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Àxel Sanjosé: Drei Betrachtungen anlässlich einer aktuellen Begebenheit des Lyrikbetriebs

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Àxel Sanjosé

Drei Betrachtungen anlässlich einer aktuellen Begebenheit
des Lyrikbetriebs


Am 21.1., einem Dienstag, besuchte ich die Lesung von Henning Ziebritzki im Lyrik Kabinett (Gesprächspartner: Michael Braun). Just am Wochenende davor war bekanntgegeben worden, dass der Autor für seinen Band Vogelwerk den diesjährigen Peter-Huchel-Preis erhält. Abgesehen vom grundsätzlichen Interesse fand ich dies natürlich einen idealen Moment für die Begegnung mit der neuesten Lyrik Ziebritzkis, dessen letzter Band ja auch schon 13 Jahre zurückliegt.

Über die Lesung ist hier in den Signaturen ausführlich berichtet worden. Eines jedoch war auffällig und ist bislang unerwähnt geblieben: Von der gesamten Münchner Lyrikszene (ich nenne das mal so) waren bis auf Kristian Kühn und mich, sofern wir jeweils überhaupt dazuzählen, kein einziger Autor und keine einzige Autorin zugegen. Das scheint mir zumindest seltsam, gilt doch der Peter-Huchel-Preis als einer der angesehensten für deutschsprachige Lyrik. Noch dazu konnte man ja auch nicht behaupten, die Texte seien schon derart verbreitet und häufig besprochen, dass die Neugier verflogen sein musste. Hatten wirklich so viele Kolleg/innen Angelika Overraths Rezension in der F.A.Z. gelesen? Oder die Kurzzusammenfassung davon im Perlentaucher? Oder Monika Vasiks etwas hilfesuchende Besprechung in Fixpoetry:

Dass der von mir sehr geschätzte Frank Milautzki (ebenfalls in Fixpoetry https://www.fixpoetry.com/fix-zone/2020-01-23/huchelpreis) als Meldung zum Huchelpreis Tobias Lehmkuhls Aussage, der Band »sei nicht so aufregend«, aus einem Interview im Deutschlandfunk zitierte und dies mit den Worten einleitete, Lehmkuhl spreche aus, »was viele denken«, hat mich allerdings etwas verwundert, ebenso wie der etwas sibyllinische Abschluss, er (Milautzki) habe das Buch zwar nicht gelesen, kenne aber »viele Bände aus dem vergangenen Jahr, die sich existentiellen Fragen stellen und gleichzeitig große Risiken eingehen«.

Ob sich dies auf die Zuschauerzahl im Lyrik Kabinett niedergeschlagen hat? Sicherlich hatte jede/r einzelne ihre/seine Gründe für den Nicht-Besuch – z.B. dass am Abend darauf die »Kooperationen« stattfanden, an denen insgesamt 37 Münchner Dichter/innen mit je fünf Minuten pro Paar/Trio beteiligt waren –, trotzdem scheint mir die gehäufte Absenz der Münchner Lyrikerinnen und Lyriker mehr als nur ein Zufall zu sein, welche Deutung man dem auch immer geben mag.

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Möglicherweise besteht auch ein Zusammenhang mit den Reaktionen auf die Huchelpreiswahl, die verschiedentlich auf Facebook zu lesen waren. Ich habe nur einen Teil davon mitbekommen, dazu später noch inhaltlich eine Anmerkung.

Jenseits der Aussagen und Argumente der einzelnen, die sich, so weit ich wahrnehmen konnte, eher nicht einverstanden mit dem Juryentscheid erklärten, nutze ich hier die Gelegenheit, eine mediale Verschiebung zu thematisieren. Bis vor sagen wir mal zehn Jahren fanden Auseinandersetzungen über Juryentscheide und andere Geschehnisse des Lyriklebens in öffentlichen Foren statt, etwa in der Lyrikzeitung. Da konnte jede/r mitdiskutieren und es war möglich, die Thesen und Gegenthesen lückenlos zu verfolgen. Längst ist dies Vergangenheit, die Debatten werden nun gerne auf Facebook geführt – mit dem Nachteil, dass man nie so genau wissen kann, ob man eine Debatte überhaupt mitbekommt (abhängig davon, ob ich mit der Person, die selbige lostritt, »befreundet« bin und ob der Algorithmus mir den betreffenden Post dann auch zeigt). So entstehen halböffentliche oder halbprivate Diskussionen (wenn’s rein private wären, wäre es ja egal, dann geht’s mich nichts an), die für viele nicht nachlesbar, trotzdem aber sehr wohl im Raum sind.

Ob es andere Wege geben könnte? Ich bin da nicht sehr optimistisch, denn das Praktisch-Bequeme des schnellen und letztlich unverbindlichen Facebook-Posts hat sich ja nicht umsonst durchgesetzt (und ich gebe auch zu, dass ich persönlich den Aufwand, ein wie auch immer geartetes Portal zu betreuen, nicht stemmen würde). Vielleicht liest das hier jemand und hat eine Idee.

Und um nicht falsch verstanden zu werden: Ich habe gar nichts gegen das Bekunden von Meinungen auf Facebook, gerade auch verbunden mit der Möglichkeit des Informellen und Persönlichen. Ich vermisse einfach nur die wirklich öffentliche Plattform.

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Dann noch zu einem inhaltlichen Punkt der erwähnten Reaktionen auf Ziebritzkis Wahl. Der Tenor war, wie gesagt, eher ablehnend (auch hier wohl durchgehend noch vor Lektüre), doch jenseits der Befindlichkeiten und Motivationen der einzelnen Kommentierenden fand ich eine mehrmals wiederholte Aussage bemerkenswert: dass (sinngemäß wiedergegeben) hier raunende Lyrik ausgezeichnet worden sei. Dies wurde implizit in Gegensatz zu nicht-raunender Lyrik gestellt, die eine solche Auszeichnung weit mehr verdient habe. Beim Lesen von Ziebritzkis Gedichten hat sich für mich der Eindruck des Raunens zwar nicht bestätigt, aber die Kategorisierung halte ich für äußerst interessant.

Denn wenn ich es richtig verstanden habe, zieht sich entlang des Raunens/Nicht-Raunens eine Linie durch die deutschsprachige Lyrik (und nicht etwa entlang der völlig obsoleten realpoetischen Front). Raunende Lyrik wäre, so vermute ich, eine, die dunkel redet, die verborgene oder chiffrierte oder jedenfalls nicht explizit genannte Botschaften vermittelt, gleichsam Geheimnisse, die möglicherweise auch nicht für jede und jeden bestimmt sind. Dieser Lyrik haftete die Vorstellung der Dichterin/des Dichters als Träger/in tieferen Wissens oder als Medium an. Sowohl das Hermetische als auch das Numinose dieser raunenden Lyrik erscheinen, so meine ich es herauszulesen, als veraltet und suspekt und daher nicht als preiswürdig.

Im Gegensatz dazu stünde die nicht-raunende Lyrik. Sie impliziert einen anderen Zugang zur Realität: Die Autorinstanz ist keine Übermittlerin, sondern ein Reflektor, der resultierende Sprachgestus ist ein offener. Das Sprachmaterial wird semantisch neu arrangiert, unterschiedliche Lebensbereiche und Sprachcodes geraten aneinander, durchdringen sich, bilden Dissonanzen und Polyphonien. Die Anmutung ist fragmentarisch, von Kontrasten geprägt. Wenn diese Lyrik manchen Lesern oder Leserinnen nicht zugänglich ist, dann eben nicht aufgrund ihrer (raunenden) Hermetik, sondern weil sie grundsätzlich nicht auf ein herkömmliches »Verstehen« ausgelegt ist. Sie ist risikoreich und cool und sollte deshalb für Auszeichnungen eher in Betracht kommen.

All dies extrem vereinfachend und spekulativ dargestellt, und vielleicht täusche ich mich auch. Mir jedenfalls scheint es, als artikulierte sich – wiewohl die Erscheinungen selbst und ihre Bipolarität nicht neu sind – in der Distanzierung vom »Raunenden« ein Paradigma heutiger ästhetischer Präferenz.

Àxel Sanjosé, 18.02.2020


PS: Ich lese gerade (nota bene: auf Facebook), dass die Präsentation des posthumen Bandes von Thien Tran in Berlin am 13. Februar sehr schlecht besucht war. Das hat ganz gewiss nichts mit dem intuierten Paradigma zu tun, sondern mit anderen Mechanismen.

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