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Wolfram Malte Fues: Die beste aller möglichen Welten. Leibniz‘ Konzept literarischer Fiktionalität

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Wolfram Malte Fues

Die beste aller möglichen Welten.
Leibniz‘ Konzept literarischer Fiktionalität



Am 1. Dezember 1704 bittet Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel Gottfried Wilhelm Leibniz, er möge in seinem nächsten Brief an Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orléans  das lange Ausbleiben der Römischen Octavia entschuldigen: "Deren Ihr verlangen  nach der 'Octavia' sol nun bald gestillet werden, indem ich an ausfertigung derselben anjetzo ja so beschäftig bin als wie man in Polen und Portugal ist, Könige ab- und einzusetzen." Liselotte von der Pfalz, die "princesse palatine", wird sich noch einige Jahre gedulden müssen. Als die Octavia, Römische Geschichte 1712 endlich erscheint, umfasst sie 6.169 Seiten, in denen sie das Schicksal von 57 Paaren abhandelt. Der Nachsatz spielt auf das aktuelle Zeitgeschehen an, der darin gezogene Vergleich sagt aber auch einiges über Form und Methode der Roman-Fiktion. Wer setzt nach Meinung des 17. Jahrhunderts Könige ein und ab? Letztlich die Vorsehung, mit der Gott seine unerschütterlichen Ratschlüsse in der Geschichte verwirklicht und der gegenüber dem Menschen nur ebenso wache wie ergebene Voraussicht, nicht aber schlaue oder gar durchtriebene Vorsicht von Nutzen ist. Der Romanautor setzt seine Figuren in seine Geschichte wie Gott die seinigen in seine. Beide herrschen nach derselben Methode absolut, und der Kosmos des Romans versinnbildlicht im Kleinen den Kosmos der politischen Welt im Grossen. Allerdings cum grano salis. Zwar schreibt Anton Ulrich am 27. November 1706 an Leibniz: „Seine beiden Schreiben aus Berlin sein mir wol geworden, die so viel verwundersame materien zur Octavia mir geben, dass ich besorge, ich werde einen gantzen tomum noch dazu machen müssen.“ Setzt aber wenige Zeilen später hinzu: „Mich verdreust nichts mehr, als dass ich dergleichen erfindungen in die Octavia nicht bringen können […], weiln ich besorgen müssen, sie würden dem leser zu unwahrscheinlich sein fürgekommen.“ Die Geschichten des Romans dürfen der Geschichte analog sein. Aber sie dürfen ihrer Wahrscheinlichkeit nach mit deren wahrem Schein nicht in Zwiespalt geraten, sonst droht ihnen heftige Kritik von geistlicher Seite: „Wer Romans liest / der liest lügen […] Also solte billich alles Contentement mangeln / nicht aber eine vernünfftige Beschämung. Denn seyn uns nicht die lügen verbotten / und zwar nicht eben die wir thun / sonder auch DIE WIR LIEB HABEN?“ (Gotthard Heidegger, Mythoscopia romantica, Zürich 1698, Kap LX) Liegt der Fall so, hilft dem Roman auch seine Analogie mit der Geschichte nicht mehr. Zwar gilt: „Historienlesen gebieret schöne Wissenschafft / pflantzet andächtige Gedanken über die heilige Providenz dess Höchsten.“ (Ebd. Kap. LIII) Es gilt aber auch: „Romans, die den Zettel auss wahrhafften Historien entlehnen […] machen die warhhaffte Geschichten zu Lügen /[…]/ affrontieren auch höchlich die unschuldige Wahrheit /[…]/ fälschen und ersticken […] auss eigenem Stör-Kopf die Eventus und Verlauffe / die der Höchste […]/ zu seiner Ehr / auf seine Weise geordnet.“ (Ebd. Kap. LXII) Leibniz lässt sich in seiner Rezension der Mythoscopia auf diese Polemik nicht ein. Er erwidert ihr nur, „dass solches eben nicht ungereimt / wenn unter erdichteten Beschreibungen und erzehlungen / schöne ideen /[…]/ vorgestellet werden“. Was Heidegger „Lügen“ nennt, nennt Leibniz „schöne Ideen“. Finden die nun ihren Platz bloss in „erdichteten Beschreibungen und erzehlungen“, deren Geschichten sich mit der Geschichte nicht berühren, oder sind gerade sie es, die jene von Anton Ulrich zur Sprache gebrachte Analogie zwischen Geschichte und Geschichten erzeugen und bewähren?

In seinem Brief vom 10. Februar 1701, der Anton Ulrich über die Rezension informiert, wird Leibniz deutlicher: „J’ay fait dire quelque chose en faveur de bons Romans et j’ay fait adjouter que […] rien ne seroit plus utile et qu’il seroit à souhaiter, que toutes sortes de connoissances fussent traités en façon de Romans, et puisque ce seroit comme des pierreries prises sur un fond d’or.» Die «schönen Ideen» haben sich zu Kenntnissen präzisiert. Zu Kenntnissen aller Art: moralischen, ästhetischen, politischen, wissenschaftlichen, die auf dem Goldgrund der Roman-Erzählung leuchten würden wie Edelsteine. Legt also die Geschichte, die wahrheitsgemässe Historie, den Grund des zu Erzählenden, während das in ihn eingebettete Gold wahrscheinlicher Geschichten die Kenntnisse aller Art zum Leuchten bringt, mit denen die Erzählung sich schmücken soll? (Vielleicht zum Leuchten bringen muss? Der Facetten-Schliff ist seit dem 15. Jahrhundert bekannt; der Brillant-Vollschliff, der das volle Feuer des Edelsteins frei setzt, jedoch erst seit 1910.) Welche Art von Kenntnissen kann dann der Roman am besten brauchen? Und wozu braucht er sie? Am 13. November 1704 schreibt Anton Ulrich an Leibniz: „Dass er mich […] dieses geistlichen Romans wollen theilhaftig machen, rühret sonder zweifel daher, weiln er weiss, dass ich noch mit ausfertigung der Octavia geschäftig bin, da er mir hirdurch neue materie an die Hand geben wollen, meinen Roman damit auszuzieren, dessen ich mich dan auch gantz nützlich bedienen werde.“ Leibniz hat dem Herzog über den Versuch Friedrich I. von Preussen berichtet, eine „Religions-Vereinigung“ zwischen Lutheranern und Reformierten zu bewerkstelligen, und dieser geistliche Roman, dieses Konvolut von theologischen Dogmen, Problemen und Disputen, wird nun dem weltlichen Roman einverleibt. Chinesischer Philosophie widerfährt das Gleiche: „Was den Confutius angehet, so habe ich denselben mit in die Octavia gebracht, da er confusionem hilft innen vermehren.“ (Anton Ulrich an Leibniz am 10. März 1713) Preussische Kirchenpolitik als eine Facette; fernöstliche Moral- und Staatslehre als die andere. Nimmt man dieses Muster exemplarisch, dann benützt der Roman zwar alle Arten von Kenntnissen, bevorzugt aber solche, die sich deutlich voneinander unterscheiden und scharfe Gegensätze miteinander bilden, insgesamt an jene Curiositäten-Kammern erinnernd, deren Exponate allein durch ihre rein unmittelbare Differenz miteinander in Beziehung stehen. Und wozu dient das? Dazu, „die confusionem“ zu vermehren. Die mannigfaltigen Kenntnisse möglichst verschiedener Art hören nicht aufeinander. Sie tauschen sich nicht miteinander aus, sie vermitteln sich nicht, sie verwandeln sich einander nicht an. Sie berühren einander nur, um einander zu bedrängen und zu verdrängen, indem jede besondere darauf drängt, als vollkommen bestimmte Totalität gegenüber allen übrigen und über alle übrigen zu gelten. Das Handlungsfeld des Romans droht sich in ein undurchdringliches Dickicht zu verwandeln. Das scheint jedoch nur so. „Es ist […] eine von der Roman-Macher besten künsten, alles in verwirrung fallen zu lassen, und dann unverhofft herauss zu wickeln.“ (Leibniz an Anton Ulrich am 26. April 1713) Was also leistet der Roman für sein Publikum und dessen Lebens-Erfahrung? Er schildert eine in stehenden Begriffen geordnete Welt, deren Ordnung sich derart übererfüllt, dass sie überfällig zu werden beginnt, um sie dann in unvermuteter Wendung zur Einheit vor dem Zerfall zu retten. „Ganz allgemein kann man feststellen, dass es etwa seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schwieriger wird, den Perfektionsbegriff der alten Welt, die Einheit einer Vielfalt und Diversität  festzuhalten. Die Diversität nimmt auf Kosten der Einheit überhand […] Man spricht verstärkt von diversitas, varietas, auch von corruptio, vicissitudo, decay, weil das Vielfältige und Wechselnde gegen den alten Begriff von Vielfalt innerhalb einer Einheit gesetzt und so als negativ erfahren wird. Die Konturen der Einheit, die die Verschiedenheit umfassen und als je im einzelnen perfekt ausweisen kann, entschwinden.“ (Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik) Die Roman-Form, wie Leibniz und Anton Ulrich sie erörtern, verhält sich diesem Prozess gegenüber konservativ. Sie trägt zwar der Zunahme an Diversität Rechnung, sucht sie aber mit verstärkten Einheits-Strukturen aufzufangen und zu zähmen. Wo aber finden sich solche Strukturen? „Ich wiederhole meine unterthänigste erwehnung“, schreibt Leibniz am 25. Juni 1711 an Anton Ulrich, „dass der Octavia dreyerley dienlich zu seyn scheine: 1. Genealogische Tabellen, 2. Landcarten, 3. ein General-Register, damit man was von einer Person an verschiedenen Orten zerstreuet besser gegen einander halten könne.“ Das leistet einerseits der sauberen Auflösung von „confusion“ Vorschub, verstärkt aber andererseits erheblich die Analogie des Romans mit der Historie. Damit gibt sich Leibniz jedoch noch nicht zufrieden. „Es wäre zu wünschen, dass Sie vor die Aramena sowohl als vor die Octavia […] einen schlüssel, doch nur in geheim und pro confidentioribus aufsetzen möchten.“ (An Anton Ulrich am 21. März 1714) Von John Barclays 1621 erschienener „Argenis“ war ein derartiger Schlüssel in Umlauf, der jede der dort handelnden Persönlichkeiten auf eine historische als deren Idealtyp bezog. Hätte Anton Ulrich den Wunsch erfüllt, wäre sein Roman noch näher an die Historie herangerückt: eine ihn fundierende Geschichts-Erzählung, die im Gold fingierender Modulation die Edelsteine politischer und moralischer, philosophischer und theologischer Kenntnisse zum Leuchten bringt.

Weshalb diese enge Bindung an die Historie? Weil sie, um mit Heidegger zu sprechen, von „der heiligen Providenz des Höchsten“ zeugt, die den einigenden Zusammenhang der gesellschaftlichen Welt jetzt und in Zukunft gewährleistet. Geschichtstheoretisch ausgedrückt: Weil in ihr die Instanz einer gattungsgeschichtlich absoluten Substanz an- und wahrgenommen wird, deren Attribute reine Identität und reine Totalität sind, die in allen Modifikationen der Substanz uneingeschränkt geltend zu ihrem jeweiligen Ausdruck kommen. „Sie werden zugeben, dass nicht alles, was möglich ist, existiert. Kann man sich nicht […] die Romanesken als möglich vorstellen, und trotzdem glaube ich nicht, dass sie alle existieren, wenn wir nicht glauben sollen, die Utopia des Morus oder die Argenis […] seien Geschichte. Ist dies zugestanden, folgt, dass nicht aus dem absoluten Grund der Notwendigkeit, sondern einem anderen (nämlich des Guten, der Ordnung, der Vollkommenheit) andere Mögliche vor anderen Existenz erlangen.“ (Leibniz an de Volder am 23. Juni 1699) Nicht alles, was existieren könnte, existiert wirklich. Aber moralische, politische, ästhetische Modifikationen, die, aus dem relativen Grund der Roman-Erzählung stammend, die Wirkung der Attribute bestätigen, befestigen und erhöhen, geniessen beim Uebergang von der Möglichkeit in die Wirklichkeit Vorrang. Der Roman, liesse sich sagen, zeigt uns die wirklichen Menschen der möglichen Welt – der möglicherweise zu verbessernden.

Bis hierher habe ich den grösseren Teil von Leibniz‘ Antwort auf die ‚confusions‘-Frage zurückbehalten. Der soll jetzt folgen. "Ich hätte zwar wünschen mögen, dass der Roman dieser Zeiten eine bessre entknötung gehabt; aber vielleicht ist er noch nicht zum ende. Und gleichwie E.D. mit Ihrer 'Octavia' noch nicht fertig, so kan Unser Herr Gott auch noch ein paar tomos zu seinem Roman machen, welche zulezt besser lauten möchten. […] Und niemand ahmet unsern Herrn besser nach als ein Erfinder von einem schöhnen Roman." (An Anton Ulrich am 26. April 1713) Leibniz berichtet seinem Dienstherrn aus Wien, wie verärgert man dort über den im März zwischen Spanien und England geschlossenen Assiento-Vertrag ist, weil England damit die Koalition gegen Frankreich verlässt. Aber, tröstet er sich und ihn, es ist ja noch nicht aller Tage Abend, und dieser Trost mündet überraschenderweise in eine Umkehr der Analogie zwischen dem Autor von Geschichten und dem Urheber von Geschichte. Damit wechselt die Analogie ihre logische Form. Sie entpuppt sich nun als Reflexion-in-sich, in der jedes Moment an seinem Gegenüber  sein anderes hat und in dieser Andersheit zugleich mit ihm identisch ist. Aber: „Niemand ahmet unsern Herrn besser nach als ein Erfinder von einem schöhnen Roman", was nur bedeuten kann, dass der Ursprung des Verhältnisses beim absoluten Subjekt der Geschichte liegt, während das zu ihm relative Subjekt der Geschichten ihn – ja, was geschieht nun, wenn jemand jemanden vollkommen fehlerfrei nachahmt, sein Tun rein wiederholt, aber unter der Bestimmung der Andersheit? Wird sich die Andersheit nicht im Prozess der bestätigenden Wieder- und Wieder-Holung an der Selbigkeit niederschlagen und sie verändern? „Repetition is a form of change“, lautet einer der Grund- und Merksätze heutiger Werbe-Strategie. Finden sich bei Leibniz Ueberlegungen, die diesen Gedanken aufnehmen? Die ihn in Richtung des Romans und seiner Wahrheit weiterführen?

Theophilus wirft in den „Nouveaux Essais“ die Frage auf, „ob es mögliche Arten gibt, die dennoch nicht existieren[…] Ich glaube, dass es notwendigerweise Arten gibt, die niemals existiert haben und niemals existieren werden, weil sie mit jener Reihe von Geschöpfen nicht verträglich sind, die Gott ausgewählt hat. Ich glaube aber, dass alle Dinge existieren, die die vollkommene Harmonie des Universums in sich aufnehmen kann.“ Die absolute Reflexion-in-sich, in der „die vollkommene Harmonie des Universums“ sich darstellt und vollzieht, schliesst nichts aus, was in ihr als dem Ort der Existenz überhaupt existieren könnte. Andernfalls wäre sie nicht vollkommen. Aber sie gibt dem, was sich in diesem Vollzug als überschüssig erweist, eine andere Existentialität: keine wirkliche, sondern eine mögliche, keine wahre, sondern eine wahrscheinliche. Wäre nun nicht ein Autor, der zu den Bedingungen seiner Andersheit dem absoluten Autor gegenüber nicht nur das wirklich, sondern auch das möglich Existierende im Universum erkennbar und deutlich macht, der beste, um nicht zu sagen: der verbessernde Nachahmer des Herrn über das Universum, der um dessen absolut harmonischer Wirklichkeit willen unter dem Existentiellen auswählen muss? Und könnte der „Erfinder von einem schöhnen Roman" ein solcher Autor sein? „Man kann sagen, dass derjenige […], der mehr geistvolle Romane gelesen […], mehr Erkenntnis als ein anderer haben wird, wenn es auch kein wahres Wort in all dem gab; denn die Uebung, die er darin besitzt, im Geiste viele Begriffe oder ausdrückliche und aktuelle Ideen darzustellen, macht ihn geeigneter, das zu begreifen, was man ihm vorlegt […] – vorausgesetzt, dass er in jenen Geschichten […] nicht etwas für wahr nimmt, was es nicht ist, und dass diese Eindrücke ihn nicht hindern […], das Existierende vom Möglichen zu unterscheiden.“ (Nouveaux Essais) Auch das Lesen von Romanen „gebieret schöne Wissenschaft“, um mit Gotthard Heidegger zu reden – aber eine ganz andere, als er sich wünscht.

Bleiben wir noch ein wenig länger bei dem Satz, von dem die obigen Ueberlegungen ausgegangen sind und der in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder gern zitiert wird. Sollte das Wort „Erfinder“ uns nicht stutzig machen? Man erfindet ein Verfahren, eine Technik, eine Methode – aber einen Roman? Sollte Leibniz mit dem Wort einen Begriff verbinden, der dann, unserem Satz zufolge, auf den Roman zu beziehen wäre? „Wenn der Erfinder (inventeur) nur eine besondere Wahrheit findet, so ist er nur ein halber Erfinder. Wenn Pythagoras nur beobachtet hätte, dass das Dreieck, dessen Seiten 3,4,5 sind, die Eigenschaft besitzt, dass das Quadrat der Hypothenuse mit denen der beiden Katheten gleich ist (d.h. dass 9+16=25 ist), wäre er dann der Entdecker jener grossen Wahrheit gewesen, die alle rechtwinkligen Dreiecke einschliesst?“ (Nouveaux Essais) Das bedeutet in unserem Fall: Wem es nur das eine oder andere Mal gelingt, eine historische Wahrheit mit ihr entsprechenden Wahrscheinlichkeiten zum Goldgrund zu amalgamieren, ist kein „Erfinder von einem schöhnen Roman“. Wer es werden und sein will, muss jenseits aller zufälligen Entdeckungen eine Methode kennen und beherrschen, an der vollkommenen Harmonie des Universums aus jeder Perspektive seiner wirklichen Existenz diejenigen nur möglichen Existenzen aufzuspüren und darzustellen, die aus dessen Reflexion-in-sich überschüssig werden. Dann aber entwirft und gestaltet der „Erfinder von einem schöhnen Roman“ ein politisches und ästhetisches, moralisches und metaphysisches Wissen, dessen Entwurf und Gestalt von der Erfindung dieser eigentümlichen Methodik vollständig abhängen. Damit bereitet der „schöhne Roman“ der Erzähl-Literatur als selbständigem gesellschaftlichen Feld den Boden und lässt an ihr den Uebergang von der stratifizierten zur funktionalen Gesellschaftsstruktur ahnen. Für die letztere nämlich ist es entscheidend, „dass […] die Rekursivität der autopoietischen Reproduktion sich selbst zu fassen beginnt und eine Schliessung erreicht, von der ab für Politik nur noch Politik, für Kunst nur noch Kunst […] zählen und die entsprechenden gesellschaftsinternen Umwelten […] nur noch […] als Störungen oder Gelegenheiten wahrgenommen werden“ (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft). Wer aber kann besser Störungen beheben und Gelegenheiten ergreifen, die ein gesellschaftliches Teilsystem, das seine Uebereinstimmung mit sich, seine Harmonie zu erhalten und zu vervollkommnen strebt, von seinen Rändern her immer wieder herausfordern, als „der Erfinder von einem schöhnen Roman“? Als jemand, der diese Störungen und jene Gelegenheiten als Möglichkeit für die wirkliche Harmonie der eigenen autopoietischen Welt begreift? Der sie nicht nur begreift, sondern aufsucht? Der nicht von ihnen überrascht wird, sondern sie zu überraschen trachtet? Von hier hat es der Roman wohl nicht mehr weit bis zu seiner bekannten Charakterisierung durch Friedrich von Blanckenburg: „Der Romanendichter zeigt uns in seinem Werke die möglichen Menschen der wirklichen Welt.“ (Versuch über den Roman)




Eine überarbeitete und erweiterte Fassung dieses Vortrags wird in der "Weissen Reihe" der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erscheinen. Er wurde bei der Internationalen Konferenz "Theatrum naturae et artium. Leibniz und die Schauplätze der Aufklärung" am 29. September 2016 gehalten.

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