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Zsuzsanna Gahse: Siebenundsiebzig Geschwister

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Jan Kuhlbrodt


Siebenundsiebzig Geschwister

zum neuen Buch von Zsuzsanna Gahse



Ich neige zur Lektüre von Hybridtexten, Texten also, die sich einer genremäßigen Zuschreibung entziehen, beziehungsweise die Grenzen des zugeschriebenen Genres immer wieder und mit Lust überschreiten. Wahrscheinlich ist eine frühe Novalis- oder Schlegellektüre dafür verantwortlich, oder aber eine Art aufmüpfiger Drang zur Disziplinlosigkeit. Allerdings scheint mir die Maxime, dass das Genre dort, wo es zum Käfig wird, zu verlassen sei, naheliegend, einleuchtend, geradezu zwingend.

Das erste Buch, das ich von Zuzsanna Gahse las, hieß: Instabile Texte. Allein der Titel war mir Verheißung und der Inhalt hielt, was der Titel verhieß. Changierend zwischen den Genres sind die Texte und in der Überwindung der Identität ihre Identität findend. Eine zauberhafte Art der Befreiung. Seitdem bin ich, ja, man kann es so sagen, ein Gahsefan.


Jetzt also ist im Verlag Korrespondenzen ein neuer Band der Autorin erschienen. Siebenundsiebzig Geschwister. Die Zahl siebenundsiebzig folgt eher dem Sprachklang als der von Gahse angestrebten Anzahl. Die Kapitel sind demzufolge auch nicht numerisch geordnet, sondern mit Buchstabenfolgen über-schrieben. CGGA zum Beispiel, oder ATGC. Der Sinn dieser Folgen wird am Ende des Bandes erklärt, und auch hier findet sich, soviel sei verraten, ein lustvolles Spiel von Identifikation und Abweichung, was den ganzen Band auszeichnet.


Für die Genbank habe ich
vor Ort Stimmen gesammelt.
Jeder und jede konnte sie
abgeben, die eigene
Stimme, wie man an
manchen Orten Babys
an Klappfenstern abgibt.


Konstellationen, verwandtschaftlicher Art, wobei die Verwandtschaft auch in Adoptionen begründet sein kann, was das Zahlenspiel gehörig durcheinander wirft. Familien und Familien-ähnlichkeit. Zählungen die sich auf eine Anzahl nicht einigen können, nicht festlegen lassen.

Was passiert, wenn jemand
Psychologen weniger traut
als Neurologen und dieses
Misstrauen genetisch oder
nicht genetisch bedingt ist?


Irgendwo im Text stoße ich auf das Wort Epithese.
Im Gegensatz zu Prothesen dienen Epithesen dem optisch-kosmetischen und nicht dem funktionalen Ausgleich eines körperlichen Defizits. Allerdings, und das muss man einschränkend sagen, ist der optische Ausgleich unter Umständen auch funktional. Die Passage lautet folgen-dermaßen:


Krebs in den Augen.
Hat in der Nase seinen
Anfang genommen,
stieg weiter hinauf,
dann wurde das Auge
entfernt, nachher durch
die Kunst der Epithese
halbwegs wiederhergestellt.


Das fiel mir besonders auf, weil mein Vater, der Augenoptiker ist, und eine doch künstlerische Veranlagung hat, als ich Kind war, Epithesen fertigte. Künstliche Augen, Ohren, Nasenflügel etc. die mit einem Brillengestell verbunden wurden, und dem Brillenträger fehlende Gesichtsteile ersetzten.

Wie oben angemerkt zittert der Text zwischen den Genres: Lyrik, Prosa, Essay:
„Die Vielfalt im Rokoko hatte diesbezüglich vielleicht schon etwas Treffendes im Hinterkopf, vielleicht lachten sie unter ihren üppigen hohen Perücken über die Unzahl von Möglichkeiten.“ Dieser Satz findet sich im Kapitel AACC, also gegen Ende des Buches.



Zsuzsanna Gahse: Siebenundsiebzig Geschwister. Wien (Edition Korrespondenzen) 2017. 176 Seiten. 20,00 Euro.

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