Wolfram Malte Fues: Literatur online
Diskurs/Kommentare > Diskurse > Das Digitalisieren des poetischen Körpers
Wolfram Malte Fues
Literatur
online
Die
französischen Autobahnen werden von einer privaten Gesellschaft betrieben. Ihre
Benutzung kostet also Gebühren. An den
Zahlstellen gibt es nur noch die Vorrichtung für die Kreditkarte, keine mehr
für Münzen und Scheine. Die französischen Tankstellen sind fast immer ohne
Personal und funktionieren über einen Karten-Automaten. Wer also keine
Kreditkarte besitzt … (Vgl. dazu Julien Brygo, Arbeit, Familie, WLAN.
Willkommen in der kontaktlosen Gesellschaft, „LE MONDE diplomatique“, Juni
2020, S. 12f.) Die Corona-Pandemie
bringt der laufenden Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens einen
grossen Sprung nach vorne. Zweidrittel der deutschen Unternehmen wollen das
jetzt erreichte Niveau in Sachen Home-Office und Video-Konferenzen nicht nur
halten, sondern erhöhen. Der Ausnahme-Zustand präfiguriert den
Normal-Zustand. Was heisst das für die
Literatur? Für die Literaturvermittlung?
Nehmen
wir, um uns die Konsequenzen völlig deutlich zu machen, den äussersten Fall an:
Die reale Institution wird in der virtuellen vollständig aufgehoben.
Die
Literaturhäuser verwandeln sich demnach aus realen in virtuelle Räume. Auf
ihren Webseiten erscheinen Diskussions-Veranstaltungen und moderierte Lesungen,
die in einer von rezeptions- und attraktionspolitischen Kriterien bestimmten
Weise miteinander verlinkt sind. Ihre Programm-Leitungen richten einen Blog
ein, in dem sie ihre Entscheidungen begründen und Veranstaltungen beurteilen,
die eben stattgefunden haben. Sie werden um der allgemein verbreiteten
Interaktivität willen eine Kommentar-Funktion hinzufügen müssen, dank der
andere Userinnen* mit ihnen und miteinander kommunizieren, andere Inhalte
posten und verlinken usf. Schriftstellerinnen* und Dichterinnen*, die selber
die Initiative ergreifen wollen, werden sich anpassen, indem sie allein oder
als Gruppe eine Webseite wie die eben beschriebene einrichten und betreiben.
Das
tönt sehr einfach, birgt aber zwei Probleme. Erstens: Wie macht man diese
Angebote im von Offerten überquellenden Netz bekannt? Die Literaturhäuser
verfügen unter Umständen bereits über ein allerdings schwer einzuschätzendes
Stammpublikum; aber wie machen Einzelne oder Gruppen von Schreibenden ihre
Interessentinnen* auf sich aufmerksam? Wohl am wirksamsten durch Anzeigen auf
Plattformen, die Lesende im weitesten Sinn anziehen – aber diese Anzeigen sind
nicht gratis. Damit stehen wir schon vor dem zweiten Problem: der Finanzierung.
Alle diese Webseiten und Blogs verursachen Kosten. Staat und Gesellschaft
werden sich möglicherweise weiterhin an ihnen beteiligen, sie aber gewiss nicht
vollständig übernehmen. Die Userinnen* müssen sich folglich für Website und
Blog anmelden und eine Gebühr entrichten, die ihnen für eine begrenzte Zeit den
Zugang gestattet. Während dieser Zeit können sie Veranstaltungen nicht nur
unmittelbar kommentieren, sondern ihrem Kommentar durch implizite oder
explizite Androhung, die Gebühr nicht mehr zu erneuern, Nachdruck verleihen.
Eigentlich sitzt unter jedem ein (noch) unsichtbarer Like-Knopf; ihn sichtbar
zu machen, wäre nur konsequent. Die Literaturzeitschriften mögen versuchen, dem
das althergebrachte Modell des Abonnements entgegenzusetzen; ob ihnen das auf
die Dauer gelingt, ist mehr als fraglich. Was bedeutet das nun für die
Literatur?
Erstens den
Anfang vom Ende der Autonomie-Ästhetik, letztendlich das Erlöschen ästhetisch
theoretischer Auseinandersetzung überhaupt. An ihre Stelle treten die Gutachten
von Soziologen und die Strategie-Papiere von PR-Experten.
Zweitens den
Ersatz aller Produktions- und Produkt-Ästhetik durch eine radikale und totale
Rezeptions-Ästhetik. Über den Wert oder Unwert eines Werks entscheidet nun
einzig die Anzahl der impliziten oder expliziten Klicks, die es auf sich
vereinigt.
Drittens – was spricht eigentlich dagegen? Die Zeiten, in denen Literatur
sich mit einigem Recht als gesellschaftliche Leitinstanz in politischen,
moralischen, ideologischen Fragen verstehen durfte, sind vorbei. Allem Anschein
nach unwiderruflich. Warum also sollte Literatur nicht endlich werden, was sie
in Wirklichkeit schon seit geraumer Zeit ist – ein Dienstleistungsbetrieb unter
vielen anderen?
Sampigny,
Mitte August 2020