Adrian Kasnitz: Im Sommer hatte ich eine Umarmung
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Bernd
Lüttgerding
Adrian
Kasnitz: Im Sommer hatte ich eine Umarmung. Gedichte. Köln (Parasitenpresse)
2023. 90 Seiten. 14,00 Euro.
Umarmt von Ahnungen
Wenn
ich richtig (und jeden der bereits erschienenen Teile vom Kalendarium
einzeln mit-)zähle, ist dies der 17. Gedichtband von Adrian Kasnitz. Das ist
ein handfestes lyrisches Werk. Das Kalendarium wird in zwölf Bänden für
jeden Tag im Jahr ein Gedicht enthalten, und acht gibt es bereits. Den Tag zu langen Drähten und Sag Bonjour
aus Prinzip sind Titel, die sich im Denken dauerhaft verfangen. ―
Womöglich wachsen ihnen schon Flügel, mit denen sie morgen geflügelte Worte
werden können.
Ich
mag die Gedichte von Adrian Kasnitz, weil sie unprätentiös sind und nicht durch
Tricks und Geklingel zu beeindrucken versuchen, sondern vor allem die alles
gewohnte überragende Sensibilität des Dichters entfalten. Weder Härte und eine
männlich hochgezogene Lippe haben sie nötig, noch Vokabelfeuerwerke. Sie sind
reich an dem, was sie sagen.
Kasnitzens
Gedichte schlüpfen (wie es sich gehört) aus dem Alltag, den Bewegungen auf
Straßen, in Parks, in der Küche und auf Reisen, aus einer kleinen Sehnsucht,
die ein verschwommener Stern oder ein vorüberwehender Kleidsaum wecken kann,
und die dann wie Käfer auf dem Finger gehalten und beobachtet werden, bis sie
weiterfliegen (oder man sie, bemüht, nicht allzu grob zu sein, wegschnippst).
Wenn
es aber eine Aufgabe von Gedichten ist, die mich bedrängenden Wirklichkeiten in
ein Verhältnis zu mir, dem Einzelnen, zu bringen, wenn es einem kurzen Text
gelingt, diese Brücke (Gedicht und Gebet, darüber ist manches, aber noch lange
nicht genug gesagt) zu schlagen und ich fühlen kann, was ich eben noch bloß
fürchtete (= nicht an mich heranlassen konnte), dann leisten diese Gedichte
genau das. Sie rütteln an mir, ihre Schönheit pflanzt mir Saaten ein, die unter
Schmerzen aufgehen und wurzeln.
In
den meisten der in Im Sommer hatte ich eine Umarmung versammelten
Gedichte schwingt ein drohender Verlust mit, Verlust der Eltern, der
Vergangenheit, der Liebe vielleicht, der Sicherheit, des Ausblicks auf Zukunft,
also auch ganz umfassend Verlust der von uns bewohnten Welt. ―
Denn die Eltern werden sterben, die Vergangenheit ist an Orten fest-gemacht, die
einem nicht mehr zugehören, Liebe ist ohnehin oft überraschend zart und
verwehlich, und die Zukunft... ― Nun, also bitte.
Das
Verlust-Thema steht dabei nicht penetrant-programmatisch im Vordergrund, es
schleicht sich ein in alltägliche Szenen, bleibt und wabert hinter allem, was
passiert. Es gelingt Kasnitz, leicht, manchmal mit einem Anflug von Launigkeit,
den Ge-dichten ein Lächeln ins Gesicht zu setzen, das die dahinter wogende und
anbrandende Trauer zunächst überspielt. So über-spielt rückt sie uns natürlich
noch näher.

Zudem
war im täglichen Leben der letzten Jahre viel los. Jünger sind wir auch nicht
geworden, mit dem schönen Nebeneffekt, dass Erinnerungen laut werden, die lange
schweigsam mitgelaufen sind. Beides merkt man diesen neuen Gedichten an:
Eltern,
ein Vater in Chef, dem ersten Gedicht, eine Mutter in Chefin, dem
letzten, bilden den Rahmen für alles, was in dem Band verhandelt wird.
Chef, das vom schwierigen Weg dieses Vaters
als Arbeitnehmer erzählt, endet mit der Klarstellung:
[...] Wir sind einfach nur Leuteeinfache Leute, die nicht Chef sein wollendie keine Chefs dulden können.
Kasnitz
registriert unaufgeregt, stoisch; seine Klage ist ein Achselzucken, nichts ist
egal, aber es ist, wie es ist (»und es ist fürchterlich«. Ohne diesen Hans Henny Jahnn'schen Nachtritt
kann ich die Formel gar nicht mehr denken).
―
Auf dieser Haltung fußen auch seine Bemerkungen, über die Schwierigkeit
(Aussichtslosigkeit?) zu reagieren auf den Zustand der Welt, in der überall
Tyrannen von Gott oder anderen höheren Mächten, die diesen Zustand in Kauf
nehmen, gesegnet sind.
Alles
gibt sich, nichts ist unbeschwert. Kasnitz zeigt uns, dass heute
auch ein Gespräch über Bäume ein Gespräch über Untaten sein kann
(MEIN:HERZ:HAGEN DIE TOTEN WÄLDER), und es gelingt ihm ohne Bitterkeit so
verhalten zu klagen, nüchtern und berauscht, fast heiter, scheint es, aber
traurig (es könnte ihm auch den Atem verschlagen vor Trauer, aber er weiß,
irgendwie weiß inzwischen jeder das alles schon so lange, da kann man auch
schlucken und weitermachen...):
Ich weiß, wo der Strom beginnt, der das Plastikins Meer schwemmt, es ist der gleiche Stromaus dem wir trinken, der bei uns beginnt.
Es
gibt einige Corona-Gedichte, nur solche allerdings, die durch ein dezentes
Datum auf ihren Zeitbezug hinweisen. Stehen könnten sie auch ohne.
Und
wer denkt, die stärksten Gedichte seien wohl die ersten gewesen und nun gehe es
milder weiter, staunt, was für verstörende und schmerzliche Twists Kasnitz auch
in kleinen Reisegedichten gelingen.
In
SARANDA, 13 UHR zerfließt das Wir in Metaphern, wenn der Kaffee, den wir
trinken, mit Augen verglichen wird, dann mit der kleinen Beute
unter den Fingernägeln und über Hautpartikel zum Schlaf wird,
den wir nicht finden können. Metaphern sind das Fahrzeug der
Metamorphose. Lockt und kratzt in Zeile 2 noch der Ruf des
Muezzins, ist es in Zeile 7 das Meer.
Diese
Metamorphosen bahnen sich schon auf Seite 12 an, in der rêverie WOLKEN, wo das
Wir zum Staub wird, der aus der Stadt in den Wald zieht. Einen Höhepunkt feiern
sie in einem der letzten Gedichte, Mittlerweile verstehe ich, das von
dem hübschen Guy-Helminger- Zitat »Mittlerweile verstehe ich es, den Horizont
durch meine Gürtelschlaufen zu ziehen« ausgeht. Hier verschlingen sich Arbeit
und Zärtlichkeit im Schlachten von Vieh zum Körper, der Landschaft wird – und
als solche, tja, enden Ich und Landschaft als Gefesselte, als Gefangene
voneinander. ―
Das ist ein großartiges Gedicht, das die fatale Verknüpftheit von Mensch und
Welt zum Zittern bringt, nicht mehr nur die althergebrachte Spannung zwischen
Pneuma und Hyle, sondern auch ganz materiell zwischen dem Lebenwollen des
Einzelnen und einem vielleicht bald Nicht-mehr-leben-lassen, denn die Welt, die
uns noch leben lässt, ihr Zustand... Na gut, man wird sehen.
Und
schließlich die Umarmung, die da einer im Sommer »hatte«: vermutlich war sie
keine Begegnung mit tatsächlichen Armen, denn es fühlte sich wie Wind an
in dem Gedicht, das dem ganzen Band seinen Namen gibt. Diese Umarmung ist das
Herz der Sammlung, eine von Warnungen flankierte und hinter sommerlichen
Attributen verschanzte Ahnung von Kürze, Vergängnis und Sterben. Es ist so
schön, dass es hier ganz stehen soll, als Flagge am Großmast eines Buches, dem
ich, von so viel Vergehendem es auch handelt, Dauer wünsche:
Im Sommer hatte ich eine Umarmungich warne dich, es fühlte sich wie Wind anes schmeckte leicht, was ich in den Mund nahmich schnippte kleine Dinge weg, halb trocken, halb nassder Fluss war mehr Krümel, mehr Haarrasch zog ich den Knöchel wieder heraussteckte den Finger wieder hineinder Wind weilte kurz im Haar, kurz auf der Hautmanches schmeckt bitter, ich warne dichmanches ist Eis, das über Finger und Knöchel tropft