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Yu-Sheng Tsou: Die dinglose Lücke

Das lyrische Konto

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Yu-Sheng Tsou

Die dinglose Lücke


„Und gleichzeitig mit dem Thron schuf Gott eine Schreibtafel, die so weit war, wie ein Mensch in tausend Jahren laufen kann. Und diese Tafel war aus weißestem Perlmutt und an allen ihren Rändern aus Rubin und in der Mitte aus Smaragd. Sämtliche Schrift, die sich auf ihr zeigte, war von reinstem Licht. Und Gott blickte täglich hundert Mal auf diese Tafel. Und jedes Mal, wenn er auf sie blickte, errichtete und vernichtete, schuf und tötete er. [...] Und Gott schuf mit der eben genannten Tafel eine strahlende Schreibfeder, die von solcher Länge war, wie ein Mensch in fünfhundert Jahren laufen kann, und dasselbe Ausmaß hatte ihre Breite. Und nachdem sie geschaffen war, befahl ihr Gott zu schreiben. Die Feder aber sagte: ‚Was schreibe ich?’ Er antwortete ihr: ‚Du schreibst meine Weisheit und alle meine Geschöpfe vom Anfang bis zum Ende der Welt.’”*

Das etwa im elften Jahrhundert verfasste Kitab al-Miraj wurde im dreizehnten Jahrhundert aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt. Manche modernen philologischen Forschungen meinen, die darin geschilderten Szenen hätten Dante tiefgreifend beeinflusst. Sollte dies der historischen Wahrheit entsprechen, bedeutete es, dass – sei es durch eine gewaltige Erschütterung oder Offenbarung, sei es durch seine Begierde, ein grandioses Narrativ zu erzählen und so die nicht verfügbaren Details im vorhandenen Material zu ergänzen – Dantes Werk, das alle kennbaren Schichten eines bestimmten Weltmoments zu berühren versuchte, zu einem Apparat geworden sei, der verschiedenartige Szenerien integrierte: selbstreflexiv, wie ein Spiegelbild, das trotzdem noch einen Mangel hat, sodass es sich im Moment seiner Vollendung umkehrt, bis sein erster Beobachter – sein Schöpfer – mit seinem eigenen Abbild diesen Mangel aufhebt. Diese sich entfaltende Struktur öffnete sich einst wie eine Blüte, die in der Welt eine Welt eröffnet, und Dante war darin, ging von einer Stelle aus, umkreiste sie und zeichnete so eine versiegelnde Kontur: durch Erfahrung reduzierte er diese Vielfältigkeit zu einer Welt, der er sich selbst bereits anheimgegeben hatte.

Dinglos, eine Lücke. Man kann sie Falle nennen, denn der Apparat, dessen Hauptbauelemente die Szenerien sind, transportiert seit jeher gemäß einem ausgeklügelten Programm eine lebensgroße Leere; man kann sie Wohnort nennen, denn sie ist eine Verklebung von Höhe und Tiefe in Raum und Zeit, die tatsächlich eine dem Menschen zugewiesene Terrasse aufspannt. Gebärmutter. Ein Garnelenkäfig im Fluss. Diese Falle entfaltet eine kurzfristige Wohnfläche. Ich schließe meine Augen und warte, bis ein paar Fragmente auftauchen. Wenn diese Welt dadurch in ihrer koinzidenten Weise wiedergegeben wird, muss ich hier wohnen.

Gott teilen wir den Realismus absoluten Superlativs – den Elativenrealismus – zu, sodass Er nur Szenerien hervorbringen, niemals aber Landschaften sehen kann. Das Paradox der Landschaft als Werk besteht darin, dass sie im Moment ihrer größten Annäherung an die Wahrheit den Sinn des Begriffs der Wahrheit beraubt. Denn ist die Landschaft ein geo-graphisches Geheimnis, kann der Mensch die Differenz zwischen Werk und Wahrheit nicht verifizieren; befindet sich die Landschaft an einem erreichbaren Ort, wird das Werk entweder zu einer bloßen Versetzung, oder der Mensch versetzt sich selbst an jenen Ort, wo die Landschaft sich ereignet.

Irgendwo. Irgendwann. Ich habe meine Begierde nach dem Wahren verloren; ich will die Vielfalt daraus entrücken und das Wahre an seinem Ort belassen. Ich will durch Erinnern und Verlernen in die Versammlung der Dinge eintreten. Ich muss selbst leuchten, umkreisen, meinen eigenen Gedächtnispalast erhellen.

Loci-Methode. Es wurde gelehrt, dass der Geist für eine Wachstafel gehalten werde, und die Erinnerung an einen bestimmten Ort das die Furchen füllende Wachs sei, und darin die Dinge die Einritzungen des Griffels im Wachs seien. Manche wählen die Räume ihres Alltagslebens als Szenerien und bauen sie mit sich vermehrenden Kleinigkeiten allmählich aus: Wandschränke, Bett und der Raum unter dem Bett, ein Tisch vor dem Fenster, noch ein niedrigerer Tisch – die zu erinnernden Kleinigkeiten im Leben werden durch die in Szenerien hinterlassenen Gegenstände substituiert. In den Anfängen dieses Kunstgriffes wurde dem Übenden geraten, lange am Tag in einem Garten mit klaren Lichtquellen zu wandeln, am besten symmetrisch, aber zwischen den Säulengängen mit Statuen gefüllt; wer diesen Kunstgriff übt, muss den Garten, der für die Übung ausgewählt wird, mit gleichmäßigem Schritt abmessen und seine Details ins Gedächtnis sammeln, bis sich eine entsprechende Szenerie in die Wachstafel des Gedächtnisses eingeprägt hat. Wenn er, oder sie, später vor der Menge beredt spricht, wandelt sein Geist tatsächlich in diesem sonnendurchfluteten Hof; Gegenstände werden gegen Satzglieder eingetauscht.

Doch schreibt oder zeichnet jene strahlende Feder? Ich, der umringt und in einer lebensgroßen Leere transportiert wird – bin ich inmitten von Bildern oder inmitten von Schriftzeichen? Woher stammten die Farben in der Landschaft, und wohin werden sie gehen, nachdem sie in eine betrachtete Szenerie eingeflossen sind?

„Jener aus dem von den Träumen aller Seienden verwobenen Traum Erwachte eröffnet auf seinem Herzen, wo es keinen Unterschied mehr zwischen Innen und Außen gibt, ein die Realität skizzierendes Diagramm, verziert mit all den unendlich vielfältigen Details innerhalb der Welt; er macht dieses Diagramm zu einem auf seinem eigenen Herzen sich ereignenden und entfaltenden Ereignis, lässt dann dieses Diagramm auf der Grundlage der eigenen Herzen aller Seienden ihre Herzen eröffnen, sich ereignen und entfalten zu einem Diagramm der Realität – einem Ereignis – verziert mit all den unendlich vielfältigen Details innerhalb der Welt. All die unbegreiflichen gegenseitigen Anrufe und Antworten zwischen diesem Erwachten und den Schlafenden – Traumreden und wahre Worte – entspringen aus einem in diesem Diagramm offenen Zentralvokal, aus dem die verschiedenen Sprachen heraus-fließen.”**

Cézanne erklärte, dass seine Hand seine Augen / führe, in die Tiefe der Landschaft hineinzukommen. / ich sah auf der Leinwand / eine winzige Lücke zwischen Farben. / an meiner Fingerspitze bemerkte ich einen stechenden Schmerz. // eine Nadel, auf deren Spitze / Engel aneinander stehen, behaupten, / „Lasst uns größer werden, das einfache / Grün der Szenerie überwinden.” Bei der Übertragung dieses Verses in eine seinem Ursprung näherstehende Sprache empfand ich eine Notwendigkeit und substituierte darin „Engel" durch „Menschen”. Die dinglose Lücke, woher die Farben kamen, wo keine Worte rascheln: ein Mensch und ein anderer Mensch.


*Zitiert aus Giorgio Agambens Bartleby oder die Kontingenz. Ins Deutsche von Maria Zinfert und Andreas Hiepko. Merve Verlag, 1998.
**Śubhakarasiṃha 善無畏 (637-735) und Yixing 一行 (683-727), Kommentar zum Mahāvairocana-sūtra. Taishō Tripiṭaka: T. Nr. 1796, 39:585c1-5.

***Für eine Untersuchung der Loci-Methode und deren Relation zu Dante, sieh Frances A. Yates, The Art of Memory (1966).

Yu-Sheng Tsou (geb. 1987 in Ilan, Taiwan) übt derzeit in München Poesie, beobachtet die Beobachtung des Unbeobachtbaren, promoviert an der LMU zum Thema der esoterisch-buddhistischen Ritualgedanken. Der Grobe Kommentar zum Kalender der Größten Entfaltung 大衍曆略釋 (Miaoli, 2014) ist sein Lyrik-Debüt auf Chinesisch, und die sich vereinende deckung (ELIF Verlag, 2021) sein deutsches Debüt.


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