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Stefan Ripplinger: Vergebliche Kunst

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Jan Kuhlbrodt


Zu Stefan Ripplinger Vergebliche Kunst



In der letzten Ausgabe der Literaturzeitschrift Schreibheft stellte Stefan Ripplinger den wahrscheinlich letzten Text des französischen Autors Jacques Decour vor. Es ist ein Text, der fragmentarisch endet, in fast aphoristischen Splittern. Im letzten Absatz heißt es:

Ich habe den Rhythmus verloren. An der sich wölbenden Decke meines nächtlichen Kerkers gibt es weder Einschnitt noch Stern. Weniger und weniger existiert die Zeit. …

Als wollte der Autor ein Stichwort geben. Wenn Kunst so etwas wie Rettung bedeutet, so hat sie Decour nicht retten können. Er wurde 1942 von den Faschisten hingerichtet. Im Nachkriegs-frankreich wurde er vergessen, nur in der DDR wurde ein Ferienheim des FDGB nach ihm benannt, das es jetzt wohl auch nicht mehr gibt. Es ist Ripplinger zu danken, dass er den Text entdeckt und übersetzt hat - und somit wenigstens für die Leser des Schreibhefts dem Vergessen entrissen. Aber Ripplinger weiß, dass er sich damit auf eine Sisyphusarbeit einlässt. Die Menge des Verschütteten ist mutmaßlich unüberschaubar.

Fast zeitgleich zu dieser Ausgabe des Schreibhefts erschien im Verlag Matthes und Seitz Berlin in der Reihe Fröhliche Wissenschaft Ripplingers Essay Vergebliche Kunst, und hier zitiert er das Lied des Predigers Kohelet:


Die Welt, in der sich das Nichtigwerden regelmäßig vollzieht und vollziehen muss, muss mir nun tödlich erscheinen. Ihr Automatismus steht schon in der Bibel geschrieben: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, / was man getan hat, wird man wieder tun: / Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“


Klar, dass Ripplinger in diesem Kontext auf Becketts Murphy zu sprechen kommt, der vielleicht der Prototyp der Vergeblichkeit als literarische Figur ist. Aber die Werke sind im Essay gewissermaßen sekundär.

Der Text ist keine, wie der Titel vielleicht vermuten ließe, Radikalabrechnung mit der Kunst an sich. Der Essay wendet sich dem Künstler, dem Produzenten zu, weniger dessen Produkten, in deren Nichtwahrnehmung die Vergeblichkeit sich wahrscheinlich am deutlichsten zeigt.

Es geht um die Autonomie, die in den Produkten zuweilen aufscheint, die ihren Produzenten jedoch nicht zuwächst. Aus diesem Widerspruch heraus entwickelt Ripplinger ein düster-melancholisches Bild künstlerischer und kunsthandwerklicher Produktion unter den Bedingungen des entfesselten Kapitalismus. Die sogenannten Laienkünstler bleiben in der Betrachtung nicht außen vor. Aber auch kommerziell Erfolgreiche erfahren dieses Moment. Ripplinger zeigt das am Beispiel des Malers Gerhard Richter.

Schon Eingangs des Essays wird seine antikapitalistische Stoßrichtung deutlich:

Unter dem Vorzeichen der Waren- und Geldform erzeugt das Geben und Nehmen den Eindruck von Gleichförmigkeit, Gleichgeordnetheit, Sachlichkeit, Abstraktion. Dies muss zu einer Vergeistigung des Lebensstils und zu einer „eigentümlichen Verflachung des Gefühlslebens“ führen, zu einer Sachlichkeit und Unabhängigkeit – für alle und für niemanden –, in der eine Kunst, die Erbin kollektiver Kulturen ist, keinen Platz mehr findet.


Während im Kapitel über den Fetischcharakter der Ware im ersten Band des Marxschen Kapitals also die Tische noch lustige Tänze aufführen, verflacht bei Simmel, der von Ripplinger hier zitiert wird, dreißig Jahre später das Gefühlsleben. Ripplinger verfolgt die hier aufgenommene Spur bis in die Gegenwart.

Aber trotz der traurigen Diagnose wirkt dieses Buch auf eigentümliche Art tröstlich. Wahrscheinlich, weil es sich, wie eingangs erwähnt, gegen das Vergessen und die Vergeblichkeit stemmt. Und weil es letztlich Widerstand formuliert gegen Konformität im Allgemeinen und gegen Marktkonformität der Kunst im Besonderen.


Stefan Ripplinger: Vergebliche Kunst. Berlin (Matthes & Seitz – Reihe Fröhliche Wissenschaft) 2016. 107 Seiten. 10,00 Euro.

Vgl. Ripplinger in Mütze #11 und Auszüge seiner Übersetzung von Jack Spicer: "Der Heilige Gral".

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