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Henning Ziebritzki präsentiert seinen neuen Band "Vogelwerk"

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Kristian Kühn

Allein das Gerüst! Das Gerüst!


Es kommt schmal daher, dieses Büchlein „Vogelwerk“, fein, elegant, nicht als Brett oder Ziegelstein, eher als dünne Scheibe, als Handgerüst. Es fällt irgendwie schon von außen durch seine gedankliche Sauberkeit auf. Und es ist nicht leidend oder geschwollen pastoral, auch nicht pädagogisch, es ist neutral, geschliffen, blank. Ein Gerüst des Vorhandenen, dessen, was noch da und damit beobachtbar ist.
    Aber nicht als Gerüst für einen Neuanfang oder Wiederaufbau – es steht für den Rest unserer Teilhabe am Sinnlich-Wahrnehmbaren unserer Welt, diesem Rest, der, theologisch gesehen, noch übriggeblieben ist: Die Wunden, die symbolische Vertauschung (es sind die Vögel, die uns füttern, nicht wir sie). Es steht für die seelische Verkrüppelung der Natur und, in ihr, die des Menschen. Auf eine mögliche geistige Verbindung des noch Vorhandenen zur metaphysischen Ebene geht das Buch kaum ein, da hält es sich dezent zurück.
    Soviel zum Buch, es wird noch als Lyrik zu rezensieren sein. Hier geht es, bei diesem Bericht, um die Rekonstruktion der Poesie Henning Ziebritzkis, der am 18. Januar 2020 den Peter-Huchel- Preis zugesprochen bekommen und – als sei es eine „Punktlandung“ – dieses „Vogelwerk“ dann bereits am 21. Januar im Lyrik Kabinett in München, unter der Moderation von Michael Braun, vorgestellt hat.

Henning Ziebritzki, noch nicht ganz 60 Jahre alt, studierte evangelische Theologie in Tübingen, promovierte über platonische Tendenzen bei Origenes, war von 1995 bis 2001 Pfarrer, dann wechselte er als Lektor in den wissenschaftlichen Verlag Mohr Siebeck, dessen Leiter und Geschäftsführer er mittlerweile ist.

Nach eigenen Angaben liest er viel, auch junge Lyrik, obwohl man das von ihm nicht erwarte. – Thomas Kling zum Beispiel, und diesen von Anfang an. Ein fanatischer Leser sei er. Und so sprächen gefilterte Stimmen in seinen Gedichten, die einen „Echoraum“ bildeten „generativer Kräfte“ (von Autoren), die in sein Werk bewusst oder unbewusst eingedrungen sind.

Allein das Gerüst! Das Gerüst! 52 Gedichte als „aufmerksame Begleitung“ eines „Blicks auf die Natur“, jeder Text auch immer ein Selbstportrait einer „in Unruhe geratenen Subjektivität“ – nicht mehr, nicht weniger. Immer auch Gefühle, aber vor denen hat er Scheu und Angst, denn sie könnten auch Hass sein, statt Liebe. Ganz wichtig für ihn ist, dass aus seinen Gedichten nicht der Autor, Ziebritzki als Person, selber spricht. Nicht er schreibe sie, sondern jeweils eine Stimme. Und so geschah es, als er vor Jahren in einer ernsten Schreibkrise steckte, weil er wohl viel zu viel gleichzeitig ausdrücken wollte, dass er die Stimme einer Amsel hörte, die ihn berührte und zu ihm sprach. Diese Begegnung veranlasste ihn, sechs Jahre an dem Vogelwerk zu arbeiten. Auf die Frage, warum gerade 52 Gedichte aufgenommen worden seien und nicht mehr, nicht weniger, antwortete er, dass er nur Vögel zum Anlass seiner Texte nahm, denen er begegnete, die er „sah“ und mit denen er deshalb eine Episode teilt. Auch sei die Auswahl pragmatisch gewesen. Ein Gerüst. Denn auch die Gedichte würden letztlich miteinander in Folge korrespondieren. Alles im Gedichtgerüst bleibe Form. Auch die Stimmenvielfalt. Unbedingt aber wolle er dabei den „Ball flachhalten“. Auch beim Beschreiben des Erduldens. Überwältigungsbezügen generell, auch denen der jungen Lyrik, stehe er skeptisch gegenüber. Nur kleine Volten der Überraschung leiste er sich, etwa, dass die Tauben bereits verkrüppelt sind, aber kommen, um ihn, den Betrachter, zu füttern. Und nicht umgekehrt, er sie.
    Ein Gedicht liest er zum Schluss, das über den Kormoran – eine Hommage auf Ted Hughes, der auch eins über den Kormoran verfasst hat und den er sehr verehre. Wie übrigens auch Jan Wagner. Komisch, dass ausgerechnet Ziebritzki, evangelischer Theologe, fasziniert von einem Magier und Schamanen ist – und das bei der alten (vor allem auch protestantischen) Diskussion, ob Theurgie die Teilhabe am Göttlichen forcieren, ob sie Kräfte herunterzuziehen versuchen dürfe. (Der gleiche Streit zieht sich bis heute ja auch bei Protestanten gegen Katholiken um die sogenannte Transsubstantiation, bei der Eucharistie.) Erstaunlicherweise sind ausgerechnet die großen Zögerer und Zauderer fasziniert von Ted Hughes.

Ironie des Schicksals, wenn man so will, ist auch, dass Sylvia Plath, die Ehefrau von Ted Hughes, in ihren Tagebüchern sich kräftig gegen Marianne Moore und Elizabeth Bishop auslässt, beide Vertreterinnen der damals vorherrschenden Neuen Sachlichkeit, deren Comeback offenbar vorbereitet und wieder lanciert wird, quasi als vorauseilender Kompromiss für gegenwärtige Kulturkämpfe und Zwiespälte. Quasi zugleich als Rückbesinnung auf das Sichtbare allein. Ziebritzki komme von der klassischen Moderne, vor allem sie habe er gelesen, und wisse allein deshalb (zudem als ehemaliger Pastor) von der Möglichkeit realer Gegenwart in Literatur und Kunst,* vor allem im Wort – deshalb sei T.S. Eliot sein Vorbild. Und er liebe das Melodische, Eichendorff zum Beispiel. Davon merkt man allerdings nicht allzu viel, wenn man seinen Worten begegnet, schon gar nicht beim leise Selberlesen – ein bisschen mehr, wenn er sie vorträgt. Denn überhaupt beinhalten seine Gedichte immer auch ein Thema, „an denen sie sich abarbeiten“, etwa Kindheit, Liebe, Arbeit. Es sprechen auch historische Positionen (etwa Catull in „Der Sperling“) aus ihnen – und mit Thema und möglicher Erklärung verfallen seine Bilder der Begegnung eher in den Monolog, gelegentlich sogar ins Parlando. So werden sie dann noch abstrakter als vorher. Wenig Rhythmus, kaum Takt, Ziebritzkis Stimmen delektieren sortierte Gedanken.

So ist seine Poetik versuchsweise sehr präzise im Feld seiner sinnlichen Wahrnehmung, aber ohne Impuls. Mental voll da im Wort – doch weniger im Gemüt. Quasi ist die jeweilige Stimme, die sich bemerkbar macht, teilnehmender Beobachter des Istzustands der Schöpfung, des Niedergangs auch, und ihrer selbst im Anderen: „dorthin aufbrechen, wo du bist“.

Das erinnert mich an Günter Eich. Doch scheint ihm dessen Humor abzugehen und auch das plötzlich Dionysische bei all den flachen Bällen, die auch Eich vorgibt zu spielen. Ziebritzki fehlt das Dionysische, ich denke, er lehnt es als Hirte ab, merzt es weitgehend aus, nicht ganz, an seinen Gedichtenden wagt er gelegentlich mal einen Bockssprung. Doch hört er den wirkenden logos, quasi Wort und Gesetz. So ist sein Werk apollinisch, es sind Gedichte über das Gesetz vom Werden und Vergehen. Und deshalb ist sein Vogelwerk ein Buch der Ordnung, ist strukturiert wie ein protestantisches Gerüst. Der Zwiespalt zwischen Innen und Außen, zwischen Gut und Böse wird klein gehalten, er will nicht verletzen, aber auch nicht wirken – obwohl es ja Werk heißt. Er benutzt auch nicht das Wort Seele, spricht lieber vom „Pflanzlichen“, von dem „was die Platoniker früher Seele nannten“.

Auch seine Anmerkungen zur Gegenwartslyrik, die er „asymmetrisch“ beobachte, denn er wisse viel darüber, die Gegenseite aber so gut wie nichts über ihn, blieben verhalten, er ließ sich von Braun nicht wirklich eine Positionierung entlocken, nur dass er fast alle gelesen habe, „die jetzt schreiben“ – wen zum Beispiel – Levin Westermann gerade und Luna Luna von Maren Kames. Aber mehr will er nicht sagen, zu vorsichtig ist er. Kling wirke allerdings in der Lyrik noch nach – doch sortiere sich dieses Klingsche Nachwirken heute gerade neu. Die Dekonstruktionsfrage sei mittlerweile verbunden mit der Destruktionsfrage in Gedichten, deshalb oft ein Zerstörungswerk. Auch in ihm – denn es ist stets ein Anderer in ihm, der gerade schreibe, z.B. auch dieser Hassende statt Liebende. Seine Gedichte seien deshalb teils schlicht, teils komplex gearbeitet, aber er wolle keinesfalls cool wirken, Zeitgeist beeinflusse ihn kaum. Doch wolle er auf der anderen Seite auch nicht „scheinbar wasserdicht daherkommen“, etwa wie ein Hermetiker, sich nicht abkapseln. Deshalb schreibe er in verschiedenen Stilarten, je nachdem welches Rollen-Ich gerade vorne ansteht, um aus ihm bzw. mit ihm zu sprechen. Dabei vertraue er ganz der Logik des Sinns (im Wort).

Allein das Gerüst! Das Gerüst! Das ist von mir, nicht ihm, bezieht sich jedenfalls auf diesen Kampfspruch der Lutheraner: Allein das Wort! Das Wort! Weil ich es, gemäß der Kampfsprüche in Luthers Zeiten, letztlich auch für Ziebritzkis Poetik halte. Und das genau ist die protestantische Seite realer Gegenwart in der Wahrnehmung. Und doch fühlt er sich ausgerechnet zu Thomas Kling bei der deutschen Entwicklung der Poesie und insgesamt zu Ted Hughes hingezogen. Doch meidet er selber die Magie des Wortes. Eben den Ball flach halten! Nichts anrichten! Sucht das geschliffene, entspiegelte Wort. Wie ein teilnehmender Beobachter, nimmt er wertfrei und leise das Gegenwärtige wahr, beobachtet es, misst es – und was vom Wort bei ihm – nach allem Feilen – dann bleibt, ist ein abstraktes, wenn auch teilweise empfindsames Werk. Im Grunde das Gerüst des Glaubens. Wie ein Wissenschaftler mit Herz. Er vermittelt nicht zwischen den Begegnungen und Entitäten. Er zeigt bloß auf, was er beobachtet. Es ist dieses Protestantische, was ihn abhält, seinem großen Vorbild T.S. Eliot wirklich nachzueifern, ihm fehlt das Anklopfen, das pochende Gebet, die Forderung. Dafür ist er zu bescheiden, wenn nicht gleichmütig. Deshalb sind seine Gedichte exakt, aber verhalten. Er zündelt nicht, er fordert nicht. So hat er gerade gefrühstückt, als er die Nachricht von der Wahl zum Peter-Huchel-Preis erhielt, sich sehr gefreut und weitergefrühstückt.

In Deutschland herrscht offenbar nach wie vor dieser Protestantismus vor, der Gottfried Benn schon irritierte, von Gustav Meyrink oder Friedrich Nietzsche oder Thomas Mann ganz abgesehen, dieser Protestantismus, der als evangelikales Gerüst besonders auch in den Grünen steckt, auch in diesem willfährigen Vorsatz „Poetisch denken!“ - bis hin zur Bescheidenheit und Sachlichkeit Ziebritzkis. Er scheint etwas Staatstragendes zu sein. Und diese Peter-Huchel-Preisentscheidung eine politische Komponente zu haben. Denn mit diesem Protestantismus als Gerüst wird das Dionysische in der Lyrik als dunkle Quertreiberei gern ausgegrenzt. Das hat schon Novalis seinerzeit beklagt, von rebellischen Engeln wie Lord Byron will ich gar nicht erst in diesem Zusammenhang reden. Und so bleibt für diese Art deutscher Lyrik säkularisierter protestantischer Provenienz auch die reale Gegenwart göttlicher oder titanischer Erscheinungen gedeckelt und auf das sinnlich Wahrnehmbare unserer Erlebniswelt begrenzt.

Die Befürworter der Säkularisation sagen bekanntlich seit Luthers Zeiten, dass im Wort allein ein letzter theologischer Begriff stecke. Auch die Vorstellung, dass der Mensch aus der Transzendenz nur zurückzuholen brauche, was er in sie hineinprojiziert habe, leidet an ihrem eigenen geschichtlichen Verständnis; diese soll hier auch nur veranschaulichen, dass man mit beiden Versionen des Prinzips vom ursprünglichen Eigentum – je nach Perspektive – zu frechen oder stillen Ansprüchen kommt. Schon Klopstock sprach nicht von rebellischen Engeln, sondern von Höllischen Geistern.

Die Bezugspunkte der protestantischen laientheologischen Position waren seit Luther vor allem das „sola fide“ (Allein durch den Glauben) und das „sola scriptura“ (Allein die Schrift“). Wobei „Sola scriptura“ nach wie vor eine der protestantischen Kernaussagen ist, die Bibel und ihr eingeschriebenes Wort als hinreichende Vermittlerin des Heils. Die Reformation sagt, die Heilige Schrift benötige keine Ergänzung durch kirchliche Traditionen. Und „Sola fide“ drückt die Idee aus, dass man sich die Anerkennung Gottes nicht durch Werke und Taten verdienen kann, sondern nur durch die Glaubensbeziehung.


* Und er lobt George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Hrsg. von Michael Krüger. Mit einem Nachwort von Botho Strauß. München (Carl Hanser Verlag) 1990.


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