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Wolfram Malte Fues: Lyrik heute

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay


Wolfram Malte Fues

Lyrik heute


Plato verbannt die Dichter aus seinem idealen Staat. Zu Recht. Redner, die, lexikalischen, grammatischen und rhetorischen Vorschriften folgend, wirkliche Dinge und Sachverhalte zu überzeugen verstehen, von denen sie wenig bis gar keine objektiven Kenntnisse besitzen, sind schon schlimm genug. Dichter, die, lexikalischen, grammatischen und rhetorischen, insbesondere aber musikalischen und semiosischen Vorschriften folgend, mögliche Dinge und Sachverhalte so erzeugen, als seien sie wahrscheinlicher als die wirklichen, sind schlimmer: Gift für ein Staatswesen, das auf allgemeingültigen und eindeutig bestimmten Gesetzen gründen soll.

Bestens geeignet sind diese Dichter hingegen für die heutige Medien und Kommunikations-Gesellschaft, die, lexikalischen, grammatischen und rhetorischen, insbesondere aber musikalischen und semiosischen Vorschriften in politischer und ökonomischer Absicht folgend, wirkliche wie mögliche Dinge und Sachverhalte so miteinander verquickt, dass sie alle objektiv erreichbare Kenntnis in Anspruch zu nehmen scheinen, während sie deren Erkenntnis zugleich verstellen. Alle Kunstgriffe, Regeln, Prozeduren und Figuren, die das lyrische Sprechen aus dem dichterischen in den letzten 250 Jahren entwickelt hat, sind in diesen Anspruch aufgehoben und eingespannt. Lyrik, die sie weiterverfolgt, als wäre ihnen nichts geschehen, macht sich zu seinem Komplizen: Sie produziert Treibstoff für ein Gemeinwesen,  das sein einzig wahres Gesetz – das Wert-Gesetz – in einem zufällig farbigen Wirbel modischer Eventualitäten und trendiger Aktualitäten verstreut und verbirgt und verwirklicht. Will das Gedicht vor diesem sich immer wieder neu totalisierenden Anspruch weder fliehen noch ihm verfallen, Sand im Öl im Getriebe dieser Welt sein, muss es ihn an- wie aufnehmen und sich in ihm gegen ihn behaupten: durch Verschiebung Verdichtung Verbiegung, Verführung wie Verwirrung, Verführung zur Verirrung. Durch die Aufhebung und Auflösung verwirbelter Linearität im Mosaik: „Das Mosaik ist nicht einheitlich, stetig und wiederholend. Es ist unstetig, asymmetrisch und nicht linear [...], plötzlich, konträr, ursprünglich, selten, fremd.“ (Marshall McLuhan)

Das gelungene zeitgenössische Gedicht macht seine Leserin, seinen Leser denken: Das verstehe ich nicht – aber ich verstehe, dass das Gedicht mir genau das zu verstehen geben will, dass es mich auffordert, mit und in ihm mein übliches konventionelles Verstehen einzufordern und auszuspielen, ihm nachzuträumen und nachzusehen, es zu umkreisen und zu umschreiben, es so nachzuvollziehen und darin zu verändern. Es fordert mich als erstes auf, zu verstehen, dass Verstehen nicht angeboren ist, sondern anerzogen, antrainiert, etwas, woran wir so völlig gewöhnt sind, dass wir die Gewöhnung darüber vergessen. Die anfängliche Unverständlichkeit des Gedichts durchbricht diese kontinuierliche Selbstverständlichkeit: Ein augenaufblicklich heller Tag auf einer unabsehbaren Reise ins Zwielicht des Alltäglichen. „Der Poet muss weniger versuchen, Schlussfolgerungen zu liefern als Denkanstösse zu vermitteln, so dass der Leser, der mitarbeitet, indem er errät, in sich selbst die geschriebenen Worte vollendet.“ (Albert Mockel)

Eine meiner klügsten und scharffühligsten Leserinnen hat den Eindruck, den meine Gedichte bei ihr hinterlassen, einmal so beschrieben: Die Lektüre treibt mich auf ein Meer hinaus, auf dem ich mich treiben lassen kann, während es mich zugleich zur gesteigerten Wahrnehmung jeder einzelnen Welle, ihres Schwungs, ihrer Energie, ihrer Geschwindigkeit, ihres Krümmungswinkels treibt, auf ein Meer, das mich trägt, während es mich drängt, seine Tragkraft bis in ihre kleinste Nähe und größte Tiefe zu begreifen. Aus diesem beständigen Widerspiel wächst dann plötzlich etwas sehr Konkretes, sehr Sinn(en)fälliges, mit Händen zu Greifendes auf – ein Tier, eine Pflanze, ein ganz fremdes sehr nahes Geschöpf, das man berühren könnte, wenn man wollte, oder besser: den Mut dazu fände. „Das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.“ (Wolfgang Hilbig, Matière de la Poésie)

Was ist das für ein Meer? Das Sprachmeer, die Sprache angesichts ihrer ozeanischen Macht zur Semiose - das Sprach-Mehr und Mehr, wenn man kalauern dürfte (man darf – wenn man genau achtgibt, hört man das Sprach-Meer in den Tönen von Wind und Wellen lachen). Das Gedicht evoziert, provoziert durch seine klanglichen, rhythmischen, lexikalischen, semantischen und grammatischen Strategien dieses Sprach-Meer, macht es gegenwärtig, lässt es gegen die Küsten jenes Festlands rollen und schlagen, die den eigenen gewohnten Sprachgebrauch umreißen und eingrenzen. Gelingt das Gedicht, sind seine Strategien weiträumig und nachhaltig genug, überflutet es jene Küsten und ihr Land, um sie immer wieder neu aus dem Sprach-Me(h)er emportauchen zu lassen. Dieser Rhythmus von Flut und Ebbe führt dem lesenden Bewusstsein seine eigene Sprach-Geschichte vor Augen, ihre Lebenslauf zeigenden Entscheidungen und Ausschlüsse, ihre Zustimmungen und Ablehnungen. By the way: Keine andere literarische Form antizipiert und forciert so entschlossen wie das Gedicht die eigentümliche Kombination aus Lokalität und Globalität, die den Reiz des Internets ausmacht. Das Gedicht hat von der „virtual reality“ nichts zu befürchten. Es gehört ihr ursprünglich an.

Sprach-Geschichte als Lebenslauf-Charakteristik macht aber in dieser Kontur stets zugleich Denk- und Empfindungs-Geschichte, Erfahrungs-Geschichte und Wertschätzungs-Geschichte sichtbar und deutlich. Das Gedicht bringt seine RezipientInnen radikal individuell vor die Wahr-Nehmung, genauer: vor die Sprach-Werdung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Individualität. Denn da ist keine Stelle, an der es dich nicht dir selber lesbar, hörbar und sichtbar macht. Du kannst dein Leben ändern.

Wolfram Malte Fues bei den Haidhauser Büchertagen am 8.12.2012.  

Foto: Hellmuth Lang

Wolfram Malte Fues, Prof. Dr. phil., in Bremen geboren, seit 1965 in der Schweiz lebend, Habilitation an der Universität Basel. Von 1994 bis 2010 dort Extraordinarius für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Medienwissenschaften. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, sowie von Lyrik und Essays in deutschen, schweizerischen und österreichischen Zeitungen, Literaturzeitschriften und Anthologien. Vier eigene Gedichtbände. Gründungsmitglied der AutorInnen-Gruppe, die das Internationale Lyrikfestival Basel veranstaltet.


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