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Wolfram Malte Fues: Erzählen im digitalen Zeitalter. Wie die Literatur abhanden gehen macht, woran wir (uns) festhalten

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Wolfram Malte Fues

Erzählen im digitalen Zeitalter.
Wie die Literatur abhanden gehen macht, woran wir (uns) festhalten.


Die Mitte klar und dehnbar an den Rändern, so muss es sein.
                                                                                                                               Hermann Melville

Walter Benjamins Behauptung aus dem Jahr 1936, „dass es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht“, ist inzwischen zu einer stehenden Redewendung überall dort geworden, wo es um deren Geschichte und Schicksal geht. Die Voraussetzung, von der die Gültigkeit dieser These abhängt, lautet: „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.“ Also die Sänger der Epen, die Märchen- und Sagen-Erzähler, die ihr Erzählgut von der ihnen vorhergehenden Generation erben und es an die nächstfolgende weitergeben, angereichert und umgebildet durch die geschichtlichen Erfahrungen ihrer Lebenszeit. Erzählen ist ein Produkt der genealogischen Vernunft. Es bedarf der Schrift nicht, es sträubt sich sogar gegen sie, weil die allgemeinen Grundsätze, die sich in ihm aussprechen, nie die Form eines fixierenden Geltungsanspruchs annehmen, sondern stets die einer nie still stehenden, nie  gradlinigen, nie abreissenden Spur.

Damit sind die Folgerungen vorgezeichnet, die sich gemäss Benjamin ziehen lassen. Spätestens mit René Descartes‘ 1637 erscheinendem Discours de la méthode geht die genealogische in die wissenschaftliche Vernunft über und die Kunst des Erzählens somit verloren. An ihre Stelle tritt (wie zu erwarten) die Kunst des Romans. 1605/1615 erscheinen die zwei Teile von Miguel de Cervantes‘ Don Quijote. Die Generationen-Kette der Erzähler ersetzt das Autor-Subjekt, die sich wandelnden und verwandelnden Figuren der Epen, Märchen und Sagen der exemplarische Roman-Held, „worin sich ein bedeutendes und gleichsam unbegrenztes Individuum und in demselben der sonderbare Zustand vor Augen legt“ (Johann Wolfgang von Goethe). Die Erzähl-Kunst der wissenschaftlichen Vernunft wächst demnach aus dem Verlust der Erzähl-Kunst der genealogischen, den sie zu ihren Bedingungen zu kompensieren, mancherorts sogar zu überkompensieren versucht. Darin bleibt auch sie auf Erfahrung angewiesen, genauer: darauf, dass alles, was ihren Helden und (später dann auch) Heldinnen begegnet, vom Individuum als exemplarischem Gattungs-Subjekt erlebend aufgefasst und in allgemeine Mitteilung umgesetzt werden kann. Der Mensch ist nicht das Mass aller Dinge; aber sie lassen sich alle von ihm ermessen.

Abschweifung I: Von hier her liesse sich eine Geschichte des abendländischen Erfahrungs-Subjekts in bezug auf die von ihm entwickelten Erzählformen konzipieren. Vom aggregierenden Dividuum der Oralität über alle Zwischenphasen und Zwischenstufen bis zum sich auf seine Totalität hin systematisierenden Individuum des bürgerlichen Romans. Aber wir wollen die Abschweifung nicht zur Ablenkung werden lassen.

Was aber, wenn die Messkunst des Menschen nicht mehr greift? Wenn den Roman-Helden ihre gesellschaftlichen Erfahrungen nur noch widerfahren wie Naturereignisse „in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper“ (Walter Benjamin)? Wenn, wie im Erlebnis des I. Weltkriegs, das exemplarische zum minimalen Individuum schrumpft? In der deutschen Literatur geben die grossen Erzähler Gegensteuer: Jünger ritualisiert das minimale Individuum, Döblin monumentalisiert es, Musil diskursiviert es. Die grosse Masse der gleichzeitigen deutschen Roman-Produktion ignoriert den Einwand der Geschichte gegen den Geschichts-Stand des Erzählens. Sie fasst ihn allenfalls inhaltlich auf, aber nicht formal.

Nach dem II. Weltkrieg, der die Erfahrungen des ersten mit Erfahrung vertiefend und radikalisierend wiederholt, verläuft die Entwicklung ähnlich. Die sog. ´Nullpunkt-Literatur´, die von Anfang an nicht hält, was ihr Name verspricht, wird bald von Erzählungen und Romanen abgelöst, die sich prinzipiell an Muster und Grundriss des Romans aus dem 19. Jahrhundert orientieren. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die breite Masse der belletristischen Produktion ignoriert den Wandel des exemplarischen Individuums zum minimalen; allenfalls versucht sie, ihn auf der Inhaltsebene zu bewältigen.  Um den Preis selbstverständlich, dass das Erzählen seiner gegenwärtigen Welt die Form seiner Vergangenheit gibt.

Auch das minimale ist und bleibt ein eigenständiges Individuum. Es verfügt über ein Bewusstsein seiner selbst und seiner Welt, das ihm erlaubt, Erfahrungen zu machen, auch wenn diese Erfahrungen ihm fremd und mit seiner ursprünglichen Bewusstheit unvereinbar erscheinen. Was aber, wenn es in eben diesem Besitz aufgestört und angegriffen wird? Wenn, was ihm das Verständnis seiner selbst und seiner Welt ermöglicht, nicht mehr ursprünglich von ihm, sondern von anderswo stammt? Die jüngste Version der Unternehmensvision von Facebook setzt sich vor, dafür zu sorgen, „dass jeder einzelne Mensch ein Ziel und ein Gemeinschaftsgefühl hat“. Dass sein Verständnis seiner selbst und das seiner Welt von den Absichten, Methoden und Prozeduren eines der grössten Konzerne in der Welt von Social Media bestimmt werden. „Facebook provides an alternative to ethics.“ (Adam Arvidsson) Dass demnach an die Stelle der Ideen und Begriffe, Visionen und Vorstellungen des Bewusstseins Algorithmen treten. „Wenn man eine Gesellschaft schafft, die  […] Bewusstsein und Erfahren unterdrückt, um die Ausnahmestellung der menschlichen Person zurückzuweisen, dann wird der Mensch vielleicht wirklich zu einer Maschine.“ (Jaron Lanier) Der Erfolg dieses Projektes, das an die Stelle des minimalen das problematische Individuum rückt, ist ungewiss.

Abschweifung II: Jedes Mitglied einer historisch bestimmten Gesellschaft existiert zuerst und sich zunächst als deren Objekt: von Gesetzen und Regeln, Verträgen, Uebereinkommen, Absprachen. Seine Objektivität erschöpft sich unmittelbar darin, diese Objektivität in seinem privaten Leben anzuerkennen und zu verwirklichen. Da diese Privatheit jedoch ebenso unmittelbar die Negativ-Form derjenigen Allgemeinheit ist, der sie gehorcht, liegt im Gehorsam der Ungehorsam, im schlichten Vollzug der Objektivität der Widerstrand gegen sie bereit. Aeussert sich der Ungehorsam ebenso unmittelbar wie der Gehorsam, so setzt sich das Einzelne dem Allgemeinen, das Private dem Politischen einfach und umstandslos entgegen, um in dessen Allmacht seine Ohnmacht als blindes Schicksal zu erfahren und in ihm unterzugehen. (Das ist der Grundgedanke der griechischen Tragödie bei Sophokles.) In der Gefahr des drohenden Untergangs vermag deren Subjekt jedoch, sich sowohl seiner substantiellen Allgemeinheit als auch deren Negativität bewusst zu werden, sich mit diesem Bewusstsein wissensförmig zu vermitteln und damit dem Allgemeinen, dem es anfänglich unterworfen ist, ein Vermittlungs-Angebot zu machen. (Das ist der Grundgedanke der griechischen Tragödie bei Euripides.) Das besondere Einzelne entdeckt sich als das besonderte Allgemeine, das Private als politisch. (Das ist die Genese dessen, was man in der europäischen Aufklärung das Individuum nennt.) Das Allgemeine (das Mythische, das Magische, das Religiöse) legt in der Form seiner besondernd negativen Einzelheit seine Unmittelbarkeit ab, vermittelt sich mit seinem Inhalt und wendet sich so gegen sich selbst, sich in dieser seiner Negativität ebenso verändernd wie in der und als die Veränderung bestätigend. Das ist das logisch wie ideologisch, ökonomisch, sozial, kulturell geschichtsbildende Prinzip europäischer Moderne. Ausschlaggebend: Die Verselbständigung des unmittelbar mythisch magisch religiösen Allgemeinen in seiner negativen Einzelheit gegen sich selbst. Sorgt nun Facebook dafür, „dass jeder einzelne Mensch ein Ziel und ein Gemeinschaftsgefühl hat“, schieben sich die von ihm kreierten Algorithmen an die Stelle jener Selbständigkeit, indem sie die unmittelbare Erfahrung der einzelnen mit dem gesellschaftlich Allgemeinen als Eingangstür und Anknüpfungspunkt benutzen. Das gesellschaftlich Allgemeine tritt sich selbst in interessierter Affirmation statt in konfrontierender Negation gegenüber, die Einzelnen in einer Weise von sich entfremdend, die ihnen als Selbstgewinn erscheint. Setzt sich dieser Prozess ökonomisch und politisch durch, bringt er das Ende eben jenes modernen Individuums, dem er sich andient. Keineswegs das Ende des Individuums überhaupt. Nur sein Ende als sich kraft selbständiger Reflexion mit allgemeinem Anspruch objektivierenden Subjekts. Als Konsum-Subjekt, dessen Begriff von sich selbst mit demjenigen übereinstimmt, den die Waren-Produktion sich für es von ihm macht, und Waren-Objekt, dessen Daten sich zu möglichst hohem Preis verkaufen lassen, lebt es fort.

Was soll das Erzählen angesichts dieses erneuten Traditionsbruchs tun? Es kann auch ihn leugnen und sich weiterhin in seine Form aus dem (poetischen) Realismus des 19. Jahrhunderts fingieren. Die grosse Masse der Roman-Produktion für den Buchmarkt tut das auch. Was aber muss es tun, wenn es nicht bloß gegenwärtiges, sondern vergegenwärtigendes Erzählen sein will, dem privaten und öffentlichen, psychischen und physischen, ökonomischen und politischen Zustand des problematischen Individuums und seiner Diskursivität angemessen? Es muss die ungewisse Mitte zwischen dem biogenetischen und dem digitalisierten Erfahrungs-Bewusstsein in ihren Konstitutionen und Revolutionen, ihren lokalen wie situativen Regeln und deren Dekonstruktionen diskursiv entfalten und darstellen. Es muss dazu auf die Traditionen des minimalen und des exemplarischen Individuums zurückgreifen, an denen die problematische Mitte des aktuellen Individuums überhaupt ihr Material hat. Es muss schliesslich versuchen, die genealogische Vernunft und ihre Kunst des Erzählens wieder in den Blick zu bekommen, weil es sich nur von dort her seiner eigenen Digitalisierung entziehen kann, die letzten Endes der gesamten wissenschaftlichen Vernunft droht. Gibt es ein Beispiel für derartiges Erzählen? Falls ja: wo und wie?

In Thomas Pynchons 2013 erschienenem Roman Bleeding Edge (ich zitiere nach der 2016 in Hamburg bei Rowohlt publizierten Uebersetzung ins Deutsche)  schaffen sich Lucas und Justin,  zwei junge Nerds, im Deep Web eine virtuelle Welt als Zufluchts- und Ruheort, die sie DeepArcher nennen. (Der Bogenschütze in der Tiefe des Netzes? Der die dort vagabundierenden und variierenden Objekte stillstellt, weil er sie auf den Punkt trifft? Auf den Punkt bringt?)

Abschweifung III: ´bleeding edge´ scheint im Amerikanischen eine stehende Redewendung zu sein, die so viel bedeutet wie ´brandneu´, ,topmodern´, ´technisch auf den aktuell möglichen Stand gebracht´.  „Bleeding edge technology is a category of technologies so new that they could have a high risk of being unreliable and lead adopters to incur greater expense in order to make use of them.” (Wikipedia) Der Begriff taucht im  Roman selber auf. Heisst das, er versteht sich und sein Erzählen ebenfalls als Bleeding edge technology? By the way: „Bleeding Edge“ ist ausserdem ein Multiplayer Kampf-Video-Spiel der britischen Entwicklerin Nina Theory. Anfang Juni 2019 online gegangen.

Um zu bleiben, was es sein soll, muss DeepArcher vor obsessiven Geeks und neugierigen Webcrawlern geschützt werden. Es braucht eine hoch wirksame Sicherheitsarchitektur. Die bekommt es mit dem Global Consciousness Project auch.

„Die Idee stammt aus Princeton. Diese Leute unterhalten ein Netz von dreissig bis vierzig Zufallsgeneratoren. Die von diesen Generatoren ausgegebenen Zahlen gehen rund um die Uhr nach Princeton und werden dort vermischt, so dass eine Kette zufallsgenerierter Zahlen entsteht. Erstklassige Quelle, aussergewöhnlich rein. Gemäss der Theorie, dass unser aller Geist irgendwie miteinander verbunden ist, müssen sich globale Ereignisse oder Katastrophen in der Ziffernfolge bemerkbar machen.“ (BE/431)

Lucas und Justin zapfen diese Quelle für ihr Verschlüsselungs-Bedürfnis an, generieren also den Zufall des Zufalls des Zufalls. Vergeblich. In den Tagen nach 9/11 hört die Ziffernfolge aus Princeton plötzlich auf, zufällig zu sein, was sich auf den Schutzwall von DeepArcher überträgt und ihn durchlässig macht. Was tun? Mit den möglichen Eindringlingen, die selbstverständlich auf der Suche nach dem Quellcode sind? Der Roman gibt eine verblüffende Antwort: ihnen freie Hand geben – „das Ding als Open-Source-Software anbieten“ (BE/432). Wir kommen darauf zurück.

Abschweifung IV: „Das Global Consciousness Project […] ist ein langfristig angelegtes wissenschaftliches Experiment, an dem sich weltweit rund 100 Forscher und Ingenieure beteiligen. Mit Hilfe einer in Princeton entwickelten Technologie und Zufallsgeneratoren werden seit 1998 von einem weltweiten Netzwerk Daten gesammelt, die die Existenz eines ‚globalen Bewusstseins‘ belegen sollen. Nach der Theorie des GCP erzeugen Ereignisse wie etwa Terroranschläge, die starke Emotionen bei vielen Menschen auslösen, messbare Ausschläge von dazu geeigneten Instrumenten. Die Daten werden über das Internet zu einem Server in Princeton übertragen, wo sie archiviert und analysiert werden.“ (Wikipedia) Heisst: Die als elektromagnetische Schwingung definierten menschlichen Emotionen intervenieren die Schwing-Quarze der Generatoren und bilden sich in ihnen ab, sie als Materie der Darstellung benutzend? Womit die neuplatonische Idee der Weltseele wieder erwacht, die „zwischen die geistigen Dinge, die sich nicht bewegen, und zwischen die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die sich bewegen, ausgespannt ist“ (Liber de causis)? Wobei die unverrückbaren geistigen Dinge zu physikalischen Messgeräten und die Dinge, die sich bewegen, zu menschliche Emotionen geworden sind? Heisst weiter: Die potentiellen Eindringlinge von DeepArcher erkennen dieses nun nicht mehr zufällige Schwingungs-Bild als intellektuelles Muster, das sie auffassen und nachbilden können? Heisst dann: Jeder im Netz zu Verschlüsselungs-Zwecken produzierte Zufall kann sich plötzlich zufällig in eine Notwendigkeit verwandeln, die den Schlüssel für die Verschlüsselung bietet, um danach irgendwann ebenso zufällig wieder zu verschwinden? Das Netz kann sich grundsätzlich vor sich selbst in der Form seiner Human-Analogie nicht schützen? Weshalb es am besten den Versuch schlechthin aufgibt, wie „Bleeding Edge“ ihm rät? Heisst schliesslich, dass der Vorgang sich umkehren lässt? Dass man mit der nötigen Kapazität an Generatoren und zu Sendern umfunktionierten Rezeptoren die Emotionen der Gattung modulieren und manipulieren kann?

Was geschieht nun mit DeepArcher, als Justin und Lucas seinen Quellcode in eine Open Source verwandeln, also seine Programmierung frei zugänglich machen? Wer hat Zutritt? „Jeder, der genug Geduld hat, das alles durchzugehen. Wer’s haben will, kann es haben. Es ist schon eine Linux-Version in Arbeit, das wird die Amateure in Scharen aktivieren.“ (BE/451) Mit welchen Folgen? Maxine, die durch die Personen-Vielfalt des Romans leitende Figur, begegnet jetzt in DeepArcher den Avataren ihrer beiden Söhne, die sich hier ein virtuelles New York vor 9/11 geschaffen haben – antiquierter, barmherziger, farbiger, als das reale je gewesen sein wird. Die Präsenz dieses virtuellen New York verdrängt je länger je nachdrücklicher die Präsenz des realen – „als wäre sie wieder und wieder in einer Spirale gefangen, die sie jedes Mal tiefer in die virtuelle Welt zieht […] Jetzt besteht die Möglichkeit, dass DeepArcher im Begriff ist, die gefährliche Kluft zwischen Bildschirm und Gesicht zu schliessen“ (BE/545), also die zwischen der virtuellen  und der realen, der „Fleischersatzwelt“ und der „Fleischwelt“. Die reale berührt sich mit einer virtuellen Welt, an der dank Open Source die „halbe Weltbevölkerung“ herum programmiert: „Alle schreiben, löschen und überschreiben Programmzeilen, verwehren und missbilligen, definieren ein ständig anwachsendes Inventar von Beiträgen zu Graphiken, Anleitungen, Verschlüsselungen, Fluchten.“ (BE/541) DeepArcher. Sprich: Departure.

„Blicken zwei Spiegel einander an, so spielt der Satan seinen liebsten Trick und öffnet hier auf seine Weise […] die Perspektive ins Unendliche.“ (Walter Benjamin) Was wird gespielt? Ein Ver-Wechsel-Spiel. Die reale spiegelt die virtuelle Welt, wiederholt sie aus ihrer Perspektive und zu ihren Bedingungen.  Zugleich aber spiegelt sie sich mitsamt solcher Wiederholung in der virtuellen Welt, die nun diese reale aus ihrer Perspektive und zu ihren Bedingungen wiederholt. Ebenso sehr jedoch spiegelt sich nun diese virtuelle Welt mitsamt solcher Wiederholung der  Wiederholung in der realen, die sie aus ihrer Perspektive und zu ihren Bedingungen wiederholt. Zugleich aber … Ebenso sehr jedoch … Satans Ver-Wechsel-Spiel öffnet die Sicht auf die schlechte Unendlichkeit analoger Repetition, in der alle Strukturen und Verhältnisse so bekannt wie unbekannt, so vertraut wie unvertraut, so harmlos heimisch wie bedrohlich fremd sind.

Die Subjekte dieser Doppel-Welt? Sind unablässig auf der Suche nach einem Leitfaden, der in diesem endlosen Spiegel-Kabinett Mitte markiert – in zunehmender Unruhe darauf bestehend, es müsse eine solche Mitte geben und nicht bloss eine diskrete Menge von unvermutet auftauchenden Mittelpunkten. Was begegnet ihnen in der vergesellschafteten virtuellen Welt? „Ein ständig anwachsendes Inventar von Beiträgen zu Graphiken, Anleitungen, Verschlüsselungen, Fluchten.“ Und in der gesellschaftlich realen Welt? Ein ebenso ständig anwachsendes Inventar von Beiträgen zu strategischen und taktischen Plänen, Prozeduren und Praktiken, Geheimnissen, Geheimabsprachen und Geheimpakten, Fluchtlinien und Verflüchtigungen. In eben derjenigen Welt, in der sie sich ein Leben einrichten müssen,  mit Lebensverhältnissen, von denen sie wollen, dass sie gründlich, dauerhaft, stichhaltig sind und ihnen darin jene Identität bestätigen, in der sie sich kennen, erkennen und wiedererkennen können. Im Privaten von Liebe, Ehe und Familie. Im Oeffentlichen von Beruf und Politik. Im Ideologischen von Metaphysik und Religion. Was widerfährt jedoch diesen Subjekten, wenn alle diese Institutionen und Instanzen mit ihren Mitteln und zu ihren Bedingungen ihre Programme unablässig „schreiben, löschen und überschreiben“, wenn sie ihre Stabilität nur versichern, um sie aufzugeben? Sich immer neu aufzugeben? Welches Selbst- und welches Weltgefühl entwickeln sie in einer Gesellschaft, in der einzig diese Aufgabe stabil bleibt? „Paranoia ist der Knoblauch in der Küche des Lebens – man kann nie genug davon haben.“ (BE/20)

Abschweifung V: „Paranoia involves intense anxious or fearful feelings and thoughts often related to persecution, threat, or conspiracy […] Paranoia can become delusions, when irrational thoughts and beliefs become so fixed that nothing (including contrary evidence) can convince a person that what they think or feel is not true […] Because only thoughts are impacted, a person with delusional disorder can usually work and function in everyday life.”  (mentalhealthamerica.net)  “Delusion” = Täuschung, Verblendung, Wahn. Vom Lateinischen “deludere” = täuschen, verspotten, schwächen, lähmen. In negativer Reflexion stehend mit „alludere“ = leise herankommen, sich spielend nähern, scherzend hinzufügen. Was weil täuschend verspottet, schwächt, lähmt, bildet sich in unmittelbarer Verneinung aus dem, was, leise herankommend, sich scherzend hinzugesellt und spielerisch hinzufügt. Das Paranoische an der Paranoia scheint sprachursprünglich nicht der verblendende Wahn zu sein, sondern der unmittelbare Umschlag des Annehmlichen ins Drohende, des Schönen ins Schreckliche – so unmittelbar, dass er an die Schwelle der Wahrnehmung zu liegen kommt und sich so für seine Subjekte das eine Extrem im anderen bereits geltend macht.

Fasst man Paranoia in dieser Weise auf, wird deutlich, dass und wie sie in der Welt von DeepArcher alle sozialen und ökonomischen Beziehungen prägt, einer Welt, die für diejenige des Romans vorbildgebend ist und mit ihr gemeinsam das Funktions-Schema jener ebenso realen wie virtuellen Doppel-Welt auf-, vor- und nachzeichnet, die unsere Gegenwart bestimmt. Auf den ersten Blick sind alle gesellschaftlichen Institutionen und Apparate, alle Formen ökonomischer, sozialer und kultureller Ordnung, alle öffentliche und private Kommunikation und Interaktion so sicher und deutlich fixiert wie zuletzt in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aber schon unwillkürliche Revision zeigt: „Der Raum unter dem Pflaster […] wird paranoisch langsam ausgehöhlt, innenverkleidet, und die dünne Kruste Strasse, die noch stehenbleibt, sorgfältig abgestützt, um zu verhindern“, dass sie schon beim ersten Schritt einstürzt – aber dann doch, vielleicht schon beim zweiten, irgendwann irgendwie jederzeit. Die Wände des „Paranoidengrabens“ strotzen von sinnfordernden Zeichen, Comics, Diagrammen, Aufrissen, Kurz- und Lang-Geschichten, schlichteren und schwierigeren Programmen (Quell-Codes?): Einladungen, Anweisungen, Aufforderungen. Kann sein, der Graben endet so plötzlich, als hätte es ihn gar nicht gegeben, kann sein, er führt ans Ende der Zivilisation, wie wir sie zu erhalten versuchen, kann aber auch sein, an eine Bar Theke, wo er als Witz erzählt wird. Paranoia nimmt aus der Erfahrung Gestalt an, „dass alles miteinander verknüpft ist […], eine sekundäre Erleuchtung“, dass jedes Moment in Lebensauffassung und Lebenspraxis ebenso trittsicher wie einsturzgefährdet daherkommt, ebenso katastrophisch wie komisch, ebenso trivial wie transzendent, dass Gewissheit und Ungewissheit nicht mehr aufeinander folgen, sondern einander inhärieren. Diese Erfahrung kann zu Ahnungen von „persecution, threat, or conspiracy“ führen, ebenso sehr aber auch zu echten und symbolischen Masken-Festen, zu lebensbejahender Ironie, zu lebenstüchtigem Zynismus, zu erlebnissüchtiger Neugier. Sie kann Wahn sein; ebenso gut aber auch Realitätssinn.

Abschweifung VI: Die obigen Zitate stammen aus Thomas Pynchons 1973 in New York erschienenem Roman „Gravity’s Rainbow“. Ich zitiere nach der 1981 in Hamburg erschienenen Uebersetzung von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz „Die Enden der Parabel“; ebd. S. 1075 und S. 1102.

DeepArcher präfiguriert als eine Art ‚roman en abyme‘ die Welt von Bleeding Edge. Präfiguriert die Welt von Bleeding Edge ihrerseits die Welt bürgerlich kapitalistischer Gesellschaft von heute? In New York? In London? In Paris? In Berlin? So dass, wer diese heutige Welt erzählen will, sich an der in Bleeding Edge entworfenen orientieren kann? Als Grundriss? Als Struktur? Als Kommunikations-Modell und Diskurs-Dispositiv? Als aktualisierbare Perspektive? Kurz: Als Beispiel und Vorbild gebende Form?

Abschweifung VII: Die Frage postuliert einen notwendigen Zusammenhang zwischen Erkennen und Erzählen, zwischen Epistemologie und Narratologie, wie die Erzähl-Forschung sich gerne ausdrückt. Die Bestimmung der Erzähl-Form setzt, heisst es, den Erwerb von Welt-Wissen voraus. Tatsächlich? „Das Werk des Dichters muss eine kleine Welt ausmachen, die der grossen so ähnlich ist, als sie es seyn kann. Nur müssen wir in dieser Nachahmung der grossen Welt mehr sehen können, als wir in der grossen Welt selbst, unserer Schwachheit wegen, zu sehen vermögen.“ (Friedrich von Blanckenburg) DichterInnen sind an sich Personen wie alle anderen auch, mit dem gleichen Sinnen- und Denkvermögen. Was sie mehr sehen, verdanken sie der Erzähl-Form, zu deren Subjekt und Funktion sie sich machen. Der Erzähl-Form, für die sie sich aus gesellschaftlichen wie aus privaten Gründen zunächst entscheiden und die diesen Entscheid im Verlauf ihrer Exposition konkretisiert und korrigiert. Mit Hilfe von deren eigentümlicher Aufmerksamkeit sehen die Erzählenden mehr in unserer Welt als wir, aber sie sehen zugleich das, was wir sehen. Welt-Erkenntnis und Welt-Wissen sind demnach in die Erzähl-Form so aufgehoben, dass sie dort unterscheidend, erweiternd, vertiefend in eine Struktur der Strukturen ausgearbeitet werden, die sichtbar macht, was sich ohne sie leicht übersehen lässt – Ursprünge, Schnittstellen, Tendenzen, die Zukunftszeichen am Horizont und die Mikrologien der Macht. Erzählen setzt demnach den Erwerb von Welt-Wissen nicht voraus, sondern ist selbst eine Form dieses Welt-Wissens, die auf über dieses Wissen hinaus gehende Erkenntnis hin angelegt ist.

Wenn wir nun demgemäss die erzählte Welt von Bleeding Edge als Folie einer erzählbaren Gegenwart nehmen: Welche Erzähl-Form bietet sich für ihre Entfaltung im obigen Sinne an? Bei Rückgriff auf die anfangs mit und nach Benjamin entwickelten Kategorien?

Facebook nimmt sich vor, das biogenetische Bewusstsein des Individuums von Welt und Selbst durch ein algorithmisches schlechthin zu ersetzen. Dadurch wird das biogenetische unmittelbar negativ gesetzt und so ebenso schlechthin bestätigt. Facebook nimmt es ganz und gar, in negativer Totalität für sich in Anspruch. Das exemplarische Gattungs-Subjekt nimmt ex negativo wieder die Gestalt des totalen Individuums an und verdrängt Erfahrung und Gestalt des minimalen. Die zu erzählende Welt verlangt also zunächst eine Erzähl-Sprache, die in Grammatik und Syntax, in Textualität und Rhetorik die allseits ruhig konkretisierende Sinngewissheit wiederholt, die den (poetischen) Realismus des europäischen 19. Jahrhunderts auszeichnet (was die Exposition von Konflikten nicht verhindert, sondern erst ermöglicht). In dieser Welt des unmittelbar gesetzten totalen Individuums und seines biogenetischen (Selbst)Bewusstseins ist aber die Negativität dieser Setzung ständig am Werk – umspielend, unterspülend, einsickernd. Die „Fleischersatzwelt“ macht sich als „Open Source“ in der „Fleischwelt“ ununterbrochen präsent, ihre Präsenz nach deren Bild gestaltend, um es unablässig umzugestalten. Ihre Programmzeilen schieben sich interlinear in die Zeilenfolge der Satzordnung eines selbstgewissen Realismus, scheinbar zufällig, scheinbar notwendig, löschen einander, überschreiben einander, während sie nach der Textgestalt, an der sie parasitieren, manipulierend, variierend, dekonstruierend greifen. All überall werden die herkömmlichen gesellschaftlichen Diskurse in ihrer traditionellen Erzähl-Form codiert und decodiert, verschlüsselt und entschlüsselt, exponiert und komprimiert. Ueberall brechen die „Anleitungen“ und „Fluchten“ der „Fleischersatzwelt“ in die Erzähl-Sprache der „Fleischwelt“ ein, schleichen sich in ihre Grammatik, infiltrieren ihre Syntax, mischen ihre Rhetorik auf. Sinngebend? Kann sein. Sinnlösend? Kann sein. Die Figuren dieser Erzähl-Welt wissen nie genau, woran sie sind, gerade weil sie stets an so vielem tätig sind und sich so vieles an und mit ihnen tut, weil alles miteinander verknüpft wird und sie in es knüpft. Was auch immer sie verfolgen mögen – sie ahnen und spüren, dass es sie verfolgt, auch wenn sie die Verfolgung nur wahrnehmen, als ob sie da gewesen sein werde. Das minimale Individuum kehrt wieder – als ankündigendes Vorzeichen eines totalen, das, von aller Mühe des Strebens nach sich befreit, algorithmisch finales Glück und damit zugleich die finale Bedrohung des biogenetisch möglichen bringt. Die Erzähl-Sprache der zu erzählenden Welt muss sich dieser allgegenwärtigen Paranoia annehmen – hellhörig und einfühlsam, ironisch, satirisch, sarkastisch, in manchmal leise hoffnungsvoller, manchmal leise verzweifelnder Alltäglichkeit. Und wohin flüchten dieses Erzählen und seine Figuren vor solchem nüchternen Taumel? In die „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht“, zur genealogischen Vernunft in Gestalt der dialogischen. Die Subjekte der zu erzählenden Welt retten sich dorthin, wann und wo immer ihre Situation es ihnen erlaubt, und die Erzähl-Welt muss ihnen folgen, nicht ohne die Situation, die die Ausflucht anscheinend erlaubt, in ihren Verführungen und Bedrohungen, ihren hellen und dunklen Tönen auszumalen.

Soweit einige Anregungen zur Gestaltung gegenwartsgerechten Erzählens. Zum Entwurf einer bleeding edge technology? Könnte sein.

Erschienen in:  „Idiome“ 13, hg. von Ralph Klever und Florina Neuner, Berlin 2020, S. 10-18.


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