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Jan Kuhlbrodt: Gegen das Neobiedermeier ein Neobarock

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Jan Kuhlbrodt



Gegen das Neobiedermeier
ein Neobarock


Es ist keinesfalls so, dass ein Begriff wie Neobiedermeier für die gesamte gegenwärtige lyrische Produktion Geltung beanspruchen kann. Ohnehin gibt es keinen Begriff, der das könnte. Er fasst lediglich eine Strömung innerhalb des Gesamtfeldes zusammen, nicht das gesamte Feld.
Dennoch gibt es eine Tendenz in der Wahrnehmung von Lyrik und deren Bepreisung, die eine solche Kategorisierung zulassen könnte, und er zieht eine Parallele zu außerlyrischen gesellschaftlichen Bewegungen. Aber auch diese repräsentieren nicht das gesamte Feld.

Mir geht es also um das Einhäkeln von Bäumen und Fahrbahnbegrenzungen, das in den letzten Jahren in Mode gekommen ist. Die Ästhetik der Berliner Republik also, die sich mehr und mehr in vermeintlichen oder wirklichen Belanglosigkeiten gefällt. Klar sind die Stricknadelartisten eine Minderheit, werden aber in der medialen Wahrnehmung zu einer bestimmenden Strömung. An dieser Stelle muss man fragen, wie sich der Zugang zur öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung gestaltet, wie also und was ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Denn das scheint mir auch die weitere Entwicklung zu beeinflussen. Die Künstlerinnen und Künstler entsprechen nämlich nicht dem romantischen Bild der genialischen Einzeltäter, sondern eher dem, was in der Soziologie Mitglied einer sozialen Gruppe genannt wird. Die Angleichung in Kleidungsstil und Habitus, die Unterwerfung unter herrschende Moden bestimmen doch in zunehmenden Maße das Bild und führt meiner Meinung nach auch zu einer Angleichung der Produkte. Ein Prozess, der in der deutschen Spoken Poetry Szene vielleicht am deutlichsten zu beobachten ist, aber beileibe nicht nur dort Statt hat. Vielleicht kann man sagen, dass das vergleichbare Alter und die ähnliche Herkunft der Produzenten zu einer immer weiteren Angleichung der Produkte führen. Aber vielleicht ist es auch so, dass man durch den Puddingberg hindurch muss, um eine Individualität zu entwickeln, die Vergleichbarkeit hinter sich lässt.

Dem allerdings stehen der skizzierten Einfältigkeit Einzelwerke und Arbeitsweisen entgegen, die sich eben  nicht über einen einzigen begrifflichen Kamm ziehen lassen, die es aber aufgrund eben dieser Einzigartigkeit schwer haben, breiter rezipiert zu werden.

Hier sehe ich einen Ansatz, wie Kritik auch politisch wirksam werden könnte. Sie muss die Rosenhecke durchstreiten.

Ein Text wie dieser hat natürlich ein Problem, er baut einen Begriff zum Kampfbegriff aus, um sich von einer Tendenz, die er wahrnimmt abzusetzen. Aber Dichtung ist immer auch Dichtungspolitik. Wenn ich hier also gegen das Neobiedermeier wettere, beziehe ich zugleich auch Position für etwas, dass es eben nicht ist, und dieses etwas ist vieles.

Wie wenn man einen halbverrotteten Zweig vom Komposthaufen anhebt, und des Gewimmels gewahr wird, das darunter neues Leben verheißt. Wer wollte aber dieses Gewimmel begrifflich fassen außer mit dem bestimmt unbestimmten Wort vom Gewimmel selbst, einer Vielzahl also.

Und spätestens hier ist der Augenblick, sich von der Gartenmetapher abzusetzen und in andere begriffliche Sphären vorzudringen. Einen neuen Begriff zu stiften aber ist schwierig, die Vorsilbe Post- ist allerdings wesentlich zu wenig bestimmt. Also lebt der Weg, in Vergangenem nach einem Begriff zu suchen, der inhaltliche Ähnlichkeit mit dem aufweist, was man ausdrücken will, und diesem Begriff die Vorsilbe Neo zu verpassen. Und dabei sind wir uns auch bewusst, dass es sich nicht um eine einfache Wiederholung eines geschichtlichen Faktes handelt. Ich will versuchen, an dieser Stelle den Begriff Neobarock zu etablieren.

Rückendeckung hole ich mir also erst einmal bei Fitterman / Place, über deren Buch Covertext ich hier bereits schon geschrieben habe. Dort heißt es:


Konzeptuelles Schreiben begegnet diesem Paradox mit zwei Extrempunkten, die sich radikaler Mimesis verdanken: reiner Konzeptualismus und das Barock. Reiner Konzeptualismus verneint die Notwendigkeit, im traditionellen textuellen Sinne zu lesen – man muss das Werk weniger lesen, als vielmehr über die Idee des Werkes nachdenken. … Unreiner Konzeptualismus, wie er sich am deutlichsten im Barock zeigt, verstärkt das Lesen im traditionellen textuellen Sinne noch. In diesem Sinn verweigern sich die exzessiven textuellen Haltungen einem leichten Konsum/einer simplen Produktion von Text und der Zurückweisung des Lesens in der Kultur im Allgemeinen; zugleich werden sie von dieser Entwicklung überrollt.

notabene: Dies sind Strategien des Scheiterns.

notabene: Scheitern in diesem Sinne ist ein Attentat auf die herrschenden Verhältnisse.


Hier wäre zumindest einmal das Scheitern als Option vermerkt. Das Gelingen im Sinne des Neobiedermeier aber erwiese sich dann angesichts des notwendigen Scheiterns als Utopie.

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