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Alexander Trocchi: Freizeit

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Vincent Sauer

Metaphysiker und Monster

Die Gedichtfetzen Alexander Trocchis


Der Gedichtband, um den es hier geht, musste vom Verleger in einer Nottat vom Autor gestohlen werden, denn sonst hätte es ihn wohl nie gegeben. John Calder, der mit seiner Partnerin Marion Boyars u. a. Hubert Selbys „Last Exit to Brooklyn“ veröffentlichte, verschaffte sich seinerzeit Zutritt zur Wohnung eines gewissen Alexander Trocchi, nahm den Manuskriptbatzen, die „einzige überlebende Gedichtsammlung“ einfach mit und machte ein Buch draus, wie angekündigt. Der Verfasser selbst legte wenig Wert darauf, Verträge einzuhalten — Hauptsache war Geld für Stoff. Trocchis berühmterer Weggefährte William S. Burroughs, dessen Körper und Geist dem Drogenkonsum länger und besser standhielten, hoffte in seiner Einleitung für die erste Auflage des Bands 1972, der „Men at Leisure“ heißen sollte, noch darauf, dass sich das „lange Boot“, wie er Trocchis Werdegang nannte, in  ein „langes Buch wandeln wird, über diesen Trip im äußeren und inneren Raum“. Er sollte nicht recht behalten.

Wer war dieser Kerl? Alexander Trocchi hatte einen Lebenslauf, den ihm, bis zu einem gewissen Punkt, wohl viele neiden würden: Er war ein begabter Student, kam per Stipendium nach Frankreich, publizierte damals verfemte Schriftsteller wie Jean Genet erstmals auf Englisch in Paris, ersann eine Art Internet für die Situationistische Internantionale, verdingte sich nebenbei als Porno-Autor und vollendete einen großen Roman. Aber dann war’s das mit Kunst und Revolution. Trocchi starb in 1982 im Alter von 57 Jahren in London: im Methadon-Programm, die Familie tyrannisierend. Die letzte (freiwillige) Veröffentlichung lag mehr als zwanzig Jahre zurück. Im deutschsprachigen Raum ist er kaum bekannt; seine Bücher sind (wenn auch problemlos) nur antiquarisch zu haben. Als Antiquar jobbte auch Trocchi in seinen letzten Lebensjahren, wenn auch ohne großes bibliophiles Ethos.

Alexander Trocchi personifiziert die dunkle, dreckige Seite der allseits beliebten Beat-Generation. Als stipendierter Austauschstudent im Paris der existentialistischen fünfziger Jahre kam er — angeblich durch Jean Cocteau — mit Heroin in Verbindung und sollte sein Leben lang davon nicht mehr loskommen. Er trat in Kontakt mit den revolutionären Zirkeln um Guy Debord, war einige Jahre sogar offizielles Mitglied der Situationistischen Internationale und steuerte zwei Essays für ihre Zeitschrift bei, wo er u. a. „The Invisible Insurrection of a Million Minds“ forderte. Als einer der wenigen wurde er vom Vordenker Debord nicht unehrenhaft entlassen, sondern man wünschte ihm viel Erfolg für sein schriftstellerisches Schaffen und zeigte Verständnis, dass Trocchi seinen Weg alleine, ohne Kollektivverpflichtungen bestreiten wollte. Was folgte waren ruhelose Jahre in New York und London. Zeitweise verschaffte er sich seinen Unterhalt als Dealer, schickte seine Freundin auf den Strich. Der „Cosmonaut of Inner Space“, wie er sich selbst auf einer Schriftstellerkonferenz nannte, besorgte sich regelmäßig für Nahtoderfahrungen per Heroin-Injektionen, wonach und worüber er schrieb. Für einen weiteren Thrill sorgte die regelmäßige Flucht vor der Polizei, auch ins Ausland, da die amerikanischen Behörden wenig Spaß verstehen, was den Vertrieb von Rauschmitteln angeht. Das eindrucksvolle Zeugnis dieser Zeit ist der bereits erwähnte Roman „Cains Book“, der weitestgehend wie eine Autobiographie Trocchis dieser Jahre funktioniert. Damit hatte er sein „sorgsam versiegelt und von tödlichen Fallen umgebenes Buch“ schließlich „gelesen“, um eine weitere Formulierung von Burroughs aufzugreifen. Das nächste, lebenslänglich immer nur informell angekündigte Werk, kam nicht mehr zustande. Die Sucht hatte Vorrang, und Trocchi fehlten wohl schlicht die Kraft und die Disziplin, um etwas längeres Geschriebenes fertigzubringen. Zu etwas Ruhm kam sein Name nochmal im Jahr 2003, als sein Buch „Young Adam“ u. a. mit Ethan Hawke und Tilda Swinton verfilmt wurde.

Ganze 37 Jahre nach dem Erscheinen des Originals liegt der Band „Men at Leisure“, dessen Gedichte in einem Zeitraum von ungefähr zwanzig Jahren entstanden sind, nun als zweisprachige Ausgabe unter dem Titel „Freizeit“, mit einer Übertragung von Jonis Hartmann ins Deutsche vor. Neben den Gedichten umfasst das Buch das Vorwort von John Calder und die Einführung von William Burroughs, aus denen bereits zitiert wurde, einen nützlichen Apparat mit Anmerkungen, der die Anspielungen und Zitate der Texte offenlegt, sowie ein Nachwort des Künstlers Stewart Home, in dem klargestellt wird, dass „Ausgeglichenheit in Ton und Qualität“ im lyrischen Werk Trocchis nicht erreicht wurde, und auch nicht erreicht werden sollte, sondern man es hier mit „Geistesblitzen“ zu tun hat. Kein Ausdruck einer zarten dichterischen Seele lässt sich also in „Freizeit“ vernehmen, sondern meist unausgearbeitete, erratische Ausbrüche, in Verse geklatschte Zeugnisse des lebenslangen Versuchs, eine poetische Lebensform zu finden — ohne festen Job, gierig nach Ekstase — und ihr bedingungslos zu folgen, die nichts mit der bürgerlichen Gesellschaft zu tun hat. Dabei ist dem einstmals ambitionierten Studi Trocchi der Kanon keineswegs fremd. Die Lektüre Donnes und Hölderlins, genauso wie De Sades lässt sich in den Gedichten erkennen. Was er aber etwa mit John Donne, den er „Master Metaphysical“ nennt, anstellen will, hat nichts mit Devotion und Ehrerbietung zu tun:

Hear this: is what I
do to you. I mould
the very matter of yr
body’s argument
a sweeter heroin
at yr crotch
to hard, my hot intent.  

Dichterkörper, Kanon werde zu Droge, Inspiration, Geilheit: Es ist ein heftiger Nihilismus, dem Trocchi frönt. Jonis Hartmann hat sich in der Übersetzung dafür entschieden, vor allem auf klangliche Strukturen des Originals zu achten, Trocchis Abkürzungen nicht auszuschreiben, sondern beizubehalten, auch die Abfolge der Verse beizubehalten:

Hör dies: ist was ich
tue dir. Ich form
genaue Materie aus
Vorwand dn Körpers
ein süßres Heroin
an dn Schritt
härtend, mein heißer Vorsatz.   

Kein geringer Teil der Gedichte befasst sich mit nichts als sexueller Obsessionen, die — das klingt wiederum nach bürgerlicher Kritik — sehr kunstlos einfach runter geschrieben wurden und kaum mehr sind als eine Reihung von Beschreibungen von Geschlechtsteilen oder Beleidigungen. Was man im herkömmlichen Sinne als ein „großes Gedicht“ bezeichnen könnte, das in jeder Anthologie auftauchen sollte, gibt es in diesem Band nicht. Wer das Phänomen Trocchi verstehen will — und so auch Wichtiges über Beat, das Erbe des Existentialismus, das Verhältnis von Drogen und Literatur — muss da aber durch und nicht nach Versen suchen, die es auswendig zu lernen gilt. Vielmehr entwickelt die Lektüre ihren Reiz daraus, dass die Textfetzen nicht beanspruchen, in alle Ewigkeit zu gelten, sondern einen Blick ins Notizbuch eines begabten Schriftstellers bieten, der außer Stande war auszuarbeiten, abzuschließen, wegzugeben. Ein nicht vorsätzlicher und (vom Autor selbst) nicht fortsetzbarer Work in Progress. Dass für Trocchi kein Post-DADA oder dergleichen für wirklich zeitgenössische Avantgarde taugte, sondern viele Gedichte eher klassisch anmuten, ist vielleicht weniger verwunderlich, wenn man sich seine Haltung zur Literatur vor Augen führt. In sehr saloppen Definitionen für sehr große Begriffe, denen man einen gewissen Charme nicht absprechen kann, kommt sein grundlegender Zweifel gegenüber der Literatur zum Ausdruck, die eben nicht durch formale Innovation automatisch politisch progressiv wäre und wirklich neu, die Welt verändernd:  

„Literatur ist dieser Lehrkörper
dessen Fleischeslust metaphorisch
dessen Anmaßen kategorisch
& der übrigens mal
rein gar nichts wert ist …“

Aber es finden sich auch durchaus größere poetisch-politische Reflexionen, in denen Trocchi Bilder gelingen, sich Gedanken entwickeln, kleine Welten auftun — aber sich zu keinem stimmigen Ganzen fügen wollen/sollen:

„Mann hinter einem Gesicht
das abstoppt
wie Säuretropfen
schnelle Zungen
unter Zelten und Fabriken

Die Fiktion, Funktionen der Fakten
Ausdrücke grüner Kraft
übersteigend das ständige Reiben
Babels
die ganze Aktion
geworfen in edle Roben
der Revolte               

Warmes Blut, Schlangenschub, rein Salz.“

Die einzigen Reime, die sich Trocchi auf die Welt machen konnte, finden sich vermutlich in dem Gedicht „Lesson for Boys & Girls II“, von dem auch eine sehr eindringliche Tonaufnahme existiert:

laichende zombies
& fabriken fr
größer besser bömbchen
meinend fortführung
mähliche verschlimmerung
absurder, affenköpfiger
schismen

&

realität beoabachtet durch victorianische prismen
die welt ein zirkus irreduzibler „ismen“

&

schlag fr die gegenwart
auf den amboss thors
dn zukunft ankert
im kriegerrohr

Seinen Krieg führte Trocchi in erster Linie gegen sich selbst. Die Schismen und Ismen, die nach ihm folgen sollte, hätte er wohl genauso als „affenköpfig“ oder als „Zirkus“ denunziert. Aber sein Versuch, sich nicht vereinnehmen zu lassen, dabei gleichsam vieles von Geschichte und Gesellschaft zu wissen — und an ihren Rändern auch erfahren zu haben — und trotz alledem ein möglichst intensives Leben zu führen — durch das er sich wohl in ein Monster verwandelt hat — scheint deshalb immer wieder in den Gedichten von „Freizeit“ auf.


Alexander Trocchi: Freizeit. Gedichte. Engl./dt. Übersetzt von Jonis Hartmann. Wenzendorf (Stadtlichter Presse) 2019. 190 Seiten. 16,00 Euro.
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