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(Aron Koban, Annett Groh:) denkzettelareale (2)

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Róža Domašcyna     

(Aron Koban, Annett Groh:) denkzettelareale. junge lyrik. Leipzig (Verlag Reinecke & Voß) 2020. 432 Seiten. 24,00 Euro.

„Ein Spiel auf Zeit zwei lose verbunden sind drei wir“


Eine Anthologie mit und um Lyrik ist anzuzeigen: „denkzettelareale“ junge Lyrik. Der Titel wirft schon Fragen auf: Ich schlage im Sprach-Brockhaus aus den Jahren 1938 und 1953 nach. Dort steht die Definition: einem einen Denkzettel geben, ihn so behandeln, dass er es nicht sobald vergisst. Gleichermaßen eindeutig wie uneindeutig.  
    Jemandem einen Denkzettel verpassen, also jemanden mit Worten, mit der Faust oder sonst zurechtweisen. Ihm zeigen, „wo es lang geht“. So kenne ich das Wort aus heutiger Praxis.
   Aber das ist hier nicht gemeint. Das Wort in den Brockhaus-Ausgaben wird mit dem Wort Merkzettel ergänzt. Merken und Zettel haben mit dieser Anthologie zu tun.
     Und auch das Anliegen, dass der Leser das Gelesene nicht sobald vergessen sollte.
     Denn Merkzettel sind es ja oft, auf denen erste Notizen für ein Gedicht entstehen.
    Doch egal, wie man die Zettel bezeichnet, wichtig ist, was draufsteht. Oder, um es mit einem Zitat aus Thomas Böhmes scharfsinnigem Statement zu sagen. „Ein Haufen Buchstaben ist aber noch lange keine Armee,/ eine Zeilenkolonne kein Heeresverband./ Erst der Drill macht es zu dem, was es ist.“   
   Markus Hallinger spricht da von einer „bestimmten Denktechnik (Arbeitsweise). Ich möchte die Dinge (be)greifen können, die ich schreibe.“ Und Gregor Kunz bemerkt: „Schreiben, bis es stimmt.“
  Vom Areal weiß das Synonymwörterbuch, dass es auch ein Grundstück ist. Nach dem Lateinischen steht es in verschiedenen Dudenfassungen für Fläche, Gelände, Raum und Flächeninhalt. Also Orte, Häuser und Wohnungen. In Marlen Pelnys Gedichten beispielsweise findet man sich unmittelbar darin.

429 Seiten sind es geworden. 33 vorgestellte Dichter verschiedener Jahrgänge kommen zu Wort. Junge, ja, ein viel zu allgemeines Wort. Vielleicht eher Anfänger, auch schon gestandene Dichter.
   „Hier ist der Ort, an dem die literarische und kritische Auseinandersetzung mit der Sprache unserer Zeit ausgetragen wird“, schreiben die Herausgeber Annett Groh und Aron Koban im Vorwort. Freilich, es ist ja eine zeitgenössische Anthologie mit Gedichten lebender Dichter. Kurt Drawert definiert ihre Arbeit treffend in seinem Nachwort mit „neue Zugänge sichern und Räume erobern“.
    Das Besondere an dieser Anthologie ist, dass jede Dichterin und jeder Dichter von einem „Vorsteller“, der auch Dichter sein kann, eingeführt wird. Dann folgen Gedichte des Vorgestellten und schließlich eine Art eigene poetische Stellungnahme oder Konfession, bei der sich manch einer (und das leuchtet mir ein) etwas schwer tut.

Die hier präsentierten Texte sind in der Zeitschrift „Ostragehege“, in der Reihe Lagebesprechung schon einmal gedruckt worden.
    Die Auswahl trafen die Vorstellenden (Vorsteller oder Besprecher scheinen mir hier nicht die richtigen Worte). Das sind Nico Bleutge, Peter Geist, Jayne-Ann Igel, Jan Kuhlbrodt, Bertram Reinicke, Ulrike-Almut Sandig, Kathrin Schmidt, Anja Utler und Ron Winkler. Die meisten von ihnen stellen vier Dichter vor.
   Die Vorstellenden widmen sich dem Schaffen der vorgestellten Dichter mal allgemein, das (bisherige) Werk umfassend, mal sich an die in der Lagebesprechung präsentierten Gedichte haltend- Mal auf einen Lyrikband näher eingehend, aus dem einige Gedichte in der Lagebesprechung vorgestellt wurden, so, dass man den Gedichtband in Gänze bräuchte, um alle Anspielungen, Andeutungen und zitierten Beispiele im Kontext zu verstehen. Wie im Beitrag von Anja Utler zu den Gedichten von Karin Fellner, wo sie mit etlichen Beispielen auf Gedichte hinweist, die „Lebensmomente im Bewusstsein einer alten Magd“ enthalten, von denen ich gern einige Proben in diesem Buch lesen würde.
 Es geht (in strenger Form oder durchaus auch mal prosanah) beispielsweise um „Intentionskerne“ (Peter Geist), „Expedition in die unbekannten Räume des eigenen Inneren“ (Anja Utler), „hochpolitischen Text“ (Jan Kuhlbrodt), „Mesalliancen aus Körperelementen und künstlichen Strukturen“ (Nico Bleutge), „zwittrige quecksilbrige Gebilde“ (Kathrin Schmidt) oder um den „Zauber einer wirklichkeits-irren Parallelwelt“, wie es Ron Winkler in seinem Essay zu Claudia Gablers Gedichten bzw. zu ihrer Art des Schreibens feststellt. Was in den folgenden Gedichten treffend belegt wird. Ebenso verhält es sich, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, bei Ulrike Almut Sandig hinsichtlich der Gedichte von Sünje Lewejohann. Dieses Zusammenspiel ist eine Stärke der Anthologie und macht sie besonders. Manchmal wird durch die Betrachtenden auch ein Porträt des Dichters aufgezeigt, wie bei Jayne-Ann Igel mit dem Dichter Torsten Israel. Interviews, Zitate und Bezugnahmen finden sich ebenfalls im Buch.
   „Worte sind Objekte“ erkennt Jan Kuhlbrodt in seiner Einführung zu den Gedichten von Swantje Lichtenstein. Und Karin Fellner notiert in ihren poetologischen Betrachtungen: „Lyrik die immer weiter schreitende, sich neu erfindende Fachsprache“. Letztlich hat Jayne-Ann Igel in ihrem Begleittext zu Undine Materni den Nagel auf den Kopf getroffen: „Es (also das Gedicht Anm. R.D.) eröffnet einer anderen Wahrheit hinter den Worten Raum“.
      Ein Beispiel dafür bietet das zweiteilige Gedicht „vind“ von Levin Westermann.
   Es fängt mit einer Bestandsaufnahme an (das erinnert anfangs an das „alfabet“ von Inger Christensen): „den wind gibt es;/ den wind und das schiff gibt es; den zaun“. Am Ende heißt es sinngemäß, dass die Zeit zähnefletschend im Gras liegt und der Wind verebbt. Stille tritt ein. Dieser Moment des scheinbaren Anhaltens der Zeit wird erfahrbar. Da fällt mir der Franzose Jean-Baptiste de Seynes ein, er hat in seinem „wind“-Gedicht diesen sogar die Spuren rund ums Haus tilgen lassen, indem er den Wind als „tanzenden besucher der die erde feststampfte“ personifiziert. Aber das nur am Rande. Aufbauend auf diesem Gedicht von Inger Christensen arbeitet auch Philip Marold.  
    Welchen der hier vorgestellten Gedichte sollte man den Vorzug geben? Ich finde es interessant, was an den Schnittstellen der Digital-Analog-Wandler geschehen kann, finde es spannend, auf welche Art Ellipsen als Lücken zu Tage treten. Mag eine Struktur, die eigen und angreifbar ist, dabei aber „auf äußeres Gleichmaß baut, ohne harmonisierend zu wirken“ (Nico Bleutge). Mich interessiert die Arbeit mit gleichen Worten im Text, die in verschiedenen Sprachen verschiedenen Sinn ergeben, und wenn diesem dann nachgegangen wird in den Sprachen. Wichtig ist, dass „es schillert und lebt“ (Bertram Reinecke).   
    Ob es sich nun um ein Gedicht handelt, das „als „Sprachteilchenbeschleuniger“ (Peter Geist) fungiert, oder eines, das als Sprachteilchenverzögerer funktioniert. Maßgebend ist, dass der Impuls, der vom Gedicht ausgeht, Spannung aufbaut.
   Diese Eigenschaft haben viele der vorgestellten Gedichte. Hier nur ein Beispiel, quasi eine Definition zu einem heute oft in den Mund genommenen Wort: „so viel heimat. gut/ gelagertes, waffenfähiges Material“ (Daniela Seel).  
    Und welchen Vorstellenden sollte der Vorzug gegeben werden? Vielleicht jenen, die sich zum Werk des Vorgestellten auch kritisch äußern, auf Schwachstellen hinweisen und ihm damit Brauchbares an die Hand geben.
   Die Vorstellenden haben, wie schon bemerkt, bei der Auswahl der Dichter das Wort geführt. Auch ihre Vorlieben sind subjektiv. Vielleicht ist dies das schön Unverhoffte dabei und genau das, was die Herausgeber im Vorwort mit „es ist keine Blütenlese mit Anspruch an Repräsentativität“ gemeint haben. Stets ist es „ein Spiel auf Zeit zwei lose verbunden sind drei wir“ (Robert Prosser).
   „Wenn aus Not Notation wird“, schreibt Kristin Schulz und umschreibt damit die Arbeit des Dichters.
   Man sollte sich die hier vorgestellten Dichter, die zum Teil schon mit Preisen und Förderpreisen bedacht wurden, merken. Das heißt, weiter auf ihre Gedichte neugierig bleiben. Dieses Areal in Buchform ist es ebenso wert. Es lohnt sich auf jeden Fall, darin zu lesen.


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