Yu-Sheng Tsou: Meine alltäglichen Tassen und Schalen
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Yu-Sheng
Tsou
Meine alltäglichen Tassen und Schalen
Bevor
ich mein Zimmer verließ, hatte ich die Lichter ausgemacht.
Im
Dunkel flossen meine alltäglichen Tassen und Schalen aus.
Im Kurs für Allgemeine Psychologie bat
uns der Dozent, auf ein Blatt Papier einige Kreise zu zeichnen – aus dem Gedächtnis
und im Vertrauen auf das Muskelgefühl der Fingerspitzen –, um die Größe von Münzen
im Wert von NT$ 1, NT$ 5 und NT$ 10 zu schätzen. Nach einer Weile des Suchens
in meinem Geldbeutel und dem blinden Vertrauen, in meinem Rucksack an
irgendeiner Stelle auf eine NT$ 1-Münze zu stoßen (nach dem Prinzip der
Wert-kodierungsdichte sollten sich die NT$
1-Münzen
in einer natürlichen Weise über das gesamte Geldfeld verteilen, als
Markierungen der sich stetig ausdehnenden Kapitalgrenze), legte ich die Münzen
der drei Nominale jeweils auf den entsprechenden Kreis und bemerkte, dass sie
in meiner unzuverlässigen Erinnerung alle deutlich vergrößert worden waren.
Damals schien dieser Test nur als Einführung in das Kursthema zu dienen, uns an
die schmale Fuge zwischen Welt und Vorstellung heranzuführen – und anzudeuten,
wie die Naturwissenschaft nicht an dieser Fuge haltmache, sondern in der Lage
sei, in beiden Bereichen, dem der Welt wie dem der Vorstellung, allgemeine
Gesetzmäßigkeiten sichtbar zu machen: Jene Münzen, die täglich von einer Handfläche
in die andere wandern, verschwinden und in gleicher Gestalt wiederkehren,
hatten an diesem Tag im Geist jedes einzelnen anwesenden Kommilitonen ihre
jeweils vergrößerte Vorstellung.
Erst viele Jahre später wusste ich,
dass dieser wie ein Spiel wirkende Test tatsächlich auf eine psychologische
Studie von Bruner und Goodman aus dem Jahr 1947 zurückgeht. Sie fanden zudem
heraus, dass alle getesteten Kinder die Münzen geistig vergrößerten – Kinder
aus armen Familien jedoch dazu neigten, sie in der Zusammenarbeit von
Erinnerung und Vorstellung noch größer zu machen. Die Forscher vermuteten, dass
sie den gefühlten Wert in die Ausdehnung und in das Gewicht an ihren
Fingerspitzen verwandelten.
Wenn ich mit einer Gruppe gemeinsam
esse und mich unvermeidlich unbehaglich fühle, lasse ich meinen Blick sinken
und zeichne im Gedächtnis die Bahnen nach, die die Gegenstände auf dem Tisch
durch ihre Lageveränderung bilden: Messer, Gabeln, Salz- und Pfefferstreuer,
kleine Schälchen mit Soßen, Schälchen für Knochen oder Kerne und die allmählich
schwindenden Speisen – ihre letzten Spuren, ehe sie vor der Assimilation in den
verschiedenen Körpern
von uns verschwinden. Gegenstände werden von Hand zu Hand zu Hand zum Mund
bewegt; ihre Bewegungen antworten auf Dopamin, Acetylcholin, Serotonin und die
plötzlichen Blitze im
Gehirn, auf den Speichelfluss und den Lichteinfall auf eine ölige Schräge aus einem bestimmten Winkel,
auf Gier und das Verlangen nach Ruhe, die verlangen, dass sich Gegenstände
bewegen. In meinen Augen verdichten sich die Dinge zu Punkten und Zeichen, die
wie mit Schweifspur auf einem Webschiffchen befestigt, ein Gewebe entstehen
lassen.
Gewiss vergrößert in meinem Geist ist
ein Stapel Zwei-Euro-Münzen mit Dantes Gesicht. Jedes Mal, wenn etwas
Erinnerungswürdiges geschieht, durchsuche ich am Abend dieses Tages Taschen und
Geldbeutel, ob sich zufällig eine Dante-Münze findet, und wenn ja, stapel ich
sie als Erinnerungsstück zu einem kleinen Münzenstupa, auf die einzige
Tischfläche, die ich in dieser Stadt besitze. Auf diesem Tisch liegt ein
kleines dunkelblaues IKEA-Tischtuch, in dessen langen Fasern Krümel von Keksen,
Brot, Kaffeepulver
und Teeblättern
stecken. An diesem Rechteck esse und lese ich täglich, schreibe manchmal.
Die Grenzen dieses Rechtecks sind Tangentenlinien,
die all die Räume und Zeiten meiner Erinnerung berühren. Dieses Rechteck ist
begrenzt und zugleich erweitert. Sehe ich meinem täglichen Frühstück zu (fünf Löffel Haferflocken, gemischt mit sieben Löffeln Joghurt, dazu zwei Scheiben Brot und
ein Stück Käse),
bin ich mir manchmal sicher, dass ich eine Bühne ansehe – erhöht, platziert in einer Nacht, die auch im
hellen Tag beharrlich anwesend bleibt.
Der erste Gegenstand, den ich in
dieses Rechteck brachte, war eine schwarz glasierte Teeschale aus Taiwan. Als
ich sie in ein Kleidungsstück gewickelt ins Gepäck meiner ersten weiten Reise
legte, dachte ich an gelegentliche kleine Ausschweifungen (wenn es etwas zu
feiern gäbe, würde
ich mir eine kleine Dose echten Matcha gönnen)
und daran, wie sie mir die Erde der Heimat symbolisieren würde. Schwer in der
Hand; meine Fingerspitzen erinnern sich an jede vom Töpfer hinterlassene Unebenheit, an die
feinen Risse zwischen Glasurschichten, an die hohle Form der Blasen – aber noch
mehr an den mittleren Widerstand, den ich beim Abspülen auf ihrer Oberfläche spüre, und an den nächtlichen Himmel,
der aus dem Zusammenspiel von Teebelag und ursprünglicher Glasur entsteht, wenn
Wasser sie bedeckt. Als Gegenstand besitzt diese Schale eine absolute
Exklusivität: Betritt sie das dunkelblaue Rechteck, beansprucht sie den
Mittelpunkt und erlaubt nur die gleichzeitige Anwesenheit von Wasserkännchen,
Bambusbesen, Bambuslöffel
und Teedose – eine Konfiguration, die sich zwischen Pragmatismus und meiner
Vorstellung einer nie aus erster Hand erfahrenen Tradition ins Gleichgewicht
setzt.
Der zweite Gegenstand, der dieses
Rechteck betrat, war eine große Schale aus einem asiatischen Supermarkt – thailändische
Keramik in einem helleren Blau als das Tischtuch, mit Sprenkeln. Seitdem trägt
diese Schale täglich, was ich mit meinem Reiskocher produziere, mein tägliches Müsli,
das Nattō
mit Rucola und die verschiedenen Mischungen aus Eiweiß, Ballaststoff und Stärke.
Beim Essen gleitet der Löffel
manchmal zwischen den Speisen hindurch und stößt an die Innenwand – ein Ton,
weder hell noch dumpf, kurz: nicht störend.
Vielleicht ist es gerade dieser unaufdringliche Klang, der der Schale schon
lange den Mittelpunkt des dunkelblauen Rechtecks sichert.
Ein weißer flacher Teller begleitet
die Schale, oben links für
Salat
vor dem Hauptgang oder für Obst danach, oder als Bestandteil des täglichen Frühstücks für Brot und Käse.
Ein in Thailand gefertigter
Kaffeebecher – milchweißer Korpus, in sanften Linien zum Fuß hin verjüngt. Der
Henkel umfasst genau Zeige- und Mittelfinger, und die gleiche Weichheit der
Rundung fügt sich in den Zwischenraum von Daumen und Zeigefinger, sodass die
Muskulatur des Daumenballens das volle Gewicht des Bechers trägt – und ich das Projektionsbild dieses
Bechers in meinem Geist spüre. Eine dünne Glasur schützt das im Fließbandverfahren
aufgedruckte Muster, das angeblich abstrakt ein Grasbüschel zwischen Sommer und
Herbst darstellt – und so erhält das geistige Abbild noch genauere Konturen.
Ich bin mir sicher, vor diesem Becher andere Trinkgefäße besessen zu haben,
doch fällt mir kein einziges mehr ein. Für ihn kaufte ich im Supermarkt ein
kleines tiefblaues Tuch, faltete es quadratisch und legte es oben links neben
dem dunkelblauen Tischtuch – wie eine Insel oder ein Randgebiet, von dem meine
Hand immer wieder über das große Rechteck hinausgreift, um zu trinken. Das
Wasser dieser Stadt ist hart, und im Laufe der Zeit sammeln sich Tee- und
Kalkablagerungen im Becher, während das tiefe Blau des Tuchs allmählich von
Staub überzogen wird. Beides beeinträchtigt weder Gesundheit noch Geschmack,
und ich begann, sie zu mögen
– oder ich, als der ich bin, will wohl tatsächlich Spuren des Verweilens in
dieser Stadt haben.
Ein regen-graues Glas von der Marke
iittala mit dem Namen Kartio, Fassungsvermögen 150 ml: Trinkt man allein daraus, wird
Weißwein tatsächlich so trüb wie Regen, Rotwein wie das nächtliche Meer. Nimmt
man es mit drei Fingern, färbt sich die Fingerspitze in diesen zweideutigen
Zwischenfarbton, und ich bilde mir ein, ein Pfandzeichen zu halten, das mir die
Teilnahme am esoterischen Göttermahl
des Pythagoreers erlaubt, wobei die Welt mit Geometrie und Zahl geregelt wird.
Eine kleine IKEA-Schale, ein Gebrauchsgeschenk einer chinesischen Kommilitonin,
die nach ihrem Abschluss fortging; seitdem gibt es bei meinem Abendessen
manchmal Dessert. Ein aus Birkenholz gehöhlter
Becher, 300 ml, das einzige handgefertigte Stück in meinem Besitz, aus dem ich
Kräutertee trinke und das Wilde genieße; der russische Handwerker, der ihn
herstellte, flehte zu Beginn des Ukraine-Krieges zweideutig seine schamanische
Göttin um Gewissen
und Gerechtigkeit an; im ersten Winter des Krieges schloss er alle seine
sozialen Konten – und verschwand.
Es gibt noch mehr Gefäße, mehr
Details, die vielleicht nur für mich Bedeutung haben. Intuitiv dachte ich
einmal, vielleicht könne
dieses dunkelblaue Rechteck alle Gefäße fassen, die ich in dieser Stadt
besitze.
Ein mit der buddhistischen Doktrin
vertrauter Bildhauer einer Buddhastatue würde am Rand der Schale, aus der der
Buddha täglich isst, vier Lippen anbringen. Den Versionen der verschiedenen
Schulen von Buddhas
Hagiographie zufolge, verweilte der Weltkönig Śākyamuni nach seinem Erwachen
auf Einladung der Gottheiten sieben mal sieben Tage in mehreren ihrer Paläste,
um ihnen seine Freude mitzuteilen. Nach diesen ersten neunundvierzig Tagen
kehrte er schließlich auf die Erde zurück, um zum ersten Mal nach seinem
Erwachen zu speisen. Da ihm ein Essgefäß fehlte, brachte jede von vier
Gottheiten ihm eine Schale aus grünem Stein dar. Um all diese vier Götter zu erfreuen, nahm der Buddha alle vier
auf einmal, stapelte sie in seiner rechten Hand und drückte sie mit der linken
so fest, dass sie sich zu einer einzigen Schale vereinten. Oft frage ich mich,
ob dies nicht eine Parabel ist, die andeutet, dass der König seiner Welt
seither bei jedem Bissen und jedem Schluck das vervierfachte Gewicht spürt. Ist
dies ein sich verkleidender Herrscher oder ein schattenhafter Schauspieler, der
inmitten seiner Umwelt den Wert – das heißt: das Gewicht – dessen spürt, was er täglich verbraucht?
Und ich – mit meinen Gefäßen in dieser
Stadt – und die Konfigurationsveränderungen im dunkelblauen Rechteck, deren
kleinste Maßeinheit der Millimeter ist: ein solitäres Schachspiel – die Schönheiten, die Makel, ein Geist und dessen Vorstellungen,
geformt auf dem Fließband der Weltfabrik.
Yu-Sheng Tsou (geb. 1987 in Ilan, Taiwan) übt derzeit in München Poesie, beobachtet die Beobachtung des Unbeobachtbaren, promoviert an der LMU zum Thema der eso-terisch buddhistischen Ritualgedanken. Der Grobe Kommentar zum Kalender der Größten Entfaltung (Miaoli, 2014) ist sein Lyrik-Debüt auf Chinesisch, und die sich vereinende deckung (ELIF Verlag, 2021) sein deutsches Debüt.
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