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Zeppelin poético

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ZEPPELIN poético – junge brasilianische Lyrik. Ein Abend mit Ricardo Domeneck, Érica Zíngano und Odile Kennel am 15. Oktober 2013 im Lyrik Kabinett, Amalienstraße 83a, 20.00 Uhr.




Post Camões

Wie magisch darf Realismus sein“, fragte die FAZ am 5. Oktober, als Brasilien das Gastland der Buchmesse war. Und dann: Von den sechzig lieferbaren Titeln aus Brasilien stamme die Hälfte von Paulo Coelho.

Als ob sie darauf eine Antwort geben wollte, las die ins Lyrik Kabinett geladene Érica Zíngano gleich aus ihrem Gedichtzyklus über bedeutende Dichter für Brasilien ein Spottgedicht, das dem portugiesischen Nationaldichter Luís Vaz de Camões¹ den Preis für den einflussreichsten Dichter im Guinnessbuch-der-Rekorde zugestand und nicht Paulo Coelho. Obwohl Camões Portugiese war und Coelho, wie sie betonte, als Brasilianer der meistübersetzte Autor der Welt sei.


Érica Zíngano


Zíngano, 1980 im brasilianischen Fortaleza geboren, arbeitet in Lissabon an ihrer Doktorarbeit über die portugiesische Autorin Maria Gabriela Llansol. In der eigenen Lyrik, aber auch in ihren visuellen Projekten, setzt sich die Multimedia-Künstlerin mit dem Verhältnis von Sprache und Raum auseinander. So war schon ein erstes Hineinhören in die klangliche Welt portugiesisch-sprachiger Dichtkunst – für sich genommen – ein lautpoetischer Hörgenuss. Selbst das scheinbar Alltägliche bekam eine Rhythmik, die Spannung erzeugte: „Die Konservativen sollten mal was Nützliches tun“, hieß es im Zyklus um den einäugigen Camões, dem letztlich der Weltrekord im Guinnessbuch zustehe als portugiesisch/brasilianischer Dichter, immer wieder und immer noch, vor allen anderen.

Danach war Ricardo Domeneck an der Reihe, 1977 in Sao Paulo geboren, in Berlin lebend, Performer, Übersetzer u.a. von Hans Arp, und wie Zingano Videokünstler:

Hoch lebe die reine Poesie

Hör zu, wir blassen Poeten
bewegen uns heute
zwischen Pflanzen mit genau
erfasstem Namen
den wir aber nicht kennen
und so verwechseln wir häufig
Vergiss-mein-nicht mit Männertreu
Halten Ringelblumen für Ranunkeln
Pflücken nicht selten
Bitterwurz statt Balsamkraut.
  
                   (Ausschnitt aus Ricardo Domeneck: Körper: Ein Handbuch, S. 13.)

Ricardo Domeneck


Unterschiedlicher kann Dichtung inhaltlich nicht sein: Wo Érica Zíngano in kurzen aperçuhaften Prosagedichten Reflexionen über das Alltägliche aber auch die Literaturwelt mimetisch antäuschte, kreiste Ricardo Domeneck in seiner Dichtung in zyklischen, sprachstarken Versen um die körperliche Liebe von Mann zu Mann. Und das teilweise in sehr deutlicher Sprache, was im noch recht traditionellen Brasilien mit etlichen Tabus brechen und einige Sprengkraft haben dürfte.

Domeneck sei melodramatisch mit humorvollem bzw. ironischem Unterton, bestätigte die Moderatorin Luísa Costa Hölzl. In Brasilien seien bereits fünf Lyrikbände von ihm erschienen. Dieses Jahr nun der Band „Körper: Ein Handbuch“ im Verlagshaus J. Frank: Gedichte aus allen fünf Bänden ins Deutsche übertragen, aber auch bisher Unveröffentlichtes.

Nun war der dritte Gast gefordert – die Dichterin und Übersetzerin Odile Kennel, die zuvor schon die deutschen Fassungen der Gedichte vorgelesen hatte, demonstrierte in einem Werkstattgespräch die Schwierigkeiten der Übertragung aus dem Portugiesischen ins Deutsche. Kennel zeigte anschaulich, dass Übersetzen von Lyrik in der Regel auf eine Neuschöpfung hinauslaufe, auf eine Nachdichtung; so sei im Portugiesischen allein schon eine gewisse Annäherung zum Deutschen hin schwierig.² Es sei immer eine Gratwanderung zwischen dem tradutor (Übersetzer) und dem traitor (Verräter), ergänzte Domeneck. Und Odile Kennel führte an, sie beide hätten lange über das Konzept gesprochen und sich über die Texte auch am heimischen Küchentisch in Berlin Stück für Stück ausgetauscht.

Odile Kennel


Im zweiten Teil las Érica Zíngano aus ihrer ersten deutschen Veröffentlichung, „Ich weiß nicht warum. Zeichnungen und Texte für Unica Zürn“, gerade erschienen bei Hochroth Berlin, ebenfalls übersetzt von Odile Kennel. Ein Beamer projizierte die mit spitzer Feder in Form graziler Zeichnungen illustrierten Zingano-Gedichte, weitestgehend nur aus einem Vers bestehend, auf die Leinwand:


mein mund denkt / mehr als ich.“

ich arbeite gern im dunkeln.“

Die "ich arbeite gern im dunkeln"-Seite des Hochroth-Buchs.

Zum Schluss

„eine grüne zahnbürste
wieder für ihn

wind rühre an, aber zürne nie dingen.
werde zehn sterne, wende sie heiter.
wenn ferne riesen ragen, reise ins ried.
ein geist trieb zwinger ins rasen. wehe!
er aber weidet nah den herden. zünftige
greise greinen. sieben bienensind rüde
für beide züge. ein zeisig wird’s zeigen.
wüste sinne sieden, na, reite weiter.

ABDEFGHINRSTWZÜ“
                     
                            (Érica Zíngano: Ich weiß nicht warum.)

Den Abend beendete Ricardo Domeneck mit weiteren Körper-Gedichten. Diesmal las er sie selbst auf Deutsch, was dem Gehörten durch seinen charmanten Akzent eine neue Komponente verlieh.

Ebenfalls projiziert kamen nun Videosequenzen von Domeneck zur Geltung: Nackte Oberkörper von leicht bekleideten Jünglingen, im Zimmer am, auf dem und im Bett. Männlich, leicht berauscht, vielleicht nur sehnsuchtsvoll, wie seinerzeit Joe Dallesandro bei Warhol, vielleicht ein bisschen introvertierter – doch der amerikanische Einfluss war nicht zu verkennen: „übertriebene Schönheit gehört verboten“, hieß es dazu im Text. Hier der Anfang von dem


Text, in dem der Dichter den Liebhaber feiert, der fünfundzwanzig wird

Es gab
schon Kriege, die länger währten
als du.
Ich gratuliere dir heute zur erfolg-
reichen
Überschreitung der Lebens-
erwartung
einer Giraffe oder Fledermaus
Abgott-
Schlange, betagten Kuh oder Eule.
                         
                        (Ausschnitt aus Ricardo Domeneck: Körper: Ein Handbuch, S. 88)

Standbild vom Video


So standen sich auf der einen Seite anspielungsreiche abstrakte Reflexionen und Poetologisches (teils auch sehr humorvoll dekonstruiert), auf der anderen Seite der nackte Ernst der körperlichen Hingabe, stark, poetisch, sinnenreich, gegenüber – und Zuhörern, die des Portugiesischen nicht mächtig waren, wurde einmal mehr klar: Auch das rein Klangliche ist „schon“ Poesie.


Kristian Kühn/Armin Steigenberger


¹ Luís Vaz de Camões, 1523/4 geboren, entstammte niederem Adel. Als Geburtsort wird oftmals Coimbra oder Lissabon genannt. Eine Geburtsurkunde existiert nicht. Camões konnte so ziemlich alle Register der Poesie ziehen, vom volkstümlichen Ton bis zum elegisch tragischen. Er beherrschte sowohl die Mythologie und Philosophie, als auch den Kneipenton. Dann aber, wegen seiner Liebe zu einer Hofdame der Königin Katharina und anderer Unvorsichtigkeiten, wurde er zum Kriegsdienst nach Afrika verbannt und verlor dort ein Auge.
Deutsche Romantiker lernten Portugiesisch, um Camões im Original zu lesen. Friedrich Schlegel rühmte 1803 Camões‘ Versepos Die Lusiaden als „das einzige heroische Nationalgedicht, was die Neueren aufzuweisen haben“, und stellte ihn in eine Reihe mit Homer, Vergil und Dante. Und als Fernando Pessoa 1917 in seinem Poem Ultimatum alle Ikonen der Kultur demontierte und alles verachtete, „was weniger ist als die Entdeckung einer neuen Welt“, prophezeite er einen kommenden „Super-Camões“.
²Das Portugiesische ist weich und unbestimmt“, schreibt Reinhold Schneider in seinem Camões-Buch; „es ist so von Gefühl gesättigt, dass es fast seinen Rhythmus verliert; es ist die Sprache der Apostrophe, Verkürzungen und Verschmelzungen, des Vermischens und Hinüberfließens; zusammengezogen von einem gleichsam unterirdischen Temperament, das ganze Silben des lateinischen Stammes unbedenklich überspringt und im Tone noch überhastet, was in der Schrift stehen blieb, eilt es doch nur, um zu vergehen und zu verströmen.“


Ricardo Domeneck: Körper: Ein Handbuch. Portug./dt. Übers. Odile Kennel. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2013. 240 S., 16,90 Euro.
Érica Zíngano: Ich weiß nicht warum. Zeichnungen und Texte für Unica Zürn. Berlin (Hochroth) 2013. 38 S.. 6 Euro.


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