Direkt zum Seiteninhalt

3. Münchner Poesie=Marathon

KIOSK/Veranstaltungen > Veranstaltungen



3. Münchner Poesie=Marathon
Martina Hefter & Jan Kuhlbrodt – Performance
Hilda Ebert & Günter Plessow – Mondnacht



Zum Welttag der Poesie am 21. März fand im
Einstein Kultur, Halle 1, eine zweiteilige Veranstaltung statt, der Tendenz einer (noch nicht etikettierten) „romantisierenden Postmoderne“ nachspürend, die man durch manche aktuelle Publikation, aber auch durch Slogans wie „poetisiert euch“, antizipieren mag.

Wiederholung – Erinnerung“ war der Ausgangspunkt, gemäß der altgriechischen Denkweise, dass Leben und Erkenntnis erinnernde Wiederholungen sind.


Die Performance von Martina Hefter & Jan Kuhlbrodt, bestehend aus Bewegungs-, Tanz-, Dialog- und Textelementen, begann dementsprechend mit Sören Kierkegaards Aufsatz: „Die Wiederholung – ein Versuch in der experimentierenden Psychologie“.

Wenn das ganze Leben eine Wiederholung ist, wie können wir dann nach Neuem, nach Veränderung streben? Martina Hefter erinnert sich, einmal ein Gedichtepaar aus ihrem Band „Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch“ gelesen zu haben, jedes eine Variation, die mit dem gleichen Wortmaterial spielt, „so eine Art anagrammatische Arbeit, die einen selber sehr oft überrascht hat, weil man es nicht ganz in der Hand hatte, was dabei herauskam.“ Das erste Gedicht entspricht der Bewegung des Gehens, eines Gehens neben jemandem, in den man heimlich verliebt ist:

Wie das Angestupstwerden puscht. Ich pulse.
Bleib so, ich kaufe, surfe - Surplus - auf Trugblüten,
dufte, koste von diesem ausgesprochnen Gold.

Der Trick mit dem Schwanenhals.
Schaff das noch mal so rasch,
ich fahre per Tacker die Umrisse nach.

Immer das ganze Meer trinken, immer mich werfen
in uraltes Repertoire: gehen wie unter Wolken,
das muss ich endlich verlernen.

Einfach spazieren. Gern patzen. Mitten spinnen im Reden
über Wertpapiere und Flieder. Ich zeig dir im Gehen
das Glimmen.

(Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch, S. 17)


Und die Variation, die sich daraus ergeben hat, entspricht wieder einem Gehen – aber zu zweit, betrunken, nachts die Straße entlang:

Ich zeige dir gehen als Trick, Schaffen wir das ohne Patzer?
Gern in den Flieder, mit Trinken.
Ich bin nicht aus Papier.

(…)

Nach Kierkegaard soll der Mensch die Wiederholung nicht vermeiden, sondern ihr nur richtig begegnen:
"Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert.“

(Kierkegaard: a.a.O., S. 3)


Die Wiederholung überträgt also Vergangenes in die Gegenwart, reflektiert es, verändert es eventuell sogar.
Jan Kuhlbrodt: „Ich würde eventuell jetzt ein Gedicht wiederholen, das ich noch nie vorgelesen habe, aber natürlich kenne ich es trotzdem. Das Gedicht heißt 'Leuschner-Platz':"

Das Gedächtnis der Stadt liegt unter Pflaster. Wie hier
am Königsplatz, den man nach dem Schmalkaldischen Krieg als
Schussfeld

unbebaut ließ, sagt Stötzer.

Wären die Dokumentensammlungen der Archive vollständig,
man müsste die Plätze nicht aufreißen, keine Zelte aufstellen
und nicht auf den Knien rutschen, um mit Schippen und Pinseln
Zentimeter für Zentimeter den Sand zu durchsuchen.

(…)

Dann holt der Forscher eine kleine Schippe und durchsucht den Sand
nach weiteren Spuren unserer Zivilisation und trifft
auf die Abdrücke seiner Vorgänger. Auch damals, denkt er, hat man
sich


für Früher interessiert. Ich wäre dann gern dabei, und würde ihm
dieses Foto zeigen. Er aber hält einen Hühnerknochen in der Hand
spricht über die Beziehung von Artefakt, Sorgfalt und Fotografie.


(Jan Kuhlbrodt: Stötzers Lied, S. 25)







"Wiederholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was ‚Erinnerung' bei den Griechen gewesen ist. Gleich wie diese also gelehrt haben, daß alles Erkennen ein sich Erinnern sei, ebenso wird die neuere Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist.“ (Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, S. 3.)

Martina Hefter

Die Hoffnung ist ein neues Kleid, steif und stramm und glänzend, man hat es jedoch niemals angehabt, und weiß darum nicht, wie es einen kleiden wird oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid, welches, so schön es ist, nicht mehr paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wieder-holung ist ein unverschleißbares Kleid, welches fest und zart sich anschmiegt, weder drückt noch schlottert.“

(Kierkegaard: a.a.O., S. 4)


Jan Kuhlbrodt


Die Postmoderne akzeptiert die Wiederholung und die Differenz. Die Unterscheidung ist demnach an die Stelle des Neuen in der Moderne getreten. Dabei hat das Erinnern für den postmodernen Philosophen Lacan etwas Imaginäres, die Wiederholung aber etwas Symbolisches – sie ist das symbolisch Neue, die Variation, die der Mensch in der Wiederholung macht.

Man kann auch im Kopf tanzen“ sagt Jan Kuhlbrodt, derweil er von Denkbewegungen spricht, die von Martina Hefter nachvollzogen werden, nachdem sie kurze Tanzsequenzen vorgeführt hat, die Anstöße zu ihren Bewegungsgedichten gewesen sind.


Joseph Denis Odevaere: "Lord Byron on his Death-bed", ca. 1826.

Shelley

Mondnacht, der zweite Teil der Veranstaltung, der nicht der Wiederholung sondern der Erinnerung gewidmet war, den Anfängen der Moderne bzw. der Nahtstelle zu ihr, folgte den Spuren fünf großer englischer Romantiker – George Gordon Lord Byron, Percy Bysshe Shelley, Samuel Taylor Coleridge, John Keats und William Blake.

Lord Byrons „The Vision of Judgement“, übertragen von Günter Plessow, über den Verbleib der Seele von King George III. auf deren Himmelsreise an die Pforte von Petrus, ein satirisches Langgedicht, hat in England den Trend der sog. „satanischen Schule“ implementiert und stand an dieser abendlichen „Mondnacht“ im Vergleich zu Shelleys „Maskenzug der Anarchie“, einem Langgedicht, welches Brecht in seinem Aufsatz „Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise“ (im Realismusstreit mit Becher) für vorbildlich realistisch gehalten hat:


II

Ich traf den MORD unterwegs -
Er ging maskiert wie Castlereagh -
Sehr glatt sah er aus, aber finster;
Sieben Bluthunde folgten ihm.


III

Alle waren fett; und sie mußten
In großartiger Verfassung sein
Denn jedem von ihnen warf er
Ein, zwei Menschenherzen zum Kauen vor
Die er aus seinem weiten Mantel zog.


Nachdem Hilda Ebert Teile des Maskenzugs vorgetragen hatte, las Günter Plessow den von ihm tradierten „Adonais“ – eine Elegie auf den Tod von John Keats, die dem verstorbenen Dichter durch die weiße Göttin (bzw. Große Mutter) zyklische Auferstehung und Unsterblichkeit verspricht. 1969 hatte Mick Jagger diese Verse zu Ehren von Brian Jones im Hyde-Park-Konzert der Rolling Stones gelesen:


„Friede! er ist nicht tot, liegt nicht im Schlaf,
er ist vom Traum des Lebens aufgewacht;
wir sinds, die Visionen hegen, brav
und furchtlos streiten, eine Schattenschlacht,
und wie im Wahn mit unseres Geistes Macht
ins Leere treffen.
(…)

(Strophe 39)


(…)

„Er lebt, er wacht – tot ist der Tod, nicht er,
klagt nicht um ihn!“

(Strophe 41)

Von Coleridge wurden „Die Qualen des Schlafs", ein Auszug aus der „Willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit“ und das rauschhafte Fragment „Kubla Khan“ gelesen.

Von Keats die „Ode an die Nachtigall“ und „La Belle Dame sans Merci“.

William Blake bildete mit eher liedhaften Kurzgedichten wie „Der Tiger“ und „Das Lamm“, die im englischen Sprachraum zu Gassenhauern geworden sind, den Abschluss.

KK

Hilda Ebert                     

Günter Plessow

Zurück zum Seiteninhalt