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Florian Voß

Portraits



Florian Voß – Phantomflieger

selbst, 1997

2012

selbst, 2000

1970 in Lüneburg geboren, in Berlin lebend, Redakteur, Lektor, Herausgeber (seit 2012 der Lyrikedition 2000), aber auch Künstler (Maler, Fotograf) und vor allem Schriftsteller, das ist Florian Voß. Bisher ein Roman (Bitterstoffe, Rotbuch Verlag 2009) und dreimal Lyrik: Das Rauschen am Ende des Farbfilms, (Lyrikedition, 2005), Schattenbildwerfer (Lyrikedition, 2007), Datenschatten, Datenströme, Staub (Verlagshaus J. Frank, 2011). Nun - zur Frankfurter Buchmesse 2013 - ist sein vierter Gedichtband erschienen: In Flip-Flops nach Armageddon (Verlagshaus J. Frank). Und weil er gerade als Juror beim Lyrikpreis München in der Stadt weilte, habe ich mit ihm am 14. September im Münchner Literaturbüro ein einstündiges Gespräch geführt:

KK Mir ist aufgefallen, dass Sie in den älteren Bänden sehr stark Untotes und Zombiehaftes bringen, also mit einem gewissen Ekel vor der Natur, dem Leben und dem Absterben gegenüber, immer mit einer Distanz.
FV Ja, na klar. Das ist so eine Gottfried Benn’sche Haltung, sozusagen: das Material muss kalt gehalten werden. Das hab ich unter anderem gemacht, weil ich doch sehr zum Pathos neige oder sehr zum Pathos neigte, als jugendlicher Schreiber und auch noch in meinen Zwanzigern. Die Sachen sind bloß alle nicht veröffentlicht worden. Also es gibt da ein paar kleinere Veröffentlichungen schon in den 80ern, als ich so siebzehn/achtzehn war, aber das ist nicht mehr zu finden. Ich hab noch Belegexemplare, das sind so kleinere, Karlsruher Sachen, wo ich damals gewohnt habe. Und dann in den ganzen Neunzigern ist von mir nichts publiziert worden, weil ich mich auch selbst nicht drum bemüht habe, weil ich in den Neunzigern mich viel mehr als Bildender Künstler verstanden habe, sehr viel gemalt habe, ausgestellt hab, zwar immer noch kontinuierlich geschrieben, aber mich nicht groß um Veröffentlichungen bemüht habe. Deswegen. Und diesen sehr deutliche Drall zum Pathos, teilweise auch zum Kitsch, den hab ich halt bekämpft mit diesem: Das Material muss kalt gehalten werden. Und das ist dann schon ein gutes Antidot gewesen und eine gute Therapie dagegen. Und ich glaube, dass ich jetzt soweit bin, dass ich da die Zügel auch wieder ein bisschen lockerer lassen kann, weil ich mit dem Material an sich schon umgehen kann.

Florian Voß: unterm gelb, 1998

KK Ja, das erklärt sich mir auch jetzt, das wusste ich nicht, dass Sie auch Bildender Künstler waren: die vielen eigenen Fotos in Ihrem Blog, von der Nacht und so. Sie waren halt immer der Beobachter, nicht, beim Vater, der stirbt, bei Szenen zu krankhaften Situationen in Großstädten oder überhaupt. Jetzt merkt man in dem neuen Gedichtband doch eine gewisse Verantwortung sogar, ein Verantwortungsgefühl, Sie möchten da praktisch einschreiten?
FV Ach, das würd ich gar nicht mal so sagen. Also der erste Teil, der titelgebende Zyklus In Flip-Flops nach Armageddon, ist ja letztendlich eine Travestie, das ist Grand Guignol als Lyrikzyklus, das hat zwar auch seine gesellschaftlichen Elemente, und durch die Sprecherhaltung wird da auch Position bezogen. Aber letztendlich ist es schon auch eine Beschreibung der Welt, wie sie jetzt verfasst ist, als eine Art Totentanz, aber als modernes „Mittelalterliches Fastnachtspiel“, das ist schon so... so in die Vollen gehend. Das hat ja ganz, naja, wie soll ich es nennen, mager angefangen, als ganz normale – naja, was ist normal – als gut durchgearbeitete Gedichte, eine Handvoll am Anfang, und die hab ich Kollegen vorgestellt, und dann war klar: das ist gut, aber irgendwie klappt es noch nicht so ganz, und dann hab ich sehr lang darüber nachgedacht, was ich machen müsste, um dem etwas Besonderes zu verleihen. Und dann hab ich das einfach immer mehr angefüttert. Das ist immer fetter geworden, also das ist richtig gemästet worden. Und so sind diese Gedichte in diesem Zyklus, bis sie fast geplatzt sind vor Assoziationsfeldern, vor Metaphern, von so einem sarkastischen Witz aufgebläht. Also die Absicht war wirklich, etwas zu schreiben, was dermaßen over the top ist, dass man noch nicht mal Pathos dazu sagen kann, sondern dass das einfach …
KK überdreht, Comic-Pathos ist …
FV Genau.

1. (Phantomfliegerschmerzen)

Mors die Neuigkeiten! Fatales
Fatum zeig ich euch geschichtsvergrindeten
Weltwesen – Bürger hört:

Phantomfliegerschmerzen – am Morgen
brummt der Schadeschädel abendrot
Und mir traumbombte gestern Nacht
sich der Weg in den Tiefgaragenschutt frei
„Suchen sie den Schmutzraum auf“
Ich hab' Betonverschalung im Genick
und es nickt mit schwarzem Eisenbauch
die Bombenfratz überm Erdgetümmel
(Ich sah das durch den Bunkerschlitz)
Alle Einkaufstaschen platzen, platschen
wenn die Bettelleute in den Shelter eilen
Zukunftsgesichte ziehen durch die Augenwand

Der Heliumwind der Sonne brach sich
am Nachmittag – Äther, Äther, Sphärenschichten
und jetzt Mugge: da rasselt Gott die Schellen
und die Trompetten schallen eine Wolfsquinte
Es leuchtete der Norden – O, gute Gammastrahlung
Mücken, Fliegen, Kleingetier – Summsumm
ihr Meister pulte sich den Dreck vom Ziegenstiefel
Meine Augen sahen scharf das ultrahelle Violett
des Himmelsknasters, eingeknastet in dem All
Und es wollt' Abend werden an der Skalitzer

Florian Voß: Nacht vom 31.08.2013

Hans Sachs: Das Narrenschneiden. Die Person in das Spiel: Der Arzet, der Knecht, der Krank.

































(In Flip-Flops nach Armageddon. S. 8 f.)

KK Trotzdem spürt man auch schon in den andern Bänden immer wieder Mitleid durch, nicht, ein Gerührt-werden, Angerührt-sein.
FV Ja, na klar. Selbstverständlich. Ich bin ein (lacht) empfindsamer Mensch. Ich meine, was man manchmal nicht vermuten würde – ein zentraler Teil des letzten Bandes Datenschatten, Datenströme, Staub waren diese zwei Zyklen über das Sterben meiner Eltern, die relativ kurz nacheinander gestorben sind, obwohl sie schon lange geschieden waren, sich also auch schon über fünfzehn Jahre gar nicht gesehen hatten, also wirklich ganz endgültig getrennt waren. Aber dann innerhalb eines Jahres starben. Und das war schon ein einschneidendes Erlebnis in meinem Leben, über das ich dann auch eben schreiben wollte, und ich hab versucht, das nicht in den Kitsch rutschen zu lassen, was natürlich sehr schnell passieren kann, wenn man über den Tod eigener Angehöriger schreibt, aber ich hoffe, mir ist es gelungen, das nicht in den Kitsch kippen zu lassen.
KK Na, kitschig sind Ihre Sachen nicht. In gar keinem Fall, dafür sind sie viel zu sarkastisch, ist der Abstand, immer eine Distanz da – soll ja auch, ist ja auch, was Sie eben sagten, kaltgehaltenes Material, die Selbstbeobachtung – Erleben und sich selbst beobachten.
FV Ja, na klar. Da hat mich schon früh der eine Satz von Christopher Isherwood da begeistert, aus diesem Kurzgeschichtenband, Goodbye to Berlin oder Farewell to Berlin, eins von beidem, so hieß er, da – woraus später das Musical, dann der Film Cabaret gearbeitet worden ist, der hieß ursprünglich als Arbeitstitel: I Am a Camera.
KK Ah ja, ich bin eine Kamera, dass passt zu Ihnen.
FV Genau. Das hat mich damals, als ich das zum ersten Mal gelesen hab, das Buch, so mit 15, gleich getroffen, dieser alte Arbeitstitel, da dachte ich, ja, das stimmt ja auch.

"Mein Vater verblüht schneller als
die Tulpen auf seinem Tisch
Sein eigener Grabesschmuck ist er
bleich und trocken"

(Tulpen und Aseptikum 1, erste Strophe.
Datenschatten, Datenströme, Staub)

Rembrandt: Die Anatomie des Dr. Tulp, 1632.

KK Nun ist das so: Sarkasmus, Distanz und andererseits eben dann wohl auch diese Angst vor der Schwelle, der anderen Seite, das Hinübertreten, weil die ist ja einfach da, die Nacht auch immer wieder als Beobachtung …
FV Wobei das mit der Nacht natürlich auch eine Faszination – und das ist natürlich verknüpft mit Untergang und mit Absterben, aber letztendlich hat es eigentlich, haben meine häufigen Beschäftigungen mit dem Subjekt oder mit dem Thema Nacht in meinen Gedichten simpel und einfach damit zu tun, dass ich schon immer nachts geschrieben habe, ich bin ein totaler Nachtmensch. Ich brauch zum Schreiben, mittlerweile vor allem, früher nicht so sehr, vor allem Ruhe und möglichst wenig Leben um mich herum. Und da ist die Nacht am geeignetsten, und ich neige eben zum Eulenhaften. Ich gehe spät ins Bett, und wenn ich könnte, würd ich auch spät aufstehen. Doch seit ich ein Kind habe, geht das leider nicht mehr: dadurch schlaf ich viel zu wenig... aber ich hab schon immer nachts gearbeitet, und dann ist das eben naheliegend, oft darüber zu schreiben. Würde ich morgens schreiben, würde ich wahrscheinlich ziemlich viele Morgengedichte schreiben.
KK Das glaube ich gerne, weil bei Ihnen, in diesen Nachtfotos und auch in den Nachtbeschreibungen des sozusagen Todes, immer noch so etwas mitschwingt, was Metamorphose ist, was über eine Wandlung reflektiert. Grad bei den Nachtfotos wird das sehr deutlich, da gibt es die ganz schwarzen, da gibt’s aber auch welche, wo schon fast eine Morgenröte durchschimmert oder eine andere Farbe zumindest.
FV Hm.

Florian Voß: Nacht vom 29.07.2013

KK Ja. Das Eigenleben der Medien, vielleicht dass wir da was drüber sagen. Also die älteren Bände – diese comicartige, beobachtende Kamera, die gleichzeitig den Untergang sieht, das ist ja fast wie bei Welt am Draht von Fassbinder: eine maschinelle Welt, die sich gegenseitig beäugt und abstirbt einerseits, aber wo keiner den Knopf drückt, der abschaltet.
FV Nee, das ist eben – Welt am Draht hab ich auch sehr geliebt, auch die Fassbinder-Verfilmung, aber vor allem den Originalroman von Daniel F. Galouye. Ich hab viel Science Fiction gelesen, früher als Jugendlicher, unter anderem eben gerne die Sachen von Daniel F. Galouye, die sehr interessante Weltsichten aufgemacht haben, auch ganz fremde Welten eben, zum Beispiel in Welt am Draht diese virtuelle Realität, die den handelnden Figuren gar nicht bewusst ist. Und es gab einen anderen von ihm, der heißt Dunkles Universum, der spielt nach einem Atomkrieg, ein paar Jahrhunderte später, und die Leute haben sich unter die Erde zurückgezogen und sind erblindet, die können absolut nichts mehr sehen. Also, es wird im ganzen Roman nur beschrieben, was die Leute erleben in völliger Dunkelheit, sehr interessant gemacht – es geht da nur um Hören und Riechen und Tasten.
KK Jaja – ist ja im Leben fast so, dass man sich selbst wenig sieht und sich nicht wirklich beobachtet, und auch da kann es sein, dass man völlig daneben liegt.
FV Aber ja. Die ganze virtuelle Realität und – sagen wir mal – die Computerwelt der Neuen Medien find ich nicht nur faszinierend, da leb ich ja drin. Ich bin einer der, man kann sagen, einer der Opas der digital natives, also ich bin da ja mit aufgewachsen. Ich bin so grad die erste Generation, die damit aufgewachsen ist, zwar noch nicht mit dem Internet, aber eben in den 70ern schon mit Computerspielen und in den 80ern dann mit den ersten home computers, C64 und so. Und dann ab den frühen 90ern, aber auch schon seit es das Netz gibt, also dann mit Anfang zwanzig, mit dem Internet. Ich hatte dann zwar noch nicht selbst so etwas, aber ich kannte eben, was man damals Computerfreaks genannt hat, was man heute Nerds oder Geeks nennen würde. Solche Leute kannte ich, und da hab ich mich schon mal umgeschaut, das war sehr interessant, und dann eben ab etwa 2000 mit dem Web 2.0, seit es sehr komplex geworden ist, leb ich da auch in Teilen meiner Zeit drin, also ich schau mir das nicht nur an, ich … ich leb da drin. Ich glaube, ich bin in Facebook, seit es das in Deutschland gibt, und schreib in Internetforen. Und zum Beispiel, ich schreib, das wissen die Wenigsten, ich schreib dort viel über klassische Musik.
KK Das ist mir aufgefallen, ja, da hab ich mich gewundert. Ah, ja, was für Computerspiele? Das ist mir ja auch aufgefallen, dass Sie da schon fast eine Nostalgie empfinden.

28. Juli 2013: "Gerade für 5, 50 Euro bei ebay ersteigert. Hat seinerzeit, 1996, 2450 DM gekostet."

FV Ja, absolut. Das ist eben meine Kindheit, Pong oder Space Invaders, Pac-Man, Pitfall!, Barbarian, so die ganzen Spiele ab den Mitte Siebzigern bis Mit-Achtzigern, das ist ja eben teilweise 35 Jahre, aber mindestens ein Vierteljahrhundert her, da hab ich natürlich schon nostalgische Gefühle, wenn ich Pitfall! Spiele, mal ab und an, jetzt nicht mehr auf der Mattel- oder Atari-Konsole, sondern online als Browser-Game, dann hab ich da schon nostalgische Gefühle (lacht), nicht? Das kleine aus Blöckchen zusammengesetzte Männchen, wenn ich das über die Krokodilköpfe hüpfen lasse oder über die Fallgruben mit Lianen schwingen lasse. Und es liegt auch vor allem daran, dass mein Großvater, den ich sehr verehrt habe, der war mir sehr nah, mein Großvater mütterlicherseits, der selber auch Künstler war, Bildhauer, schon immer ein totales Faible für Technik hatte. Der hatte schon Mitte der 70er Jahre einen eigenen Computer zu Hause, einen IBM, der war so groß wie ich selber als siebenjähriger. Das war ein Riesen-IBM-Gerät.
KK Was spielen Sie denn heute? Action-Spiele?
FV Ich spiel überhaupt keine Spiele mehr, nein. Das ist ganz vorbei – wie gesagt, aus nostalgischen Gründen mal noch ab und an, aber online, irgendwelche alten Sachen, aber das hat nicht mehr die Faszination wie früher, also, ich konnte mit Demon Attack und Dungeons & Dragons von Mattel-Intellivision Tage verbringen und nachts …
KK Mit welchem Spiel?
FV Dungeons & Dragons. Ein Computerspiel auf Grundlage des Rollenspiels. Da war ich auch von Anfang an dabei, das hab ich mit meinen Freunden gespielt ab 1982, dieses Rollenspiel.
KK Dieses Kartenspiel?
FV Nee, ohne Karten, dass da sozusagen alles im Kopf passiert.
KK Aber mit Würfeln.
FV Ja, mit Würfeln. Ich komm ja literarisch aus einer ganz anderen Ecke. Ich hab angefangen zu schreiben, also ich hab viel gelesen schon als Kind und hab dann mit zehn/elf angefangen Horrorheftchen zu lesen, Groschenromane, John Sinclair von Jason Dark, der Geisterjäger, und irgendwann, mit meinem verblasenen, leicht größenwahnsinnigen Gehirn, das ich auch schon mit zwölf Jahren hatte, hab ich gedacht, Voß, das kannst du auch. Und dann hab ich mich hingesetzt und hab Horrorromane geschrieben. Chris Colman, Universität des Grauens, das war der erste Band, mit zwölf geschrieben. Dann hab ich noch drei oder vier Bände danach geschrieben, bis ich etwa vierzehn/fünfzehn war.
KK Da kann man doch Gedichte draus machen.
FV Ja. Und darüber bin ich dann – das war dann so ein Freundeskreis, wir haben alle viel Groschenromane gelesen, hauptsächlich Horrorliteratur, dann auch andere Sachen, H. P. Lovecraft, sowas. Und darüber kamen wir dann, als die ersten Rollenspiele rauskamen, darauf, das war so 1981/82. Das haben wir sehr, sehr intensiv gemacht, auch so, dass wir auf Conventions gegangen sind, jaja, teilweise auch Ausrüstung hatten und uns verkleidet haben, was damals auch eher ungewöhnlich war. Ja, das war schon was, was mich beeinflusst hat, und interessanterweise hab ich dann aber, von diesen Horrorromanen abgesehen, parallel dazu aber auch Arno Schmidt und James Joyce gelesen, also ich hab zeitgleich irgendwie 1985 Conan der Barbar und Zettels Traum gelesen. So sah das aus.
KK (lacht) Passt ja auch zusammen.
FV Ja. Wobei Arno Schmidt schon was Trashiges hat, teilweise.


Florian Voß, 1988

Dungeons & Dragons für den Computer




KK Nein, nein – das ist eigentlich ganz gut, dass wir darüber reden, weil man merkt da die Kluft in Ihren eigenen Gedichten zwischen Aufbrechen der Sprache, das mal zu Joyce und Arno Schmidt, auch diese Geballtheit der Artistik, und andererseits den nicht ganz ernst zu nehmenden Mythen, die da immer wieder durchkommen …
FV Ja.
KK Die so ins Comic-hafte gehen. Aber da muss ich jetzt nachhaken, Sie haben da Hölderlins Avatar mal erwähnt und das Leben als Fernsehspiel und die Menschen wie Puppen – gut – wer dirigiert da? Ist da was, das da dirigiert, ich meine, ein Avatar ist ja eigentlich die Herabkunft, also heute ist es was Anderes, genau umgedreht, aber eigentlich ist es die Herabkunft von etwas Göttlichem, um hier was zu regulieren, wie Jesus Christus, sagen wir mal, oder Buddha, oder wer auch immer.
FV Naja, aber das ist doch, glaub ich, klar zu merken, dass in meinen Texten auch die Gottsuche immer wieder vorkommt, die ist zwar verhüllt. Und die ist vielleicht manchmal ein bisschen transformiert in was anderes, aber die Gottsuche beschäftigt mich schon sehr, ja, in meinem persönlichen Leben wie auch dann in meinem Schreiben. Das ist jetzt nicht so eins zu eins, weil mich das langweilen würde, ich möchte keine christliche Erbauungsliteratur schreiben, insbesondere weil ich kein Christ bin, ich bin ungetauft.
KK Hm.
FV Ich gehöre keiner Religion an, wobei ich am ehesten dem Protestantismus zuneige, weil ich einfach aus einer protestantischen Ecke komme, aus Niedersachsen. Aber nein, das Suchen nach dem Höheren, ja, ist schon immer wieder da und taucht dann eben im Text auf.
KK Da erklärt sich mir der Protestantismus, Luthers: „Nur das Wort! Nur das Wort!“, dass Sie das eben verbal in den Griff kriegen wollen – aufbrechen wollen. Ich bin ja auch Protestant, aber komm eher religionswissenschaftlich vom Buddhismus-Hinduismus, wo alles ein Teppich ist, eine Einheit, da haben wir ja sozusagen diese Fernsehspielwelt, nur eben als lebendige Stränge und aus Blut.
FV Nun, es ist einfach eine Frage von, sind die Dinge beseelt? Oder sind die Geister in die Maschinen gegangen, wie Derrida gesagt hat in den 80er Jahren. Es gibt so einzelne Sätze, die mich damals in den 80er Jahren sehr fasziniert und meinem Denken auch eine andere Richtung – andere Richtung ist übertrieben, aber einen Schlenker – gegeben haben: zum Beispiel eben die These, dass – wahrscheinlich gar nicht so ernst gemeint von Derrida – die Geister aus unsrer Wahrnehmung verschwunden sind und dann die Geister in die Maschinen hineingegangen sind. Das ist natürlich als Metapher von ihm gemeint worden, aber ich... mir kam es so reell vor, als könne man das wirklich so empfinden.
KK Na, die Hermetiker wie Roberto Calasso, sagen das ja im Grunde auch: dass das Opfer früher – die Maya etwa oder die Azteken – richtig brutal grob war, heute aber passiert es zufällig durch Maschinen-Unfälle, also es ist eigentlich noch brutaler.
FV Ja, das Opfer des Autoverkehrs, selbstverständlich, das hat ja was Altarhaftes, wenn auf den Autobahnen die Sachen zusammenkrachen, die Leichen rumliegen und alle ganz langsam mit ihren Autos da entlang prozessieren dann, als würden sie einer heiligen Handlung teilhaftig werden.
KK Opferungen gibt es also auch heute, nur nicht mehr so gesteuert, früher wurde es im Grunde auf brutale Weise, willkürlich teilweise, gesteuert und vollzogen, und damit war …
FV Ach, man kann das hier so sehen wie Artaud mit der selbstmörderischen Gesellschaft, dass eben die Selbstmörder dazu getrieben werden, sich als Opfer zu bringen, und sie durch die Gesellschaft dahingehend getrieben werden.
KK Und da, glaub ich, sind wir wieder bei Herrndorf. Das, glaub ich, ist der Grund, weshalb sein Tod so viele Lyriker bewegt hat, weil sie plötzlich merkten, man treibt, wird aber auch getrieben.
FV Also, ich glaube, was so bewegend ist, wenn man‘s ganz brutal herunterbricht bei Herrndorfs Arbeit und Struktur, dass das Ende vorgegeben war, es war allen klar, er wird in absehbarer Zeit sterben, es ist ein nicht gewinnbarer Kampf gewesen, und das hat ja eine Dramaturgie wie ein ganz dramatischer Roman, also ein Online-Tagebuch mit der Dramaturgie einer Tragödie.
KK Ja, wie’s endet, weiß ja jeder, in der griechischen Tragödie.


"Ich logierte gegenüber
der tristesten Pizzeria der Welt
in einem flachgedrückten Viertel
das die Nachkriegszeit
hervorgeträumt hat - schweißbedeckt
Die Menschen: freundliche Puppen
die ihre bunten Puppenmahlzeiten
in den Mägen verbergen
Das Fernsehprogramm läuft rund
um die Uhr am Flachbild-Himmel
Man sieht ein graues Fernsehspiel"

(Wohnungsauflösung, 1. Strophe. Datenschatten, Datenströme, Staub)

"Hölderlins Avatar springt
von Klippe zu Klippe
in  den Bildern Friedrich Schinkels
(ins Netz, ins Netz, ins Netz)
Sein Kopf ist gänzlich kahl
die Haut aus Pixeln das Land aus
Frühling Sommer Herbst und Winter
Kein Rauch zu sehen in den Wäldern
nur Jakob Lenz sitzt
an einer ausgebrannten Feuerstelle
die Festplatte ganz wundgeschlagen"

(Deutsche Romantik, 2. Strophe.
Datenschatten, Datenströme, Staub)

"Das stets erneuerte Gewebe der Korrespondenzen, die jedesmal der einzelnen Silbe, dem einzelnen Versmaß zugesprochenen Bedeutungen - sie alle gehören zu einem gewaltigen Versuch, den Faden an der winzigen Wunde zu flicken, die vom Wort herrührt, vom zur Beschwörung des Abwesenden das Anwesende auslöschenden Vorstellungsbild, vom Zeichen, also von allem Stellvertretenden, auf dem dann ein neuer Wunderbau entsteht, bei dem es sich umgekehrt verhält wie beim vedischen Opfer, das durch seine unaufhörliche Ausbreitung offenbar auf den neuen Bau vorausdeutet und ihn dabei noch verbergen will, bis der Zyklus ihn in seiner derzeitigen Gestalt in uns und in unserer Umgebung entstehen lässt.
Dass die Natur von Wiederkünften, von den Atemzügen der Zeit skandiert wird, bezeugt, dass sie ein Opfergegenstand ist. Die Welt ist ein Stück der Gottheit, das sie von sich abgetrennt und dem sie es überlassen hat, nicht mehr nach göttlichem Ermessen, sondern nach den eigenen Regeoln zu leben. Doch die unsichtbare Schnur zwischen Gottheit und Schöpfung ist nicht völllig durchschnitten, denn die Gottheit vermag sich ihre Welt stets wieder anzueignen und brutal einzugreifen: die Ordnung kann getilgt werden, die Wiederkehr der Sterne kann ausbleiben."

(Roberto Calasso: Der Untergang von Kasch. Elemente des Opfers, S. 166f. Frankfurt (Suhrkamp) 1997)

FV Aber mit einem Glioblastom ist irgendwie nach ein paar Jahren Schluss. Und er hat dann ja durchgehalten – die normale Erwartung ist ab Diagnose noch, glaub ich, acht Monate, und er hat das drei Jahre durchgehalten, bevor er sich erschossen hat.
KK Mit Willenssteuerung, das ist dieser Kampf um sozusagen das Bewusstsein, nicht, um die Bewusstseinssteuerung, wer ist hier Herr im Hause. Das ist, glaub ich, das wirklich Dramatische.
FV Und er ist ja harter Atheist gewesen, er ging davon aus, dass nichts kommt. Während ich, ich arbeite mich da an den Vorstellungen meines Vaters ab, der auch ein ganz harter Atheist war, der so aus dem Existentialismus kam, ein Kriegskind und Nachkriegskind, und der in der Hamburger Szene, der Jazzszene, aufgewachsen ist, die sehr existentialistisch war, sehr beeinflusst von Sartre, Camus, und der mir beigebracht hat, dass es keinen Gott gibt, und dass, wenn man stirbt, einfach das Licht ausgeht – er  war ja Schauspieler – dass der Vorhang fällt, der eiserne, und dann Schluss ist. Und das konnte ich nicht akzeptieren. Erstens mal, weil mir die Vorstellung nicht gefallen hat, vielleicht auch, weil ich eben durch etwas beseelt war, das mir gesagt hat, dass das nicht stimmen kann. Und zum zweiten auch durch eigene Überlegungen über die Jahre hinweg Ich halte dieses Modell, dass man denkt, vor der Geburt war endloses Nichts, und nach dem Tod ist auch wieder endloses Nichts, also als wäre man nicht mal ein Staubkorn, wäre ein nicht Fassbares im unendlichen Nichtsein - das kommt mir nicht harmonisch genug vor, um realistisch zu sein. Wenn ich mir die Verfasstheit des Universums anschaue, denk ich nicht, dass etwas so unharmonisch konzipiert ist, wie das sich die Atheisten von ihrem eigenen Leben vorstellen.

Reinhold Voß, der Vater, 1957

KK Ja, wir sind ja da – im Holozän und bei Benn, also, der war ja auch sarkastisch und hat ja gesagt im Grunde, das Holozän ist zu Ende, und damit wird der Mensch ausgestorben sein, da kommt nichts mehr nach, hat auch nichts gebracht, die menschliche Entwicklung.
FV Ja, der Nihilismus der 40er und eben dann noch der 50er Jahre, woraus dann ja der Existentialismus entstanden ist – dieses nihilistische Zeitalter, ich weiß nicht, ob das wirklich noch trägt, mir kommt das sehr historisch mittlerweile vor. Interessanterweise: ich hab ja die 70er Jahre, gerade die 70er, als Nachkriegszeit empfunden. Das war noch sehr nachkriegshaft, gerade in der Provinz in Norddeutschland. Erst richtig, sagen wir mal, ein bisschen internationaler und ein bisschen, wie soll ich sagen, weltoffener und auch weltzugewandter wurde es interessanterweise ab dieser großen Wende, die mit Reagan, Thatcher und Kohl begann. Das hatte mit denen wenig zu tun, aber es änderte sich doch da schon sehr etwas. Aber ich muss sagen: gerade so. Als ich angefangen habe Gedichte zu lesen, und dann natürlich auch Gottfried Benn, in den 80er Jahren, kam mir das noch viel einsichtiger und viel naher vor, es war ja auch nah. Gottfried Benn ist 1956 gestorben – das war ja zu 1981 gerademal 25 Jahre her, als ich Benn anfing zu lesen. Und von den frühen 80ern bis jetzt sind auch schon wieder 30 Jahre vergangen. Also der Bezug, glaub ich, zu den 50er Jahren war in den 80er Jahren noch viel größer, die Zeit war noch so ein bisschen rangeklebt, das hat man ja auch bei den Revivals gesehen, es gab ja auch 50er-Jahre-Revivals in den 80ern. Und jetzt ist der Abstand schon so groß, das ist jetzt schon 60 Jahre her. Ich les das noch immer gerne, aber die Haltung hat nichts mehr mit meinem eigenen Leben zu tun, im Jahre 2013.
KK Jaja, aber der Spott, was bei Ihnen, sagen wir mal, parallel läuft zur Wortsuche, zur Artistik, und der hatte ebenfalls Spott, also wenn er sagt: „Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück“.
FV Genau. Und das stimmt ja auch. (lacht).

KK (lacht) Im Herzen war mein Panic-Room / Lasst mich doch sein ein großer Werbespot / damit ich mich erkennen kann – das ist nicht so weit entfernt.
FV Keine Frage. Ich meine, Benn ist letztendlich auch ganz zum Schluss ein Revolutionär gewesen, gerade seine Gedichte im Freivers, die mit den Alltäglichkeiten operieren: wenn er im Café sitzt und den Spiegel liest und die Juno raucht, im Spiegel liest er über die UNO und raucht dabei die Juno. Das sind Sachen, die fast postmodern sind. Das ist von der Haltung eigentlich schon R. D. Brinkmann.
KK Ja. Geht in die Richtung.
FV Das ist auch das, was mich heutzutage an Benn am meisten fasziniert. Dieser Link zur Postmoderne, den er doch schon hat in seinen späten Sachen.
KK Jaja – in jedem Fall. Er schließt die Moderne ab, nicht? Die klassische Moderne.
FV Ja.
KK Elektro-Psalter, ja, das ist schon klar, aber ich bohre immer wieder an diesem Punkt rum, wo alles so mechanisch wie in Welt am Draht durch die Elektronik ist, wer steuert sie? Steuert sie sich selber? Oder?
FV Das ist die Frage, das ist die große Suche, das ist die Quest, die Aventüre, das zu finden. Oder darüber nachzudenken.
KK Vor dem neuen Band hätte ich gedacht: Florian Voß, ein Neo-Existentialist. Formal würd ich dem zustimmen, also nach wie vor, obwohl sich da irgendwas geändert hat jetzt mit In Flip-Flops nach Armageddon, glaub ich. „Du sollst sie werfen / in die Unverständlichkeit / der äußeren Welt / Die innere ist schon / ganz angefüllt mit Sand“ – das ist einerseits so ein bisschen dem Wahnsinn nahe wie beim Lenz von Büchner, aber geht auch grad dadurch, dass die religiöse Suche nie ganz fehlt, in so einen Existentialismus von Camus/Sartre in meinen Augen.
FV Ja. Natürlich. Camus hat mich stark beeinflusst. Ich glaube, einer der größten Romane, die ich in meinem Leben nach wie vor gelesen habe, ist Der Fremde. Der gehört bestimmt zu den zehn besten Romanen, die ich in meinem Leben gelesen habe, und ich hab sehr viele Romane gelesen. Sowohl von der Parabel, als auch der Stimmung, als auch, wie’s gearbeitet ist. Wenn man’s dann zum fünften/sechsten Mal liest, sieht man natürlich sehr drauf, wie’s gearbeitet ist, und es ist unfassbar gut geschrieben. Eben ganz einfach, ganz reduziert, aber mit so einer Hinleitung, dem Leser werden ja sozusagen die Gefühle aufgezwungen, ohne dass er das merkt. Das ist ganz toll gemacht. Aber diese Haltung, ob die Welt Sinnhaftigkeit hat, oder ob sie völlig sinnentleert ist und man deswegen sozusagen in der Sonne leben soll, auch mit Revolver, oder ohne, das ist eine große Frage, die mich sehr beschäftigt.
KK Ja, das ist die existentielle Frage.
FV Genau.
KK Wieweit darf ich eingreifen, will ich eingreifen, muss ich eingreifen.
FV Wobei ich nicht glaube, dass wir sozusagen determiniert sind von unseren Hormonen, Genen und Reflexen. Also ich glaube an... an den freien Willen.
KK Jaja. Aber da sind wir jetzt beim Ursprung der Moderne, wenn man so will. Rimbaud sagt, das Ich ist ein Anderes – das Selbst muss erst gefunden werden, und das ist eigentlich die lyrische Arbeit. Mallarmé geht ja noch einen Schritt weiter, der sagt, hier sind wir die Marionetten, die gewürfelt werden, also vom Schicksal her, vom Leben, und irgendwo oben – er war ja Esoteriker – ist unser höheres Selbst, das uns steuert. Das macht sich den Spaß, uns auch leiden zu lassen. Und würfelt rum.

Betrachtungen im Holozän

Die Zigarette ins Sauriergebiss geklemmt
schärfe ich mit dem Buttermesser
meine Eidechsenkrallen
herübergerettet aus dem Mesozoikum

Die Leuchtschrift auf den Häusern
blinkt Trias, Jura, Kreide
blinkt Trias, Jura, Kreide

Roter Ocker auf den Beinen
Weiße Asche auf der Stirn

Die trüben Affenaugen brachte ich
ins Holozän, und sah mit ihnen
den Rauch der Zigarette kräuseln
in Schlangenpfaden hin zur Decke

Die Regentropfen schlagen
auf das Fensterbrett den Rhythmus
Plio - Pleisto - Holozän
Plio - Pleisto - Holozän

(Das Rauschen am Ende des Farbfilms, S.34)

Eure Etüden

Eure Etüden,
Arpeggios, Dankchoral
sind zum Ermüden
und bleiben rein lokal.

Das Krächzen der Raben
ist auch ein Stück -
dumm sein und Arbeit haben:
das ist das Glück.

Gottfried Benn, Strophe 1 & 2., 1955

Elektro-Psalter

Hinter der Windows-Oberfläche
liegt die wirkliche Welt
ein Affengesicht auf die richtigen Tasten
und sie poppt auf in strahlendem Silber
nur verstehbar mit einem Silizium-Gehirn
Der Mahlstrom der Pixel
formatiert jetzt in dein Motherboard
Auf der Bildschirmverschalung
steht mit Graphitstift gekritzelt:
Dein Reich komme. Bald.

(Aus: Datenschatten, Datenströme, Staub)

Sand

Draußen im Dunkeln
der städtischen Gärten
gräbt sich das Bogenlicht
in die Erde hinein
Draußen im Dunkeln
fliegen die Steine
in meine Hand
Geschrieben steht:
Du sollst sie werfen
in die Unverständlichkeit
der äußeren Welt
Die innere ist schon
ganz angefüllt mit Sand

(Aus: Datenschatten, Datenströme, Staub)

FV Auch das ist ein Einfluss aus meiner Familie. Ich habe eine sehr, sagen wir mal, von den Weltanschauungen, sehr disparate Familie gehabt: mein Vater ein harter Atheist und Existentialist, Schauspieler und Regisseur von Beruf. Meine Mutter war Balletttänzerin, später dann Putzfrau, als sie nicht mehr tanzen konnte, ihr sind die Knie kaputt gegangen, und dann bekam sie eben auch Kinder, unter anderem mich. Dann hat sie das aufgegeben. Deren Vater, dieser Großvater, der mir sehr wichtig war, ist Anthroposoph gewesen, und dessen Vater, also mein Urgroßvater, der Kunstmaler war, ebenfalls. Er war sogar noch Theosoph und ist dann in die Anthroposophische Gesellschaft gegangen, als sie gegründet worden ist von Rudolf Steiner. Der ist auch befreundet gewesen mit Rudolf Steiner. Deswegen hat die Anthroposophie in meiner Familie immer eine große Rolle gespielt. Ich selbst bin kein Anthroposoph, weit davon entfernt, ich halte mittlerweile nicht mehr allzu viel von dieser esoterischen oder auch dieser weltanschaulichen Richtung.
KK Ist ja jetzt mehr so eine Ökorichtung geworden.
FV Ja – das ist different. Also es gibt da schon auch noch einen inneren Kreis, einen esoterischen inneren Nukleus.
KK Das ist dann Theosophie im weitesten Sinne?
FV Genau. Und der gehörte mein Großvater zum Beispiel an. Also da wurde dann auch schon über Ahriman und Lucifer gesprochen und Christus und so weiter.
KK Da sind Sie zu protestantisch geprägt.
FV Ja, das ist schon eine andere Haltung. Wobei mein Großvater – die mütterliche Familie kommt aus Holland, ich bin halber Holländer.
KK Sind ja auch alles Protestanten.

FV Genau. Calvinisten sogar eher.

KK Aber diese gnostische Richtung, die eben zu Ihnen letztlich nicht passt, Ahriman, und dass der Herrscher der Erde, der Welt, ein Schwachsinniger ist, oder ein Teufel, oder eben ein …
FV Ein Demiurg.
KK Und der Demiurg nicht der höchste Gott ist, das ist ja alles aus der Spätantike.
FV Das find ich einen relativ bestechenden Gedanken, ehrlich gesagt, nach Auschwitz … es gibt nach Auschwitz zwei Auswege aus dem Atheismus, das ist die Vorstellung des Demiurgs, und das ist die Vorstellung, dass Gott uns den freien Willen unter allen Umständen gegeben hat. Ich ziehe persönlich die zweite vor.
KK Das neue Buch hat ja etwas, wie soll ich sagen, ja, ich merke zwei Stile, es ist der alte Stil da, die Artistik, auch der Kampf mit den Worten, das Aufbrechen der Worte, das Spielerische. Und dann schleicht sehr plötzlich wie in aufgebrochenen Löcher was ganz Neues, Gott hat schlecht gekocht heut Abend, so, oder ich rieche Menschenfleisch, auch die Nacht, die Mutter Nacht, das geht schon fast... und der Sänger plötzlich... in eine orphische Richtung. Auch bei den Fotos, die Sie machen, diese Morgenröte, die da aufkommt, Sie empfinden da plötzlich etwas Neues, irgendwie eine Wandlung. Die schlüpft oder kriecht in die Worte, die Worte haben nicht nur eine mentale, intellektuelle Bedeutung plötzlich …
FV Aber eine mythische.

Jan Tielens, der Großvater, um 1975


Der Kopf Ahrimans nach einer Skulptur von
Rudolf Steiner.

William Blake: The Ancient of Days, 1794.

Zurück an meinem Küchenfenster
reib ich mir den dünnen Hals
und linse in den abgedimmten Abend
Staub und Geister-Häuser eingedrückt
in eine dicke, warme Suppe
Gott hat schlecht gekocht heut Abend
Aus jedem Kanaldeckel dampft
das Lotsen-Feuer des Hades, des Orkos
Gulaschkanonen mit Geschmacksverstärkern
Es riecht so gut, wenn in der Unterwelt die Jahresfeier ist
„Ich rieche, rieche Menschenfleisch“
so wird's im Walzertakt gesungen
dazu hallen aus den Kanaldeckeln die Geigen
arrangiert vom Herrn Rieu im zweiten Kreis der Hölle
Die Ränge sind noch nicht zur Gänze ausverkauft
Greifen sie zu, in der Festspielpause gibt es Häppchen














(Aus: Zerebraler Zerberus,
3. Teil des titelgebenden Zyklus,
S. 12, In Fliplops nach Armageddon)

KK Ja, aber nicht nur vom Kopf her, sondern plötzlich ist da in denen eine Kraft drin, ja. Teilweise wie bei großen Schriftstellern, also wirklich große Schriftsteller, bei denen ist das ja so. Ganz egal, wie sie es schaffen, da ist in den Wörtern was drin...
FV Ich bemüh mich.
KK Ja, wo kommt das her plötzlich? Ich glaube, aber das ist nur eine Vermutung, dass es daran liegt, dass Sie plötzlich ein Verantwortungsgefühl übernommen haben, ein bisschen weggegangen sind von der sarkastischen Beobachtung.
FV Ich glaube, das sind viele verschiedene Dinge. Erstens mal hat es mit Sicherheit etwas damit zu tun, dass meine Eltern gestorben sind, und ich auch Vater geworden bin. Das ist alles in einer Zeitperiode passiert. Ich bin jetzt die älteste Generation, ich bin der nächste, der abtritt, wenn es den Lauf der Dinge nimmt, der hier der gewöhnliche ist. Und das macht viel aus. Zudem würde ich nicht den denkerischen Prozess unterschätzen, der natürlich immer weiter läuft durch das Leben, und das häuft einfach Erfahrung und Denkpfade an, die man nehmen kann, die Pfade werden mehr, die Ebene erweitert sich, der Horizont erweitert sich. Mit zunehmendem Alter und Nachdenken, weniger eigentlich mit den Erfahrungen, das wohl auch, aber ich glaube, die Erfahrung der Umwelt, die man in ihr macht und mit ihr macht, ist gar nicht so wesentlich, sondern dass was wirklich in dem eigenen Kopf geschieht. Was man aus den Grundvoraussetzungen und aus dem, was man aus den Grundvoraussetzungen gelernt hat und was man noch lernt... daraus zusammenbastelt. Und ich ziehe mich mehr in mich selbst zurück. Gehe auch nicht mehr so viel nach außen. Bin zum Beispiel lang nicht mehr so viel unterwegs im Nachtleben wie früher. Schon auch noch mehr als der Durchschnittsbürger (lacht), denk ich, aber früher war ich jede Nacht aus, bis jeden Morgen um vier/fünf. Und da hab ich mich durch die Nacht treiben lassen, und das mach ich nicht mehr so, erstens Mal weil ich ein Kind habe, das würde gar nicht mehr gehen, aber auch weil mir das Bedürfnis fehlt, ich hab zum Beispiel früher viel in Kneipen geschrieben, also ich hab ganze Theaterstücke am Tresen geschrieben. Mit einem Trubel um mich herum, ich konnte das komplett wegschalten – jetzt sitz ich hinten in meiner Kammer, auf meinen 3½ Quadratmetern, in der Nacht, mit Jalousien runter, und da ist Totenstille, und ich hör da nix von der Welt, und das brauch ich mittlerweile auch. Es geht eben nach innen.

KK Und die Comics, das Comic-artige der Mythen ist so eine Art Romantik, kann man das sagen? Da bricht sich ja irgendwo was.
FV Romantiker bin ich schon immer gewesen.
KK Ja, aber nur ein versteckter.
FV Ja, natürlich. Man kann mir jetzt nicht mit der Blauen Blume kommen. Das wär ja ein bisschen merkwürdig. Ich mein, es gibt genug... ich bin eben auch Herausgeber und Lektor von der Lyrikedition... Sie glauben nicht, wie viele Manuskripte ich bekomme, wo dann die sogenannte Blaue Blume in gewisser Weise noch drin ist, und da rollt‘s einem ja die Fußnägel hoch.



Florian Voß: Nacht vom 28.08.2013


Foto: © Hans Praefke

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