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Thure Erik Lund: Das Grabereignismysterium

Rezensionen / Verlage


Slata Roschal

Thure Erik Lund: Das Grabereignismysterium. Aus dem Norwegischen übersetzt sowie mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von Matthias Friedrich. Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2019. 296 Seiten. 23,00 Euro.


Entzückend beginnt Lunds Roman:

Tomas Olsen Myrbråten: Jeden Tag muss ich ein paar endlose Stunden am Küchentisch zubringen, um zu weinen. Eben nichts weiter als diese höchst traurige Sache: mit dem Oberkörper quer über dem Tisch zu liegen und über das Elend der Welt zu weinen. Ja, so traurig ist es geworden, dass ich jeden Tag über die Verdorbenheit der Welt weinen muss.

Myrbråten, der durchgängige Ich-Erzähler, verbringt seine Tage im kleinen geschlossenen Raum, vielleicht einer Art Irrenanstalt:

Untätig auf ein- und demselben Fleck in einer „Küche“ zu stehen und den ganzen Tag lang aus dem Fenster zu schauen, ist physisch natürlich ungeheuer herausfordernd. Deshalb bin ich physisch in sehr guter Form. Das ist notwenig, denn manchmal beginnen die Möbel sich zu bewegen, besonders der Tisch ist unruhig, und dann gehe ich zu ihm und setze mich drauf und halte ihn fest und drücke den Tisch auf den Boden hinunter, und manchmal drücke ich so fest, dass die Tränen anfangen, mir über die Wangen zu rinnen.

Er bezeichnet sich als „Geistesmensch“, einer besonderen Gattung zugehörig, die er in langatmigen, vor sich her philosophierenden Tiraden zu definieren versucht. Aus widersprüchlich-chaotischen Charakteristika eines „Geistes-menschen“ (es braucht Geduld, sie durchzuhalten) wird jedenfalls deutlich, dass es um soziale und räumliche Isolierung und eine (freiwillige und aus dem Scheitern heraus zugleich) beeindruckende Machtlosigkeit geht. Myrbråten steht in der literarischen Tradition einer hilflosen Männlich-keit, die einen Höhepunkt etwa schon in Fedor M. Dostoevskijs „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ (1864) findet, deren Ich-Erzähler: „Ich bin ein kranker Mensch ... Ein böser Mensch. Ein unansehnlicher Mensch.“ Es sind Rand-existenzen an Männern, die einsam, verbittert, gar auf manische Weise alternative Faktoren zu zeitgenössischen Machthierarchien entwickeln.

Myrbråten dreht sich (wie Dostoevskijs Untergrundmensch) in seinen Monologen im Kreis, stellt eine Reihe widersprüchlicher Thesen auf, greift (und auch das erinnert an Dostoevskij) scheinbar – natürlich nur scheinbar – auf ungeschliffene, spontane Sprache zurück und setzt (genau wie Dostoevskijs Untergrundmensch) das Mensch- mit Mann-Sein gleich.  

‒ Myrbråten verfasst im Auftrag des Norwegischen Kulturministeriums ein Gutachten zur Bewahrung von Kulturdenkmälern, das die „geisteskrank um sich greifende, amerikanische, technonarkomane, jugendindustrielle United-Nations-Kultur“ Norwegens anprangert, zur Rückkehr in die „echte Kultur“ aufruft und bei einem Treffen mit der Kulturministerin (das höchste Amt bekleidet interessanterweise eine Frau) einen Skandal hervorruft. Er lebt eine Zeit lang vom gesparten Honorar und beschließt dann, sich zusammen mit Helene, einer offenbar drogen- und alkoholsüchtigen wirren Gestalt, die er zunächst mit der Kultusministerin verwechselt und eifrig „beackert“, und mit seinem geistesbehinderten Bruder ins heimatliche Dorf zurückzuziehen. Ab da wird es immer skurriler, der Geistesbehinderte heult draußen an einem Seil, ein Nachbar im Dorf verkauft erfolgreich heilende „Gärfuttergrütze“ aus pulverisierten Traktorreifen und sammelt archäologische Beweise für Urmenschen mit „einer fortgeschrittenen Form der Fortpflanzung“, die sich auf den Händen, die Beine in die Luft gestreckt, fortbewegt hätten. Nachdem sich die Polizei für Myrbråtens verschwundenen (entledigten) Bruder zu interessieren beginnt, flieht das Paar in die Berge, zum geheimnisvollen Grausprengbrasen-Volk, das sich im Glauben an Gott „auf dem eigentlichen Weg befände“. Myrbråten flieht, versteckt sich als „Waldläufer“  in Mooren, führt „intime Gespräche“ mit der Natur. Auf der Suche nach Helene kehrt er zum Grausprengbrasen-Dorf zurück: „Dann öffnete ich den Mund und johlte. Das Geräusch flappte davon und schlug gegen die Hauswände. Die Krähen flogen verschreckt in die Waldkrinkel hinein.“ Daran schließt sich der Anfang, die ganze Geschichte als aufbauende Rückwendung; gleichzeitig findet eine klimaxartige Entwicklung vom Anfang bis Ende des Buches statt, bis das triumphierende Johlen am Ende beweist, dass Myrbråten in den Tiefen der norwegischen Wälder vollständig zum Geistesmenschen geworden ist.

Ich habe das Glück, Matthias Friedrich und die von ihm übersetzten Bücher (anspruchsvolle, manchmal an Schmerzen grenzende Lektüre, die an eigener Bildung zweifeln lässt) seit einigen Jahren zu kennen. Der Roman ist, ähnlich wie Myrbråtens Gutachten, in der „leseraussiebendsten Form“ geschrieben; am Ende bleibt ein aber siegreiches Gefühl zurück, es nicht nur geschafft, sondern in eine merkwürdig geschlossene, auf sich selbst beharrende Welt eingetaucht zu sein, von der man sonst keine Vorstellung gehabt hätte, in eintönig-nervenden Passagen besonderen Humor, in Seltsamkeiten genau angelegte Zusammenhänge entdeckt zu haben. Und ich, die nie in Norwegen war, ja keine Ahnung habe, zum ersten Mal etwas von Lund höre, spüre, dass mich die Gräben, die sich durch den Roman ziehen, „vollkommen unbegreiflich“, dieses Grabereignis-mysterium zu faszinieren beginnt.
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