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Zofia Baldyga: Drei Gedichte

Gedichte > Lyrik heute

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Foto: Jan M. Heller
Zofia Bałdyga

Drei Gedichte
Aus dem Polnischen von Patrik Valouch


Die Rechte der Patientin
(Prawa pacjentki)

1.
Viel wird über das Frausein geredet, bevorzugt mit einer tiefen Männerstimme.
Schließlich war jeder irgendwann einmal ein kleines Mädchen.
Die Stimme in den Hosenträgern stößt die fremde Hand weg, das Handgelenk sieht leicht verrenkt aus.

Denken Sie, der Herr, etwa an eine Wanne voller purpurnem Blutgerinnsel?
Oder vielleicht an einen engen Steg über einem reißenden Fluss?


Touristen gehen dorthin, um eine verlassene Geburtsklinik zu fotografieren. Das Leben in dieser Gegend ist eher eine Evakuation als urbex, in mir lebt ein markierter Wanderweg, Moos überwuchert kubistische Brücken. Geburt ist überhaupt kein Anfang.

Vorstädte streifen um mich herum, demonstrieren für den Schutz meiner inneren Organe. Trotz der unglücklichen Stellung bleiben sie weltoffen.
Pantoffeln übernehmen die Führung.

Komponier dazu eine Melodie, am besten eine tonale. Sie kann sogar befleckt sein, Fräulein, bei uns setzt man auf Rhythmus.



Alle Jahreszeiten auf einmal
(wszystkie pory roku na raz)

1.
Die Prognosen direkt mitten in der Zeile festhalten wie Grenzübergänge.
Der Himmel über ihnen ist höher. In der Nacht werden manche voneinander
träumen. Werden voneinander träumen und nicht viel wird von ihren zerronnenen
Spiegelbildern übrigbleiben. Sie massieren sie in den trockenen Boden ein.
Die Jahreszeiten drängen sich unter das Dach, vergessen auf Distanz.
Auf Übergangsrituale. Sie gehen alle auf einmal los. Durch die Vordertür.
Sie lehren den Kindern die Monate zu benennen, die Verluste zu zählen.

2.
Bei diesem Spiel darf gesprochen werden, aber es ist verboten die Hände des Sprechers zu berühren.
Zustimmung reicht nicht. Auf der Hand des Sprechers gibt es bereits Notizen, gibt es Beweise.
Auf der Hand des Sprechers liegt ein Goldfisch. Beweise werden nicht berührt.
Die Oberfläche fließt über, Feuer kann sie nicht löschen. Niemand glaubt mehr dem Wetter.
Niemand glaubt ans Wetter, niemand glaubt an die Landschaft.



Rauschen im Mund
(szum w ustach)

Ein weinendes Kind trägt eine volle Hand Pech, im Rucksack ein Futterhäuschen.
Die Leere vor uns nimmt resolute Formen an. Wer stärker liebt,
passt die Schärfe an. Wir nähern uns einander an, aber vorsichtig, vorsichtig,
damit wir ohne Opfer auskommen, ohne Gewebe, das an einem Härchen hängt.
Im Park umarmen Mädchen Jungs. Überraschte
Tiere gucken bloß zu. Tauschen untereinander Farben.
Der Erste-Hilfe-Kurs kann jeden Augenblick beginnen,
obwohl meine Hände eine brennende Kerze umklammern.
Auch für die Lichtquellen sind wir eine Existenzbedrohung.
Du standst heute im Dunkeln auf, im Dunkeln kam ich aus der Arbeit.
Wir gehen mit erhobenen Köpfen im Kreis.
Der Kreis öffnet sich nicht, und durch unsere Stadt
fließt kein einziger Fluss, außer dem,
der mir auf der Zunge keimt.


Zofia Bałdyga (*1987), eine sowohl auf Polnisch als auch auf Tschechisch schreibende Dichterin, die sich in ihrem lyrischen Schaffen mit den Fragen nach Heimat(losigkeit), Entwurzelung, transitorisch-temporären Räumen des Selbst und des Fremden sowie der Erzählbarkeit und Versprachlichung polymigrantischer Schicksäle beschäftigt. Die vorlie-genden Gedichte stammen aus dem bislang letzten polnischen Lyrikband Klimat kontynentalny („Kontinentalklima“, 2021).
Der Übersetzer dankt herzlich Agata Gad und Marcelina Jaźwa für wertvolle Hinweise und für die kritische Durchsicht.

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