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(Franziska Winkler:) handverlesen

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Ulrich Schäfer-Newiger

(Franziska Winkler:) handverlesen – Gebärdensprachpoesie in Lautsprache. München (hochroth München) 2023, 56 Seiten. 8,00 Euro.

Poesie - Körpergedächtnis - Technik


Wer auf die Frage „Was haben Poesie und Technik sich heute zu sagen?“ eine pragmatische und handfeste Antwort erwartet, möglichst aus der realen Welt, an einem praktischen, sinnlich wahrnehmbaren Beispiel dargestellt, der sei auf das Gesamtkunstwerk „handverlesen – Gebärden-sprachpoesie in Lautsprache“ verwiesen. Der zugegebenermaßen etwas sperrige Begriff „Gesamtkunstwerk“ ist hier bewusst gewählt, denn das bei ‚hochroth‘ erschienene, dem gewohn-ten äußerlichen Layout entsprechende, so betitelte Büchlein (ausgezeichnet 2023 vom Freistaat Bayern) mit einem Vorwort der Herausgeberin, einem Essay von Liona Paulus sowie 10 Gedichten und jeweils Videostills dazu, ist nur ein Teil eines Ganzen. Darauf wird man gleich im Impressum gestoßen, wo es heißt: Gestaltung & Augmented Reality: MENSCHMASCHINE Studio. Auf der folgenden Titelseite wird die Publikation „Augmented Reality Ausgabe“ genannt. Das verweist auf ausgeklügelte, zukunftsweisende, digitale Technik. Mit ihrer Hilfe sollen Gebärdensprachgedichte von gehörlosen Gebärdensprachpoet*innen dem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Zitat: Dafür wird eine Augmented Reality Website verwendet, mit deren Hilfe die Videos der Gebärdensprachpoesien innerhalb dieser Publikation angesehen werden können. Und das funktioniert tatsächlich. Entweder scannt man den auf derselben Seite des Buches abgebildeten QR-Code oder über die ULR www.poesiehandverlesen.de/buch/ wird das Vorgehen erklärt. Die Kamera des Smartphones oder des Laptops wird sodann auf die Video-stills im Buch (jeweils links vom rechts abgedruckten Gedichttext) gerichtet. Sie dienen dem Programm als (Bild)Erkennungsmerkmal für das jeweilige Video – und sogleich kann man dieses Video auf dem Bildschirm sehen, das den oder die jeweilige Gebärdensprachpoet*in zeigt, wie, ja, wie soll man es ausdrücken – das Gedicht aufgeführt, dargestellt, vorgetragen wird mit den Fingern, den Händen, den Armen, dem Kopf, dem Gesicht, dem ganzen Körper. Alles ist Bewegung, wir sehen Zeichen, die ständig in Bewegung sind oder erst durch die Bewegung des Körpers oder der Körperteile zu Zeichen werden.

Zuvor sollte man freilich das sehr instruktive Vorwort der Herausgeberin lesen. Darin wird der Leser aufgeklärt über einige Grundlagen der Gebärdensprachpoesie – im Unterschied zur (verschriftlichten) Lautsprachenpoesie. Etwa, dass der Be-griff Buch neu gedacht werden muss, weil darin die drei-dimensionale Gebärdensprache ja abgebildet werden soll. Auch der Begriff des „Textkörpers“ erfährt in der Gebärdensprach-poesie eine unmittelbare, greif- und sichtbare Bedeutung: Wort, Zeichen und Körper werden zu einer räumlichen, sich ständig bewegenden Einheit. Vor allem wird im Vorwort auf die heikle und immense Übersetzungsarbeit verwiesen: Die Texte wurden nicht etwa von hörenden Gebärdensprachendolmetscher über-setzt, sondern von hörenden Lyriker*innen (z.B. Daniela Seel, Ulf Stolterfoht, Kinga Toth, oder Tom Holland, um nur einige zu nennen), die in Gesprächen mit den tauben Autor*innen und den Gebärdensprachendolmetscherinnen die Texte, die wir im Buch lesen können, erarbeiteten. Näher geschildert wird dieses Erar-beiten nicht. Die Gedichte wurden also von einem Zeichen-system (deutsche Gebärdensprache) in ein anderes Zeichen-system (verschriftlichte deutsche Lautsprache) übertragen.

Bevor man sich mit den Gedichten selbst beschäftigt, sollte man auch den Essay von Liona Paulus lesen über die Beziehung von tauben Personen zur Literatur. Lange Zeit, so lernen wir Hörende dort, gab es eine solche Beziehung gar nicht, weil ‚Literatur‘ in der Gebärdensprache einfach nicht vorkam. Überhaupt ist die Gebärdensprache erst seit 2002 in Deutschland offiziell als Sprache anerkannt. Erst allmählich, so schildert es die taube Wissenschaftlerin für deutsche Gebärdensprache und Linguistik, setzt sich im deutschen Sprachraum die Erkenntnis durch, dass auch in dieser Sprache Literatur und insbesondere Poesie entstehen und existieren kann. Einer der Pioniere scheint der taube Dichter Rafael-Evitan Grombelka, den die Verfasserin ausdrücklich nennt, zu sein. Er ist in diesem Poesieprojekt gleich mit drei Texten vertreten, die von Kinga Tóth (1) und in Zusammenarbeit mit Tim Holland (2) in die verschriftlichte Lautsprache übertragen wurden. Von Kassandra Wedel, die nicht nur Gebärdensprachpoetin ist, sondern auch Tänzerin, Choreografin und Schauspielerin, finden sich zwei, jeweils von der hörenden Lyrikerin Lea Schneider übersetzte Texte. Der Gedichtvortrag in Gebärdensprache ist besonders eindrucksvoll, weil Kassandra Wedel ihr Können als Tänzerin und Schauspielerin voll für den Vortrag nutzt und wohl auch nutzen muss, etwa bei dem mit Körpergedächtnis betitelten, sprachspielerisch-komplexen Text, der in der verschriftlichten Lautsprache so aussieht (Auszug):

innenflimmernteilchen               immern im teilcheninnern
intern nach hinten flimmern      kopfgefühlt hinten innen sich
ist herzgedacht hinten               flimmert immert vergeht …usw. usf,

und in verschiedenen Richtungen gelesen werden kann. Hier, wie bei allen Gedichtvorträgen in der Originalsprache (Gebärdensprache) ist auch für den dieser Sprache Unkundigen erkennbar, also sichtbar, dass die Gebärdensprache von den Dichtern und Dichterinnen viel differenzierter, lebendiger, beweglicher, vielfältiger benutzt wird, als etwa bei jenen Simultanübertragungen nur mit den Händen und Gesicht, die mitunter im Fernsehen in einer Ecke des Bildschirms zu beobachten sind. Das poetische Moment dieser Sprache wird mit dem ganzen Körper ausgedrückt, wobei von den Dichtern Schwerpunkte gesetzt werden für die Arme, den Oberkörper, den Kopf oder die Gesichtsmimik. Während die erwähnte Kassandra Wedel mitunter beeindruckende schamanistische Rituale aufzuführen scheint, verwandelt sich der Dichter Dawei Ni bei seinem Vortrag in einen Pantomimen, weil er sehr betont mit der Mimik (aber nicht nur) arbeitet. Dessen Gedicht baum aus hand, in die verschriftlichte Lautsprache übertragen von Ulf Stolterfoht, hat den Prozess des Vortrages in der originalen Gebärdensprache selbst zum Gegenstand, indem es beschreibt und interpretiert, was man sieht:

da steht einer, der gehört ganz offensichtlich nicht zum gedicht.
oder zumindest noch nicht. doch das wird sich ändern. ändert
sich ganz offensichtlich jetzt. von oben senkt sich was herab,
das stark an tischplatte erinnert. ganz signifikant an platte gemahnt …

Und am Ende:

……. Es gebärdet ein dichter die gebärde „gebärde“.
der mann gehört ganz offensichtlich zum gedicht, der dichter
höchstwahrscheinlich nicht. (verlässt das licht nach vorne links.)

Bei der Wahrnehmung der Gedichtvorträge in Gebärdensprache durch die jeweiligen Dichter wird einem bewusst, dass die Gebärde nicht nur ein Kommunikationsmittel neben der Lautsprache ist. Sondern dass sie vor allem ein sehr, sehr viel älteres Kommunikationsmittel ist, ein vorzeitliches sozusagen, um sich zu verständigen. Lautsprache ist sehr viel jünger als es die Gebärden sind. Der im Sommer 2022 verstorbene amerikanische Schriftsteller Cormac McCarthy lässt in seinem Roman Stella Maris die Protagonistin behaupten: Jedenfalls ist das unbewusste Steuerungssystem Millionen Jahre alt, die Sprache dagegen nicht mal hunderttausend Jahre. Das Gehirn hatte keine Ahnung, was da kommen würde. Das Unbewusste muss seine liebe Not gehabt haben, mit einem System zurecht zu kommen, das sich vollkommen unerbittlich erwies. Es sei dahingestellt, ob diese Behauptung richtig ist. Aber sie macht zweierlei deutlich: Die (Laut)Sprache trat neben die Gebärde, die Gestik, und verdrängte sie mit der Zeit. Und: Die Übersetzung einer Gebärde oder Geste in Lautsprache ist ein noch viel komplizierterer Akt, als es die Übertragung von Wörtern und Sätzen von einer Lautsprache in eine andere ist. Denn jene erfordert, wenn man so will, einen Kategorienwechsel. Nämlich den Wechsel von einer sichtbaren Handlung (Bewegung mit der Hand, den Armen, dem Körper) im dreidimensionalen Raum (die, wenn wir sie als rituelle Handlung verstehen wollen, einen performativen Charakter aufweist, weil sie hilft, herbeizu-führen, was sie darstellt – Charles Tayler) zu einem hörbaren Laut, zu einer geregelten Lautfolge. Habermas‘ Verdikt von der Versprachlichung des Sakralen, bzw. ritueller Praktiken und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust fällt in diese Kategorie. Ein Prozess, der durch die Technik der Verschriftlichung der Lautsprache noch einmal erheblich verschärft wurde.

Umso interessanter wäre es gewesen, mehr zu erfahren von der im Vorwort erwähnten „Erarbeitung“ der verschriftlichten Fassung der Lautsprache. Denn dahinter verbirgt sich eine für uns Hörende kaum zu erfassende Übersetzungsleistung.
     Sicher ist jedenfalls: Die ganz moderne Video- und Digitaltechnik (ob der Begriff „Augmented Reality“ die Sache wirklich trifft, ist nicht entscheidend) ermöglicht es uns, diese uralte, aus nahezu ritualisierten Bewegungen bestehende Kommunikationstechnik für die Poesie gleichsam zurückzuholen, sie für ein breites Publikum wahrnehmbar zu machen, sie gleich-berechtigt neben die verschriftlichte poetische Lautsprache zu stellen, indem sie mit Hilfe aus-geklügelter technischer Mittel gleichberechtigt und sogar gleichzeitig mit dem schriftlichen Text erfasst werden kann. Ein solches Projekt verdient höchste Anerkennung.


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