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Zang Di: Gesellschaft für Flugversuche

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Timo Brandt

Zang Di: Gesellschaft für Flugversuche. Gedichte. München (Carl Hanser Verlag) 2019. 104 Seiten. 19,00 Euro.

„Gesellschaft für die Erfassung der Realität unter Berücksichtigung der Umstände“


„Wenn jemand stirbt, fliegen die Vögel weiter.
Ich beobachte diese Szene.
Wenn die Szene vorbei ist, fliegen die Vögel immer noch.
Um Dinge dieser Art werde ich mich kümmern.“

Ein Rezensent wie ich spürt, wie überflüssig er ist, wenn das Buch, das er bespricht, ein Vorwort enthält, das in Umfang und Inhalt wunderbar zur Rezension taugen würde. In „Gesellschaft für Flugversuche“ gibt es so ein hervorragendes Vorwort, geschrieben von den Übersetzer*innen Lea Schneider und Dong Li, das auf anschauliche und gelungene Weise Aufschluss über die Motive, Ideen und sonstigen Besonderheiten von Zang Dis Gedichten gibt. Hinzu kommt noch ein Anmerkungsverzeichnis, das bei einigen Gedichten erweiterte Einblicke in die Hintergründe (und auch in Übersetzungsfragen) bietet.

In diesem Vorwort heißt es an einer Stelle:

„Zang Di ist ein Dichter, der sich mit großer sprachlicher Zärtlichkeit den kleinen, unspektakulären Dingen widmet; den Dingen, die man besonders leicht für selbstverständlich hält oder unbemerkt platttrampelt; die gerade deswegen ein »entschiedener Widerspruch gegen unsere Gleichgültigkeit« sind.“

In der Tat sind die Gedichte Zang Dis von dem behutsamen Umgang mit ihren kleinsten und gewöhnlichsten Motiven geprägt. Und obgleich sie sich nicht selten in weitergehende Zusammenhänge aufschwingen, ist da immer etwas in ihnen, das dieser Behutsamkeit verhaftet bleibt. Sie reicht so tief, dass man manchmal das Gefühl hat, die angestrebte Metapher oder Allegorie wird am Ende wieder aufgelöst, wieder abgelöst vom Gegenstand.

„In letzter Zeit träume ich oft, dass ich eine Pflanze bin
Winzige Wurzeln, wie scharfe Gedanken,
die sich weit in die Erde verzweigen;
sie finden Ritzen, wo Ritzen am unwahrscheinlichsten sind.
[…]
Schon aus einer einzigen Antwort kann das Blatt werden,
das man zeigt: Weißt du, ich träume so etwas
wirklich nicht nur für mich.“

Auch Zang Dis Titel haben oft eine besondere Beschaffenheit – eine ganze Reihe von ihnen trägt den Zusatz „Eine Einführung“ oder die Vorbemerkung „Aus der Reihe:“. Hier und da gleichen sie dann auch Versuchsanordnungen, werfen sich mit ihrer Sprache wie ein Licht auf eine noch unklare Szenerie.

„Wir sind jung – soll heißen: Wie Pflanzen in der Wüste,
empfänglich für die Lügen, die der Regen erzählt.
[…]
Wir aber sind so verständnislos, so schlecht darin
ein Gegenüber von seinem Aussehen
zu trennen – obwohl uns etwas trennt.
[…]
Zu viele Wahrheiten sind älter als wir.“

Teilweise wird die poetische Sprache dann aber auch zu einem komplexen Vexierspiel – einem neuen Bezugssystem, das sich selbst aus seinen eigenen Vorstellungen gebiert. Einfache Feststellungen und zunächst landläufig erscheinende poetische Folgerungs- und Fortbewegungs-muster verselbstständigen sich, schlagen Haken, gehen nicht den einfachen Weg des Bildbeweises, sondern akzentuieren scheinbar abseitige Elemente der Beobachtung/Überlegung, machen damit den Weg frei für einige ungeahnte Perspektiven und Differenzierungen.

„Wenn man wirklich hungrig ist, schmeckt das Brot der Zeit
nach einer großen Entfernung. Jeder Geschmack trägt Verantwortung.
Und danach ist das Wesentliche ein Phänomen des Wesentlichen,

das impliziert ist in uns. Oder zumindest involviert mit dir.“

„Jedes Wort ist ein Pferd.
[…]
Jeder Reiter ist eine Lackschicht, die von den Worten blättert:
der seine Bewegung trotz bescheidener Ursprünge
perfekt eingeübt hat und beherrscht:
Wenn er sich nach vorne lehnt, wirkt es, als sei er mehr
als ein Geist, der von der Weite zurückgeworfen wird.“

Obgleich es auch viel Schönes, Zärtliches zu entdecken gibt, liegt der Fokus vieler Gedichte doch (so scheint mir) darin, einer Wirklichkeit/einer Erscheinung im Gedicht eine erweiterte Form von Wahrnehmung abzutrotzen/angedeihen zu lassen. Das Gedicht wird zum Überbau des Tatsäch-lichen, zu seinem Nervensystem, seiner ausgeblendeten Geräuschkulisse, seiner ungeahnten Reflexfläche.

„Im Papier gibt es ein kleines Loch: das Gedicht.

Weil es dieses Luftloch gibt, kannst du weiter sehen als ich.
Mithilfe weit entfernter Dinge bleibst du den Widersprüchen um mich treu.“

„Selbst der Hase,
der keine Ahnung von unserer Weltanschauung hat,
vermacht seine kleinen Fußabdrücke eindeutig
der Ursprünglichkeit von Schnee.“

„Erstes Licht auf der Bergkette
gegenüber, eine zartblaue Zahnbürste,
die sachte die Zähne der Dämmerung putzt.“

„Mit dem Aufwachen ist es also für alle Ewigkeit so:
Das Fenster ist klein, geht aber weiter auf als die Tür.“

Das ist natürlich immer noch nicht alles, was sich zu den Gedichten sagen, an Vermutungen über sie anstellen ließe. Sie selbst geben sich ja wie Vermutungen und lassen doch mit ihren akribisch-fein herausgearbeiteten Nuancen so manchen Tatsachenbericht wie eine Vermutung erscheinen.

Was lässt sich sagen über das, was gehüllt ist in die Form der Nachricht, der Verlautbarung, der Tatsache, des Erlebnisses – kann man es enthüllen mit der Sprache des Gedichts? Kann man so hoch steigen, dass das Verhüllte im Umfeld von anderen Dingen wieder unverhüllt dasteht? Zang Dis Gedichte mögen sich den Anschein von Auszügen und Einführungen geben, aber sie sind von der ersten Zeile an schon sehr weit in ihre Materie vorgedrungen – recken sich von dort den Leser*innen Wort für Wort entgegen.

„Grasen auf dem Herzen, tagsüber
das weiche Fell zahm wie ein Blatt, das jeden, jeden Moment
vom Baum fallen kann; zahm wie sein Streicheln.
Morgentau. Ein erster vergeudeter Kuss. Nur der Ruf eines Rotkehlchens
dringt manchmal noch durch die Kurzfristigkeit der Liebe.“

„Und hierüber denken wir selten nach:
Sobald du anfängst, die Welt zu beobachten,
gibt es deutlich mehr als eine Welt,
die im Gegenzug dich beobachtet.“


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