Xaver Bayer: Poesie
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Jürgen Brôcan
Xaver Bayer: Poesie. Salzburg (Jung
und Jung) 2023. 96 Seiten. 22,00 Euro.
Anblicke und unbewachte
Beobachtungen
Xaver Bayer reanimiert die Form
des Prosagedichts
Es gibt Bücher, die man sich erträumt hat, Bücher, von denen
man lange gewünscht hat, sie mögen einmal von jemand anderem als einem selbst
geschrieben werden. Xaver Bayer hat nun ein solches Buch vorgelegt. Die
Vorderseite des Schutzumschlags verrät den Namen des Autors nicht, nur das Wort
»Poesie« umschmiegt dort wie Ranken in geschwungenen Buchstaben die Blätter
einer Bromelie – doch was sieht man eigentlich genau: steht man in einem Zimmer
und blickt durch eine Scheibe, in der sich die Pflanze spiegelt, hinaus auf
eine Straße, oder steht man auf der Straße und sieht durch ein Fenster, in dem
sich ein Häuserblock spiegelt, in ein Zimmer hinein? Die Wahl des Photos ist
ausgezeichnet, denn sie bereitet auf die Texte des Bands vor, für die eine
schwer bestimmbare Beobachterhaltung konstitutiv ist. Einmal heißt es dort:
»Das Innen und das Außen haben Platz getauscht, / nur die Tür geht in dieselbe
Richtung auf wie immer.«
»Poesie« ist eine Gattungsbestimmung, die als Titel eine Aura von Abstraktion erzeugt, als würden hiermit exemplarische Muster vorgelegt, wie bei Goethes Novelle und Märchen. Bei etwas näherer Betrachtung der Form erweisen sich diese Poesien als ›Prosagedichte‹, vielleicht auch als ›lyrische Prosa‹ – beider Grenzen sind ja kaum klar zu definieren und sehr permeabel für verschiedenste Abstufungen und Mischwesen. Gewöhnlich bestehen Prosagedichte aus einem oder mehreren Strophen oder Abschnitten im Blocksatz; Bayers »Poesie« hingegen aus überwiegend längeren, jedoch auch vielen eher kürzeren Zeilen, allerdings ohne den typischen hängenden Einzug, wie er einem etwa aus Walt Whitmans der Prosazeile nahestehenden Grasblättern vertraut ist.
Jede Zeile ist eine kurze Beobachtung, eine knappe Beschreibung. Die einzelnen Texte fügen sich aus der Addition mehrerer Zeilen zu einem Komplex, einem in sich stimmigen Gebilde, einer Szene, einer Sequenz. Das Verfahren ähnelt ein wenig einer Reihung von Schnappschüssen, die keineswegs beliebig oder arbiträr ist, aber eben auch nicht vollkommen zwingend. In den meisten dieser Poesien existiert eine Beobachterinstanz, die sich in ein anonymisierendes »Man« zurückzieht. Überraschend daran ist der Effekt: Als Lesender fühlt man sich nicht überrumpelt, nicht in den Text hineingezogen, aber auch nicht ausgeschlossen, auf Distanz gehalten. Vielmehr strahlen diese poetischen Miniaturen eine wohlbesonnene Ruhe aus, selbst in einzelnen Zeilen:
»Pollenstaub, leuchtend gelb, Wegzehrung auf der Unbeweglichkeitsreise durch das Dunkel.«
»Für einen Atemzug bilden fünf Tauben vor dem hellen Morgenhimmel zwischen den Dächern ein Sternbild nach.«
Eine Ruhe, die allerdings unterschwellig bedrohlich wirkt. Obwohl die einzelnen Momente in sich schnell ablaufen, ihre Reihung beinahe staccatohaft vorantreibt, entsteht ein seltsam viskoses Fließen, eine Verlangsamung der Zeit, und das ist auch kein Wunder, denn: »Je achtsamer man schaut, / desto länger dauert der Weg.« Das Voyeurauge des ›Man‹ geht dicht an die Objekte heran, erzeugt jedoch nur eine vermeintliche Nähe. Die Abläufe selbst sind oft völlig klar, aus jedem Alltag bekannt, hüllen sich durch ihre Verdichtung, ihr Ensemble in einen das Irreale streifenden Realismus. Manche Momente überschreiten auch mit souveräner Vorstellungskraft die Beobachterposition und deren Möglichkeiten:
»In der Wohnung darunter schichtet jemand Bücher in Bananenkartons, Wasser fließt währenddessen in die Badewanne, aufgebockt auf Holzscheiten.In einem der Bücher sind alle Wörter, die Farben bezeichnen, unterstrichen, grau, blau, violett, grün, doch das bleibt jetzt unsichtbar.«
Oft sind in diesen Poesien die Schauplätze menschenleer, doch nicht vollends aufgegeben, sondern gleichsam wie soeben verlassen, womöglich bloß für einen kurzen, unbewachten Augenblick.
»Morgen werden Fenster und Türen geöffnet, wird das Mobiliar zerlegt und abtransportiert.Nach ein paar Tagen ist das Haus leer,die Sonne geht langsam wie ein alter Mann durch die Zimmer.«
Xaver Bayer beschreibt die Momente, in denen sie sich dem dichterischen Gefühl preisgeben. Eine nüchtern werdende Welt, voller Baustellen und Mülldeponien, voller Leerstände und Erstarrungen, in der die Entzauberung kraft der poetischen Sprache wieder ein Stück weit zurückgenommen wird. »Eine Wespe ist im Zuckerstreuer gefangen«, heißt es an einer Stelle, und die Vorstellung nimmt sofort allmählich Gestalt an, die Sprache der Dichtung könne ihr wie der Wittgenstein‘schen Fliege einen Ausweg zeigen. Allerdings beraubte die Freiheit sie dann wiederum des reichlichen Nahrungsangebots. Bayer widerruft mit seinen Texten das Desinteresse an der faden Begebenheit und weckt eine ebenso rätselhafte wie luzide Behaglichkeit durch den Akt der Verwortung. Doch: »Am Ende hat man alle Fotos gelöscht«, wenn man jedes löscht, auf dem man sich nicht gefällt. Vielleicht verschwindet deshalb der Beobachter von Anfang an hinter dem Beobachtbaren, damit dies im Eigenrecht seiner ebenso brüchigen wie fragmentarischen Schönheit bestehen darf.