgemisch kein Sammelsurium freier Radikale, sondern die Verbindung und Wiederkehr einzelner Motive und Sprachbilder, die Komplementäres zulässt, lose Verbindungen, Faszien und Brücken, die dynamisch sind. Die Oszillation organisch erscheinender Verbindungen von wiederkehrenden Motiven und ihr Sezieren scheint an jeder Stelle des Bandes durch wie eine nicht aufzulösende Bewegung, ein Hin- und Herschaukeln.
Eine Dispersion ist das Gemisch zweier Stoffe
nicht gelöst, nicht verbunden
separat
(Dispersionsstudie, S. 12)
Der Fischerort Ahrenshoop wird in den Gedichten zum Ort der Betrachtung dessen, was man erwartet. Fische, Salz, Wetter, Wellen, Licht. Schon das erste Gedicht öffnet einen großen zeitlichen Rahmen, wenn dort von Flugsauriern die Rede ist, ein vertikaler Einschnitt in prähistorische Zeiten, die hinter dem Boden des Historischen und des gegenwärtigen lyrischen Ichs mitschwingen:
Der Schatten eines Flugsauriers
neben mir auf dem Sand
Mit zusammengekniffenen Augen sah ich auf
in den wolkenlosen Himmel
Eine Möwe kreischt
Am Horizont das Schiff der Küstenwache
(S. 5)
Dieses Greifen in die Zeit wird auch durch das Aussparen von Satzzeichen unterstützt, die im Band insgesamt rar gesät sind. Wo sie allerdings gesetzt werden, kommt dem formalen Zeichen eine semantische Bedeutung zu.
Immer wieder treffen dabei Partikel und Salzpartikel aufeinander. Die Analogie zwischen Fisch und Mensch, die halbseitige Rückverwandlung eines Menschen in ein Meerestier, ihre umgekehrte Ontogenese wird in den Gedichten stets von neuem angedeutet, als wolle das lyrische Ich das Partikeldasein durch Entsprechungen überwinden:
Die Salzpartikel in meinem Blut
schnappen nach Luft
und ich klappe den Mund
wie ein Fisch
auf und zu und auf
Unter meiner Hauptoberfläche
schlagen die Partikel
mit ihren Schwanzflossen
(S. 7)
Unterbrochen und überblendet werden diese Gedichte von thematischen Bezügen auf den Maler Alfred Partikel, dessen Flucht aus Königsberg sowie andere historische Narrative über die Stadtgeschichte mit eingeflochten werden.
Das Wasser glitt zwischen seinen Fingern hindurch, mit den Händen erzeugte erStrudel. Der Wind kräuselte die Meeresoberfläche. Er dachte an die Viskosität desOzeans, daran, dass Wellenbewegung nie in die tieferen Wasserschichten eindringenkonnte.
(S. 17)
Diese Beobachtungen hätten 1:1 auch vom lyrischen Ich verlautbart werden können. Dass der Anblick und das Empfinden in Bezug auf Orte am Meer möglicherweise zeitlos erscheint, sich das Individuum durch den Anblick des Meeres beinahe aufzulösen droht, könnte die Gemeinsamkeit ihrer beider ästhetischen Erfahrung sein. Und da das lyrische Ich sich zu Anfang mit sprachlichen Mitteln einem Fisch annähert, so kehrt das Motiv wieder, wenn es heißt:
Zögerlich betastete er den Fisch, die leicht glitschige Oberfläche, die harten Flossen.Als er den Kiemendeckel anhob, darunter die fedrigen roten Kiemen sah, hatte er dasBedürfnis sich zu entschuldigen. Es kam ihm so intim vor, als hätte er einem anderenMenschen in den Mund geschaut [!]
Es ließen sich auch andere Motive aus dem Band wie „Leitpartikel“ finden, die weitere Lesarten und Verbindungen eingehen und dennoch nie manifest werden, sodass die hermeneutische Textarbeit selbst in ein Mäandern gerät, die dem Lesen des Bandes guttun, da jeder dieser Texte separat für sich steht, und dennoch eine Verbindung zum Ganzen eingeht, verändert man nur das Verhältnis von Nähe und Distanz, ähnlich dem Pointillismus.