Wolfram Malte Fues: Furcht und Schrecken und Covid-19
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Wolfram Malte Fues
Furcht und Schrecken und Covid-19
Weltweit sterben jedes
Jahr zwischen 290.000 und 645.000 Menschen am Influenza-Virus, also an der
Grippe. Und? Kein Und. Kein allgemeiner Schrecken, kein ökonomischer und
sozialer Belagerungszustand, kein Medien-Hype. Bleiben Sie zu Hause, legen Sie
sich ins Bett, halten Sie sich warm und trinken Sie viel Kamillentee. Corona
hingegen … Woher stammen die tiefe Furcht und der panische Schrecken, die sich
in den hochzivilisierten und hochtechnisierten Gesellschaften ausbreiten? Was
macht den Unterschied?
Wie und wo begegnen wir
heute für gewöhnlich der Natur? In den Bildern auf unserem Smartphone. Auswahl,
Hinsicht, Form dieser Bilder wiederum stammen von jenem Strom von Bildern und
Bildfolgen, der unsere Wahrnehmung an alle möglichen Bildflächen fesselt und
über den keine Brücke zu unmittelbar sinnlicher Erfahrung äusserer und innerer
Natur führt. Was sich unter den Kategorien Idylle und Abenteuer aufrufen,
anschauen, scrollen lässt, ist eine dritte Natur diesseits der realen und der virtuell
empirischen. Bei politisch wachen und wachsamen Mitbürgerinnen* gesellt sich die
Greta-Thunberg-Perspektive als dritte Kategorie hinzu. Die unmittelbar
verständige Orientierung an Differenzen, Analogien und Identitäten der ersten
Natur hebt sich in ein auf wissenschaftlichen Hypothesen beruhendes
System-Konstrukt als zweite auf. Dieses Konstrukt verbindet sich bei den
Umweltschutz Einfordernden mit Ängsten und Hoffnungen, Empathie und Antipathie
zu einer dritten Natur, deren wesentliche Bestimmungen ihre Schwäche gegenüber
menschlichem Anspruch und Anmassung, ihre hohe Verletzlichkeit und ihre ebenso
hohe Schutzbedürftigkeit sind. In diese von jenen drei Kategorien bestimmte dritte
Natur trifft nun Sars-coV-2 als Bote einer ersten, die weder idyllisch noch
erlebnisbietend noch schwach ist, sondern Homo sapiens nachdrücklich bedeutet,
wie vollständig er mit all seinen existentiellen Parametern von ihrem
Wohlwollen abhängt.
Die Inanna der
Babylonier, die Isis der Ägypter, die Kybele der Phönizier, die Diana der
Epheser. Alle Naturgöttinnen des Vorderen Orients haben zwei Gesichter: das
gütige, gnädige, schützende für Saat und Ernte, Zeugung und Geburt, Haus und
Hof, und das grausame, zornige, zerstörende für Überschwemmung und Unwetter,
Krankheiten und Epidemien. Die Kult-Statue der Diana hat man gefunden; sie
trägt einen Gürtel aus Brüsten und auf der Stirne den Blitz.
GAIA, Inbegriff der
Biosphäre, ist ein dissipativ komplexes System, das sich durch Rückkopplung in
einem Gleichgewicht erhält, für das Funktionalität und Individualität keinen
Gegensatz bilden. Macht eine dieser Funktionen, zum Beispiel die Funktion Homo
sapiens, von ihrer Individualität derart exzessiv Gebrauch, dass sie das
Gleichgewicht der Biosphäre nachhaltig zu stören beginnt, findet sich GAIA
daran erinnert, dass sie nicht nur ein komplexes, sondern ein fundamental
komplexes System ist. GAIA hat Zugriff auf ihren Quellcode. Sie kann sich
grundlegend neu programmieren und also neu erfinden, was sie in den vielen
Millionen Jahren ihrer Evolutions-Geschichte schon mehrfach getan hat. Aus der
alten Gestalt schaffen es jedoch nie alle Arten in die neue hinüber. GAIA führt
eine Verlustliste, auf der wissenschaftlicher Schätzung nach inzwischen mehr
als eine Million Arten stehen. Wenn Homo sapiens sich nicht vorsieht, wird er irgendwann
in den nächsten paar hundert Jahren die Liste verlängern. Wir müssen die Natur
nicht schützen. Die schützt sich schon selber. Wir müssen uns vor einer Natur
schützen, für die wir nur eine Spezies unter vielen Millionen anderen sind,
derer sie sich ebenso zu entledigen vermag wie vieler anderer vor ihr. Wir
müssen nicht nur ihre Spielregeln, sondern auch ihr Spiel mit ihren Spielen
begreifen und achten, sonst nimmt sie uns aus dem Spiel. Darauf weist uns
Sars-coV-2 nachdrücklich hin. Verständlich, dass uns dieser Hinweis erschreckt
und das Fürchten lehrt. Wir sollten uns bemühen, aus dieser Lehre die ihr entsprechenden
Folgerungen zu ziehen.
Basel, im April 2020