Anne Boyer: Die Unsterblichen
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Monika Vasik
Anne Boyer – Die Unsterblichen. Krankheit, Körper,
Kapitalismus.
Übersetzung: Daniela Seel. Berlin (Matthes & Seitz) 2021.
280 Seiten. 25,00 Euro.
Dem Unmöglichen mit Sprache begegnen
Im September 2019 veröffentlichte die amerikanische
Lyrikerin und Essayistin Anne Boyer (*1973) ihr Memoir „The Undying“, das 2020
mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und nun von Daniela Seel gekonnt ins
Deutsche übertragen wurde. Anlass für Boyers Buch war eine private Katastrophe:
2014 wurde bei
mir Brustkrebs diagnostiziert, mit 41.
40 Jahre zuvor, weiß Boyer, war Susan Sontag im selben Alter
mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert gewesen. Mit der Zeit erinnert sie
immer mehr Frauen, die daran erkrankten. Viele starben früh. Boyer zögert, ihre
Erfahrungen zu einem Buch zu verarbeiten, sucht einen Weg zwischen dem
„Schweigen um Brustkrebs“ und dem manchmal unerträglichen „Sprachlärm, den
Brustkrebs erzeugt“. Lang setzt sie sich mit der Frage der adäquaten Form
auseinander, die, so die Autorin, „auch eine politische“ Frage sei.
Die Frage der Form stellte sich mir angesichts der
Covergestaltung der englischen und deutschen Erstausgabe.
Das Cover des englischsprachigen Originals ist künstlerisch
vielschichtig strukturiert und fällt auf. Mittig schmiegt sich eine Schlange um
einen Stab, eine Anspielung auf die Äskulapnatter, die, nach dem griechischen
Heilgott Asklepios benannt, sich um dessen Stab wickelte – der Äskulapstab ist
heute noch Symbol der Medizin. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man, die
Natter ringelt sich nicht um einen Stab, sondern um eine Feindosierspritze, mit
der kleinste Mengen exakt gemessen werden können. Die Graduierung jedoch fehlt.
Eine Graduierung fehlt auch auf der Skala an der linken Seite des Covers – zu
sehen sind längere Striche unterbrochen von je drei kürzeren, doch wir wissen
nicht, was gemessen, welche Einheit abgelesen werden kann. Und es gibt
ungewöhnlich viel Text. Genannt werden Autorin und der Titel „The Undying“.
Links sehen wir Worte in Großbuchstaben. Es sind Untertitel, die jene
Themenfelder anstimmen, die für Boyer in Zusammenhang mit ihrer Krebserkrankung
stehen.
Die Skala hat einen klar markierten Anfang und ein
ebensolches Ende. Das oberste Wort PAIN markiert den Punkt Null ihres anderen
Lebens und ist eng verbunden mit den Worten VULNERABILITY und MORTALITY. Sie
stehen für die jähe Gewissheit der eigenen Verwundbarkeit, stehen für den
Schmerz, den der Tumor verursacht, und den Schmerz, mit einer potentiell
tödlichen Erkrankung und mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert zu sein.
Mit Bestimmtheit für krank erklärt zu werden, während man sich mit Bestimmtheit gesund fühlt, bedeutet, gegen die Härte von Sprache zu prallen, ohne auch nur eine Stunde weicher Unbestimmtheit zu erhalten, ...
Die Diagnose stellt ihr Leben auf den Kopf, wird es mehr und
mehr beeinträchtigen und lässt Boyer damit zusammenhängende Themen
reflektieren. Sie sind in Schlagworten aufgelistet, die Bedeutungsräume öffnen,
aber keine Gewichtung bekommen, außer jener, dass sie untereinanderstehen, in
gleich großer Schrift und gleichem Abstand zueinander. Da ist MEDICINE, was
sowohl die eingesetzten Krebstherapien meint, die Boyers Leib, Seele und Gehirn
versehren, als auch die Bedeutung der finanziellen Potenz von Patient*innen im
amerikanischen Gesundheitssystem anspricht. Es geht um ART, einerseits das
eigene Schreiben, andererseits das Wer und Wie der Auseinandersetzung mit
schweren Erkrankungen in der Literatur. Um TIME, die man vergeudet oder nützt,
Lebenszeit, die plötzlich endlich wird, aber auch jene zu wenigen Tage, die
einer zur Heilung zugestanden werden. Um DREAMS, die man hegt oder erinnert,
und Emotionen wie Hoffnung, Resignation, Verzweiflung und Dankbarkeit. Um DATA,
den Wert und die Bedeutung erhobener Daten. Um EXHAUSTION, jene auch Fatigue
genannte tiefe Erschöpfung als Folge von Erkrankung und Therapien, die nicht
einfach so durch Ruhe oder Schlaf geheilt werden kann. Um CANCER, Boyers
Auseinandersetzung mit hoch aggressivem Brustkrebs, „triple-negativ“, worst case
sozusagen. Dem vorletzten Wort AND kommt derselbe Raum zu wie allen anderen,
was nicht zuletzt andeutet, dass noch andere Themen erörtert werden müssten,
etwa dass Boyer nie nur krank sein kann, sondern „krank und“ ist, krank und
Mutter, krank und Alleinverdienerin, usw. AND ist zugleich Brücke zum Wort
CARE, mit dem die Skala endet. Care meint jene Pflege des körperlichen,
geistigen und seelischen Wohls, der die Kranke bedürfte und die sie sich nicht
leisten kann, und meint Hilfe, die zugewandte Freundinnen schenken. Care
spricht zudem die Wahrhaftigkeit und Sorgfalt an, mit der sich die Autorin der
Aufarbeitung widmet. Sie tut dies nicht schön geordnet, ein Themenfeld nach dem
anderen abarbeitend, weil es nach einer Krebsdiagnose „kein Leben nach Ordnerfahrplan“
mehr gibt, sondern wie es ihrem nun schwankenden Dasein entspricht, immer
wieder Fäden aufgreifend oder loslassend, sie miteinander verwebend.
Das deutsche Cover hingegen animiert wohl eher nicht, das
Buch in die Hand zu nehmen. Es sieht aus wie eine Skizze, für deren
Ausarbeitung Zeit und Phantasie fehlten. Auf verwaschenem Grün rankt sich eine
weiße Linie in die Höhe, an der weiße Banner kleben. Genannt werden in
ungelenker Handschrift Titel und Autorin, Übersetzerin und Verlag, das breite
Themenspektrum wird verkürzt auf drei Schlagworte: Krankheit, Körper und
Kapitalismus. Es sind unzulängliche Begriffe, die der Dramatik und prallen
Fülle des Buchs nicht gerecht werden. „Krankheit“ (Schnupfen?, Darmgrippe?,
Corona?, ...) öffnet einen völlig anderen Bedeutungsraum als das Wort „Cancer“.
„Körper“ haben nicht nur alle Lebewesen, sondern auch ein Text, ein Möbelstück.
Es geht aber um eine erkrankte Frau und darum wie ihre Person, ihr Leib und
Geist vom Augenblick der Diagnose an invalidisiert werden. Das Wort
Kapitalismus wiederum greift zu kurz. Boyers emotionale Auseinandersetzung mit
Kapitalismus/Neoliberalismus zählt zu den schwächeren Passagen des Buchs, ist
nicht tiefergreifend genug und tupft Gewichtungen in Amerika bloß an. Etwa dass
das Gesundheitssystem profitorientiert ist, Kosten und damit soziale
Absicherung im Fall von Schicksalsschlägen wie schwerer Erkrankung oder
Invalidität nicht vergesellschaftet werden, sondern von Betroffenen allein zu
schultern sind. Dass einer Frau nach nur ambulant möglicher Amputation beider
Brüste ein Krankenhausbett verwehrt, sie mit liegenden Drains nach Hause
geschickt wird und mit Schmerz, Wundversorgung usw. allein zurechtkommen muss,
ist eine Ungeheuerlichkeit, die in keinem Spital der Welt „state of the art“
sein sollte. Auch die Absurdität, dass man zwar ein Krankenbett verweigert,
aber jeder Mastektomiepatientin in den USA per Bundesgesetz eine teure
Brustrekonstruktion zugesteht, spricht Boyer an.
Die Wahl der drei Ks auf dem deutschen Cover ist literarischer
Schmuck in Form einer alliterativen Verkettung und lässt an andere drei Ks
denken, nämlich „Kinder, Küche, Kirche“, mit denen die Zuständigkeitsbereiche
von Frauen in konservativen Gesellschaften abgezirkelt wurden. Warum die
Reduktion? Für die Alliteration wären zusätzliche Begriffe naheliegend gewesen,
die in Zusammenhang mit dem Inhalt des Buchs stehen, etwa
katastrophal/Katastrophe, Karriere, Kompetenz, auch Kosmetik und Kleidung,
trotz allem oder gerade deshalb, Boyers Spiel, sich in all dem Elend
gelegentlich zu verwandeln und derart gesund auszusehen, dass kaum jemand sie
als krank ansieht.
Vor allem aber das Wort „Kunst“ hätte unbedingt hinzugehört,
die Welt der Bücher. Literatur wird für Boyer Anker und Rettung. Sie blättert
in Notaten von Schriftstellerinnen, die ebenfalls an Brustkrebs erkrankten,
u.a. Audre Lorde, Alice James oder Fanny Burney, findet Halt in den Schriften
von John Donne und Aelius Aristides, bei Bertolt Brecht, Emily Dickinson und
anderen. Boyer reflektiert „die eigene existentielle Verletzlichkeit“, das
elende Schwanken zwischen Angst, Hoffnung und „ritualisiertem Gehorsam“, spürt,
„wie das System der Medizin sie „objektifiziert“ und Merkmale konkreter
Identität jenseits von krank oder gesund mit der Krebsdiagnose für sie passé
sind. Und sie zeigt, welch invalidisierende Vorgänge für ein Weiterleben zu
ertragen sind. Sie ist weniger einer der Unsterblichen, wie es der Titel nahelegt,
sondern eine Unsterbende, wie es im Buch heißt, die versehrt dem Tod entronnen
ist, ihrer „genauen Bindung an die Zeit ungewiss“. Anne Boyer legt über ihr
persönliches Unsterben ein wahrhaftiges Stück Literatur vor, einen
Erfahrungsbericht, durchsetzt mit wissenschaftlichen und emotionalen, mit
essayistischen und poetischen Passagen, in dem nicht über eine Kranke
geschrieben wird, sondern
in dem eine Frau mit Krebs als sie selbst vorkommt, als eigenständige, komplexe, sprechende Person.