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Şafak Sariçiçek: Wasserstätten

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Klaus Anders

Şafak Sarıçiçek: Wasserstätten. Berlin (Verlag der 9 Reiche) 2023. 32 Seiten. 9,00 Euro.


Soeben erschien in der Lyrik Edition NEUN, Band 23, im Verlag der Neun Reiche der Gedichtband Wasserstätten von Şafak Sarıçiçek. Ein schmaler Band, 28 Gedichte auf 32 Seiten, gegliedert in vier Teile. Mit Linolschnitten von Steffen Büchner.
        Streng und knapp komponiert, reich an Bildern und Metaphern, Gedichte, die nicht unbedingt beim ersten Lesen einen Zugang weisen.

Was sind Wasserstätten?

Meine erste Assoziation, als ich den Titel las: An Wasserflüssen Babylon. Fast jeder kennt diesen Beginn der ersten Strophe eines Liedes aus der Reformationszeit, das sich eng an den Psalm 137 anlehnt. Der Psalm eine Klage der Juden in der babylonischen Gefangenschaft. Völlig abwegige Verbindung.
         Oder vielleicht nicht ganz? Den Juden wurde befohlen, einen fröhlichen Preisgesang aufzuführen.
               Das verweigern sie:

1 An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. 2 Unsere Harfen hängten wir an die Weiden im Lande. 3 Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: »Singet uns ein Lied von Zion!« 4 Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande?

Fremd sein, sich fremd fühlen innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe kann man auf sehr verschiedene Weise, z.B.:

als Einwanderer aus einem anderen Land, einer anderen Kultur

als Gefangener und Verschleppter

als Indigener, der sich unter seinesgleichen fremd fühlt, etwa weil er einer unterdrückten Minder-heit angehört oder dem autistischen Spektrum, oder weil er seine „heimische“ Blase verlässt und nun auf ein anderes Wahrnehmen, Fühlen und Denken trifft

als jemand, der einer Lohnarbeit nachgeht, um überleben zu können, d.h. jemand, der eine Arbeit verrichtet, die er von sich aus nicht tun würde, und die er auch nicht nach seinen Vorstellungen verrichten darf usw.

Das sind nur Haltegriffe und Stelzen. Dennoch sind wir damit schon mitten drin in Şafak Sarıçiçeks Gedichten. Der Bilderreichtum, die Metaphorik schaffen eine Vieldeutigkeit, die sich einfachen Zuordnungen entzieht und damit dem alltäglich geübten „Verstehen“. Unter „Verste-hen“ läuft bei den Meisten, vor allem denjenigen, die sich nicht aus Leidenschaft oder Profession mit moderner Lyrik beschäftigen, eine Vorstellung von einem möglichen, suksessiv sich entwickelnden gedanklichen Nachvollzug, in der Regel zugunsten einer Einordnung. Ein Der-Sache-Nachgehen, das zu greifbaren Ergebnissen führt, über die gesprochen und verhandelt werden kann. Eine Art Bau-, Material- und Lageplan mit deutender Legende. Aber was, wenn man auf diese Weise zu solchen Ergebnissen nicht kommt? Hat man dann das Gedicht nicht „verstanden“?

Wasser ist ein weiches, schmiegsames „Element“. Manche nennen es edel (APIΣTON MEN YΔΩP – das Beste ist das Wasser schrieb Pindar), andere nennen es demütig, gütig: Des Wassers Güte ist es, allen Wesen ohne Streit zu nützen. Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten. (Daodejing) Fast alle sind sich einig, dass es das mächtigste Element ist, stärker als Luft, Erde und Feuer. Dass es nicht nur den Leib reinigt oder gar heilt, sondern an geeigneten Stätten auch die Sünden aus der Seele wäscht, eine Umkehr und einen Neubeginn ermöglicht.

Algen ringen mit dem Fluss / beißen Brückenpfeiler im Fach-werkeck // Als hätte Macht das Land
(Osterode)

Der erste Teil des Bandes trägt die Überschrift Bei den Wasser-städten (Städten, nicht Stätten!). Aus dieser Gruppe das zweite Gedicht hat denselben Titel.

...die Ghibellinen

binden Wasserstadt an Wasserstadt
heben das spiegelnde Meer an

das Spiegelmeer und Spielmeere
den zaudernden Schaum der Zornigen

schwappt Fischtunke und Fischfurunkel
als schnuckelige Säure zum Land

Wer Sarıçiçeks frühere Gedichtbände kennt, kennt die sprühende Fantasie des Autors, die Westliches und Östliches verknüpft, Altes und Neues zu überraschenden und fre-chen Kompositionen, sein Spiel mit Stab- und Binnenreimen, Assonanzen, kennt seine Lust am Absurden und Grotesken. Leuchtende Farben dominieren, aber es gibt auch monochrome Bilder, gebrannte Umbra, Tulasilber, und die Wischtechnik, die das geschaffene Bild mit einem Wortwitz wegfeudelt.

Ein Gedicht mit Versen von bezaubernder Schönheit

In Locken herab fällt die Stadt
in Wildnisse da kein Fassen ist

gerät in der folgenden Strophe in einen Strudel des Selbstzweifels, der nur noch die Bruchlinien der Fügung sieht, aber das Bild als Ganzes verliert:

Führst Worte an
klar definierte Bausteine

meine Zeitgerüste aus Meergedanken

Eine Art des Verstehens, die man auch als verstehendes Nichtverstehen bezeichnen könnte, ist das intuitive. Es ist eines, das sich einem mal blitzartig öffnet, mal allmählich, durch wieder-holte Annäherung, dämmert, auch in einem gewissen Halbdunkel verbleiben kann. Es ist eine in unserer Kultur vernachlässigte, dennoch stets anwesende und von jedem täglich vielfach genutzte, Weise des Denkens, die gern verwechselt oder abgewertet wird mit „Bauchgefühl“, mit „Rau-nen“, „Irrationalität“ und dergleichen. Haben wir nicht alle schon die Erfahrung gemacht, dass auch das scheinbar klarste und zugänglichste Gedicht seine eigene Dunkelheit behält? Sich dem Sprach- und Bilderfluß hingeben, wieder und wieder Klang und Rhythmus auf sich einwirken lassen (denn fast alle guten Gedichte sind auch Musik) und warten, was geschieht – manchmal geschieht auch nichts. Will man ein Gedicht als ein individuelles Kunstwerk würdigen, das so und nicht anders ist und sein kann, genügt es, zumindest mir, nicht, mit der cartesianisch geschulten Schnippelschere dem Text „auf den Grund“ zu gehen. Die Schnippelschere ist wichtig, aber oft nur die halbe Miete.

Im zweiten Teil des Bandes Fischfresser geht es um Arbeit unter den Bedingungen des Kapitalismus, die Arbeitsteilung in einem Fischrestaurant. Arbeitsteilung meint hier nicht nur die zwischen den Menschen, sondern auch die zwischen Mensch und Fisch. Allen voran steht der Bitfisch, der flüchtigste, massenhaft vorkommende, niemals überfischbare Fisch. Der Autor lässt die Groteske aufblühen in einem dialogisch strukturierten Gedicht, Der Brater:

Du bist Brater
Ich der Fisch

Spuckst Siedefett
bist nicht ganz durch
nicht ganz dicht

Beide werden auf ihre Weise vom sprudelnden Fett versehrt

bräune sechs Bauchminuten
und sechs Minuten Rücken

Ätzarm ene Armbrand mene
Sengefinger
miste

Im Gedicht Der Spüler schaut Levinas herein (er kommt später noch einmal vor):

Levinas blickt durch Luken
erblickt nicht den Anderen

nur vollbeladen sinkt
das Boot gegenüber

unerbittlich rhythmisch schaufelnd
nach Besteck Spießen Speergeräten

Raumleere Lärmraum ist der Titel des dritten Teils, worin laut Covertext der dadaistische Humor als  roter Faden in eine Einordnung von Ideen, Objekten und daraus folgenden Krisen in Räume, Konstrukte, in die Stille als Nicht-Raum führt. Wer angesichts dieses Versprechens nun die Darbietung irgendwelcher Erkenntnisse und Lösungen, womöglich noch politischer Bekennt-nisse und Handlungsanweisungen erwartet, wird enttäuscht werden. Humor ist, wenn man an der falschen Stelle lacht. Dem öffentlich zelebrierten deutschen Humor (in dieser Hinsicht schreiten Bierzelt und Bohème einmütig Seit an Seit) genügt oft das von irgendeinem Oben verordnete Lachen, ja er kommt, wenns sein muss, sogar ganz ohne Lachen aus. Doch auf diese Art Humor wird man in Sarıçiçeks Gedichten nicht treffen.

Hygienekonzept

wir schaffen uns ein hygienekonzept
zur steten revision
gesetzt aus schweigen
und schweigend schweben wir
in folgeverfahren

hab dich nachrangig berücksichtigt
im nachrang sichtest du mich nicht

Hier begegnet uns noch einmal der Philosoph Emmanuel Levinas. Levinas erkennt ihnen das Sehen ab. Wem? Den Bomberjacken, die sich provozierend vor orientalischen Festlichkeiten sammeln. Denn diese Bomberjacken

sehen nicht am Ort wo sie harren sehen
nicht wenn sie mit Mauern vergiften
sehen nie ein Antlitz

sickern doch in Schulklassen
tuscheln über Beschnittene
ertränken Tage versinken

in neuen Bomberjacken
schwelende Blendsucht

So ernst und direkt wird der Dichter selten. Und geht dann auch gleich im nächsten Gedicht zum Karneval über:

Bühne nicht verratende Bühne
wer Predigt hält wer Spiele spielt
(…)
Auditorium der ungewissen Zuhörer
sie tauchen auf sie sinken nieder
wie die Frage nach ihrem Seinszustand
ihres diffusen Klatschens
(…)
in der Halle schwimmt ein Zimmer
von verhörender Art mit Leuchten
leerwaschend gesättigte Gesichter

Den Band schließt ein vierter Teil ab. Hybris und Genügsamkeit. Nur eine Seite, eine Gruppe von drei Gedichten in den (westlich adaptierten) Formschemata von Tanka und Haiku, deren erstes:

Fjodor Dostojewski berichtet von Arkadij

der grünste Junge
haust im Winkel der Idee
von großen Träumen

können Hoffnungen wirken
von Intriganten umstellt

Ganz klare Leseempfehlung!


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