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Yevgeniy Breyger: Frieden ohne Krieg

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Samuel Meister

Yevgeniy Breyger: Frieden ohne Krieg. Berlin (kookbooks) 2023. 80 Seiten. 24,00 Euro.

Speichelozean: Zu Yevgeniy Breygers Frieden ohne Krieg


Manchmal beginnen die Wörter zu schwingen, musikalisch zu werden („ich fliege…“, s. 38), gegen Ende wohl mehr und mehr. Diese Stellen werfen ihren Schatten auf die weiten Strecken, wo sich der Band nichts Derartiges zugesteht, sondern uns anspricht, wie die Sprache eben gewachsen ist, ohne Höflichkeit („irgendwann halt ichs nicht aus und schrei, der idiot soll seinen mund halten“, s.24). Wenn es jemanden gibt, der in der drittletzten Silbe der letzten Zeile den Klang der fünften Konsonantenfolge der zweiten Zeile miterinnert, das Gleichgewicht einer beliebigen Anzahl von Tönen jederzeit halten kann, dann Yevgeniy Breyger. Und wenn er es nicht tut, die Sprache nicht im Zaum hält, weil das Austarieren von Wörtern als Tätigkeit der Welt nicht gerecht wird, wie in Frieden ohne Krieg, erhält der Text eine heutzutage eher überraschende Qualität: Wucht. Aber der Text ist eben nicht wuchtig, weil er sich vor einem aufpflanzt und einen anbrüllt (das kann jeder Text, deshalb ist andernorts „Wucht“ ein lächerliches Prädikat), obwohl er auch das tut, sondern weil man weiß, was der Text aufgibt, fast das ganze Prinzip, von dem Breygers Poesie sonst gelebt hat.

Es steht: „kann ich so ein buch überhaupt publizieren? barocke sprache / fern von alltag, handwerklich meisterklasse, mehr ist mir nicht möglich / aber DENNOCH / kein Wort zum Krieg, kein Wort zum…“ (s. 37). Das Gedicht heißt statt erklärung und erklärt, dass dieser Gedichtband einen anderen ersetzt – dass ein Band, der sich vollständig um den russischen Krieg in Breygers Herkunftsland Ukraine dreht (er stammt aus Charkiw), einen anderen, der diesen Krieg nicht anspricht, ersetzt. Und dass eine andere Sprache, die „barock“ ist und „handwerklich meisterklasse“, durch diese Sprache ersetzt wird. Diese Sprache kommt ohne Schnörkel aus, ist nicht bis in jede Nuance abgestimmt, sondern platzt heraus. In schäm dich gibt sich Breyger mit Unterzeichnern offener Briefe, einem imaginären Markus Lanz („ich versteh nicht, weshalb ich überhaupt diese namen kenne“, s. 22) und Podiumshirschen ab. Und er gibt sich mit uns ab. Und vermutlich mit sich selbst. Er schließt: „wirklich, schäm dich. du weißt, dass du gemeint bist“ (s. 24). Wofür die Scham? Zumindest einmal für das Geschwafel, an dem wir alle teilhaben, über die großen Linien der Politik und der großen Kultur („märchen statt geschichte“, s. 23), wodurch wir das echte Leid der echten Menschen wegabstrahieren („kein wort von toten“, s. 23), als wäre alles ein ideenhistorisches Spiel zu unserer Belustigung. Dies gilt natürlich nicht nur für den Krieg in der Ukraine.

Die Scham scheint auch die Kraft zu sein, die das musikalische Grundprinzip beiseiteschiebt (das ist keine psychologische These über den Autor, sondern eine literarische über den Text). Zwei Extremformen des literarischen Schreibens wären die rein musikalische, bei der keine über den Klang der geschriebenen Laute hinausgehende Bedeutung mehr vorhanden ist, und eine rein propositionale, bei der nur der Aussagegehalt der Wörter zählt und der Klang nicht nur zweitrangig, sondern irrelevant ist. Keine Form findet sich so rein, aber eine Tendenz in Richtung der ersten, musikalischen Form besteht in gewissen Kreisen der Lyrik vermutlich schon. In vielerlei Hinsicht ist das begrüßenswert, aber wenn einen die Wirklichkeit (ja, ich verwende diesen Begriff weiterhin) trifft, sollte man sich fragen, ob diese poetische Form der Welt angemessen ist; es lässt sich sogar eine Verwandtschaft dieser Art von Literatur mit dem ideenhistorischen Geschwafel von oben vermuten, ein Anlass zur Scham. In Frieden ohne Krieg findet ein Umschwung in Richtung der anderen, propositionalen Literaturform statt, weg von der Musikalität. Der Umschwung ist nicht vollständig – und wie ich die Gedichte lese, formulieren sie insgesamt auch eher die Frage, als dass sie eine Antwort für oder gegen eine der literarischen Formen geben. Aber nur schon die Frage nach dem richtigen Schreiben greift die Leserin, den Leser an, nicht weil sie neu wäre, sondern weil sie jetzt und durch die Lyrik selbst gestellt wird. Kein Ausweg ist es, überhaupt nicht zu schreiben, denn die analoge Frage stellt sich zum richtigen Lesen und Denken. Man müsste schon aufhören, zu denken.

Bereits auf dem Cover und als Epigramm wird eine zentrale Stelle abgedruckt, die sich auch in statt erklärung findet (s. 38):

ich fliege über bergkämme, ich fliege über flusstäler
ich fliege über den mount-ICH und tauche durch einen
SPEICHELOZEAN
es ist ein krieg in mir, der will mich ziehn
zieht aber andre
und ich denk mich nur
denk hin

Die Zeilen sind auch im Buch kursiv gehalten. Zudem entspricht das Schriftbild nur beinahe demjenigen auf dem Cover und im Epigramm, das näher am mündlichen Ausdruck ist, z.B. „und tauch durch nen SPEICHELOZEAN“. Beides erzeugt die Wirkung des Zitats eines fern gesungenen, tradierten Liedes, sogar die romantische Fiktion eines Volksliedes. Jedenfalls rückt die Kursivstellung der Verse diese in einen Abstand zu den prosaischen Zeilen, von denen sie umgeben werden: „(wie peinlich ist es überhaupt, sich als deutscher oder irgendein / AUTOR zu sehen)“ und „hinter der straßenbiegung erscheint ein feuerwehrwagen usw.“. Der Abstand ist vor allem ein stilistischer: in die Härte der in Verse aufgebrochenen, aber nicht lyrischen Prosa schleicht sich heimlich, fast verboten ein weicher, wehmütiger Klang.

In der Badischen Zeitung weist Andreas Kohm auf die Mehrdeutigkeit von „mir“ in „es ist ein krieg in mir“ hin, da мир auf Russisch „Frieden“ oder „Welt“ bedeutet (allerdings behauptet er merkwürdigerweise, es bedeute „Krieg“). Es ist also ein Krieg in der Welt und im Frieden, kein „Frieden ohne Krieg“: in der Welt, wo sich der Autor und die Ukraine befinden, und im Frieden, in dem der Autor in Deutschland, aber nicht der Ukraine lebt. Der Krieg ist auch „in mir“, durch die Nachrichten, die er erhält, durch das Leiden mit anderen, aber zuletzt ist er nur gedanklich vor Ort, dort wo der Krieg wirklich ist. Nicht nur das Lied in seiner klanglichen Weichheit, sondern auch die wirkliche Härte des Kriegs (nicht die Härte der Gedanken und Literatur), ist aus dem Alltag entrückt. Hinzu kommt eine weitere Entfernung, die des Ichs, das über Bergkämme und Flusstäler fliegt, offenbar körperlos, jenseits der Welt, die einen angreift. Immerhin scheint sich das Ich auch selbst zu überwinden, indem es „über den mount-ICH“ fliegt, außer wir haben es mit dem Gegenteil, einer Übersteigerung des Ichs zu tun, aber auch dann fällt es in den SPEICHELOZEAN, der vielleicht vom Geifer der Podien gespeist wird, aber auch wieder das ICH enthält. Das Ich geht in sich unter. Und das ist vielleicht der letzte Grund, weshalb die Verse kursiv eingerückt werden müssen: Gerade ihre kunstvolle, vieldeutige Art scheitert in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt.

Oder umgekehrt: Am Anfang habe ich gesagt, dass die Sprache der Gedichte im Verlauf des Bandes musikalischer oder überhaupt musikalisch wird. Der erste Text (du musst das hören) des längsten ersten Teil des Buches (heimkern), der die Familiengeschichte vom Angriff der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf Charkiw bis zur russischen Invasion darstellt, ist ebenso nüchtern, fast telegrammhaft geschrieben wie die darauffolgenden Texte, einschließlich schäm dich, eben bis zu den oben zitierten Versen gegen Ende von statt erklärung. Im nächsten Gedicht (ich musste mich noch nie bei so vielen menschen entschuldigen), setzt Breyger die Technik der kursiv eingesetzten Lyrik fort (z.B. „leg dich / trenn dich vom balsam der wünsche“, s. 43) und die kürzeren weiteren Teile des Bandes (streuobst und aprillen) entwickeln einen poetischen Sog, der an Breygers frühere Arbeiten erinnert, obwohl streuobst ein Kriegstagebuch ist und auch aprillen direkt den Krieg anspricht. Die lyrischen Einsprengsel wie in statt erklärung bleiben keine Textinseln, sondern verändern die stilistische Richtung, die der Gedichtband als ganzes einschlägt. Und das passiert schon in unmittelbarer Nähe. Nach den zitierten Versen in statt erklärung fährt Breyger so fort (s. 38):

hinter der straßenbiegung erscheint ein feuerwehrwagen
die sirene leuchtet sich das seelchen aus dem leib
aber kein ton zu hören

Diese Zeilen sind nicht kursiv gehalten, sie gehören oberflächlich zum prosaischen Textblock, von dem sich die kursiven Verse abheben. Aber die Weise, wie hier die Alltagsbeobachtung zum Bild für ganz anderes (z.B. den Dichter) wird, legt nahe, dass die Lyrik der kursiven Verse auf die sprachliche Umgebung abfärbt. Man könnte den Band als Gesamttext also auch anders lesen als oben, nicht als Ablehnung des musikalischen Stils, sondern als Behauptung dieses Stils der grausamsten Wirklichkeit gegenüber – und auch der Versuchung, sich ganz in die konstatierende Prosa zurückzuziehen. Und wenn ich hier vom „Stil“ spreche, meine ich natürlich nicht nur die sprachliche Form, sondern auch die Art des Denkens über die Welt.

Wir müssen nicht zwischen diesen beiden Lesarten entscheiden und sie auch nicht einer reinlichen Synthese zuführen. Als Gesamteindruck bleibt vielleicht folgendes: Nur überhaupt schon Lyrik zu schreiben, reicht nicht als Antwort auf die Schrecken der Wirklichkeit, aber die Lyrik, d.h., die Lyrik im engeren, liedhaften, musikalischen Sinn, aufzugeben, genügt auch nicht. Es wird eine Art des Dichtens benötigt, das mit allen Registern auf die Außenwelt losgeht, von der profanen Prosa bis zum schönsten Lied. Eine solche Art des Dichtens findet sich sonst kaum, wird von Breyger aber fast in Vollendung entwickelt (die Brüche sind Teil der Perfektion). Zuletzt rührt die Wucht des Buches wohl daher.


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