Yari Bernasconi: Neue staubige Tage / Nuovi giorni di polvere
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Jürgen Brôcan
Yari
Bernasconi: Neue staubige Tage / Nuovi giorni di polvere. Italienisch /
deutsch. Übersetzt von Julia Dengg. Zürich (Limmat Verlag) 2021. 160 Seiten,
38,00 Euro.
Von Bewegung und Stillstand
»Wir spazieren über eine Schutthalde der Welt, | verlieren
unsere Spuren in einer Spur, | die größer ist, entlang von Häusergerippen | und
kaputten Fenstern«, schreibt Yari Bernasconi zu Beginn seines Gedichtsbands so
anschaulich, daß man sich an Bilder von ›Lost Places‹ erinnert fühlt, die
Photographen wie zum Beispiel Sven Fennema zu einer ästhetischen Eleganz
geführt haben, die jede in Melancholie getränkte Nostalgie hinter sich läßt
zugunsten einer philosophischen Betrachtung der Vergänglichkeit; doch Bernasconis Motive weisen noch in eine andere
Richtung, eine gesellschaftspolitische, denn an die oben zitierten Verse
schließt sich unmittelbar diese markante Bemerkung an: »Wir atmen | die vom
Moos aufgesogene Wut ein, | den von den Völkern geschrienen Hass.« Es besteht kein
Zweifel, nicht allein die unerbittlich gesetzmäßigen Wirkungen der Zeit
zeichnen verantwortlich für die Rückstände, die Altlasten, die die Gegenwart
mitprägen.
Die Orte und Landschaften, die Bernasconis Gedichte
aufsuchen, sind negative Orte, Nicht-Orte, an denen sich etwas zugetragen hat,
das zwar vergessen, aber nicht vergeben werden kann. Aus dem Staub solcher Tage
ein Gedicht zu formen, ist die Aufgabe des Dichters: »Du kannst die Augen nicht
verschließen vor dem Schmerz | eurer Hoffnungen, unserer Welt.« Er ist der
Seismograph der Traurigkeit, egal, wohin er sich wendet, nach Estland oder
Polen, nach Irland oder in die Schweiz, oder ins ferne Indonesien, wo »einer
der gefährlichsten Vulkane der Welt« ausgebrochen ist; und egal auch, wem er
seine Stimme leiht, den Arbeitern am Gotthard-bahntunnel oder den Kindern von
Fahrenden und Jenischen.
Bernasconis Sprache stellt keine Verständnishürden auf.
»Jetzt bleiben nur unsere Schritte. | Es braucht keine großen Worte: Da ist die
Straße, | nass. Wir folgen zusammen der Nacht.« [Im Original: ›Siamo insieme e
inseguiamo la notte.‹] Allerdings ist diese schlicht gehaltene Sprache
klanglich genau geschliffen – was noch (abgesehen von mangelndem Gespür für
korrekte Zeileneinrückungen) der deutschen Übersetzung anzumerken ist –, denn
größer als die Intensität des Ausdrucks ist ihm die Intensität des
Mitgeteilten. Das lyrische ›Ich‹ geht mit dem lyrischen ›Du‹ einen verzwickten
Dialog über existenzielle Fragen ein, worauf das schöne Nachwort von Fabio
Pusterla mit bedenkenswerten Einsichten zu Recht noch einmal explizit hinweist.
In jenen Gedichten, in denen keine Rollenperspektive eingenommen wird, ist das erfahrende Subjekt stets unterwegs, zu Fuß, mit der Bahn, mit dem Auto, und zwar als Besucher, als Zuschauer, als Tourist, das heißt, als jemand, dem es vergönnt ist, einen zeitlichen Abstand zu wahren oder, falls das nicht möglich ist, das Privileg des kurzen, begrenzten Aufenthalts zu haben. Diese Distanz ruft zur Mahnung auf und verstärkt die Scheu und Sensibilität des Blicks. »Wasser, das fließt, riss das Morgen schon fort. | Ich schreibe dir von da, wo man verschwindet.« Eine transiente Geographie bedeutet die harsche Absage an alle immobilen Natio-nalismen, wie sie immer wieder ›aus Volkes Stimme‹ bei Bernasconi anklingen.
Betrachtet man die Gedichte in ihrer Gesamtheit, scheinen sie darum bemüht, die ihnen innenwohnenden Gegensätze auszutarieren. »Ohne zu atmen, verharrte ich im Widerstand, wehrlos | und still, aber in der Gewissheit, vergessen zu können«, heißt es an einer Stelle, nur um andernorts die nötige Gegenbewegung einzuleiten: »Wenn wir gehen, dann, um vorwärts zu kommen, | um etwas zu suchen, eine Hoffnung | zu verfolgen.« Erinnern und Vergessen, Ankommen und Fortgehen sind die gegensätzlichen Kräfte, die Bernasconis Lyrik eine unruhige Spannung verleihen.
Das Gedicht gibt der beweglichen Erfahrung eine stationäre Befestigung, zugleich übersetzt es das Vergänglich-Vergangene in eine ebenso heutige wie überzeitliche Ansprache. Hier sind das Zerstörte und Verfallene »verbotene Orte«, wo man indessen die »klarste Erinnerung« findet. »Du sagst im Scherz, wir könnten bleiben, diese Leere | besichtigen. Den Mut dazu fassen.« Somit könnte man Bernasconis Gedichte als Mutproben verstehen, den Blick auf das zu werfen, was Staub ist, von Staub überzogen, ein Staub, der sich nahe am Nichts befindet und doch zugleich alles bedeutet.
»[…] Eine Raffinerie am Endeder Welt, an der wir vorbeifahren: Wir reckendie Köpfe, um besser zu sehen, um zu verstehen,wir lehnen uns hinaus in die Luftleere,wie selbstverständlich. Wir spüren, dass das unser Ort ist.«