Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen
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Jan Kuhlbrodt
Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die
Deutschen. Göttingen (Wallstein Verlag) 2020. 400 Seiten. 26,00 Euro.
Paul Celan und die Deutschen
Es ist ein Buch, das einem die Lektüre nicht leicht macht,
weil es einen immer wieder dazu bringt, auch die eigenen Positionen zur
Sprache, zur Geschichte und auch zu Celan zu überprüfen. Dabei ist es überaus
flüssig geschrieben, und es lässt den Leser da stocken, wo der Inhalt es
verlangt. Zum Beispiel das Kapitel über Celans Gedicht Todesfuge wird
mich noch länger, also über die Lektüre des Buches hinaus beschäftigen. Vor
allem, weil ich gerade an diesem Gedicht meine eigene, zuweilen ambivalente
Position überprüfen kann.
Vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland die
Synagogen. Der junge Paul Antschel, der sich später Paul Celan nennt, fährt in
dieser Nacht, oder einen Tag später, von Paris aus, wo er ein Studienjahr
absolviert hat, über Berlin heim nach Czernowitz in die Bukowina. Noch
überquert er das Deutsche Reichsgebiet nur, und er erinnert sich später, oder
ein von ihm geformtes lyrisches Ich, an den Brandgeruch.
Die Nähe des Fremden kommt in diesem Fall einer Bedrohung
gleich.
Diese Begebenheit wird so ziemlich am Anfang des Buches von
Wolfgang Emmerich berichtet. Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen. Aber
diese Begebenheit stellt von vornherein klar, dass dieses Verhältnis mit der
Shoah einen ewigen Riss bekommt, einen Bruch, der nicht zu heilen ist. Dieser
Bruch gehört fortan zur deutschen Geschichte. Auch ein zweites Datum
repräsentiert diesen nie zu schließenden Riss:
Der „20. Jänner“, an dem Büchner seinen Lenz „durchs Gebirg“ gehen ließ, und den Celan in seiner Darmstädter Rede „Der Meridian“ mit dem 20. Januar 1942 korrespon-dieren ließ, dem Datum der sogenannten Wannseekonferenz, auf der in einer schönen Berliner Villa zwei Duzend SS-Offiziere und hohe Ministerialbeamte den Massenmord an den Juden minutiös durchplanten.
So beschreibt Emmerich am Anfang seine Studie.
Das Buch geht entlang der Biografie Celans dem Verhältnis
nach, das der Dichter zu Deutschland und den Deutschen hat, aber auch, was ihm
von anderen zugewiesen und zuweilen untergeschoben wird. Celan wird von seiner
Mutter an die deutsche Sprache und Literatur herangeführt. Aus dieser Beziehung
entwickelt sich, kann man sagen, eine Liebe zur deutschsprachigen Literatur, er
liest gleichermaßen Heine und das Nibelungenlied. Später Hölderlin.
Es sind prägende Leseerfahrungen, wie Emmerich immer wieder anhand
von Celans Gedichten aufzeigt. Aber zu diesen Leseerfahrungen tritt ein zweites
Ereignis, das sie grundlegend überformt.
Im Sommer 1942 komm Celan an einem Wochenende heim aus einem
Arbeitslager, zu dem er verpflichtet wurde, und findet die elterliche Wohnung
leer vor. Die Eltern wurden von der inzwischen auch in der Bukowina wütenden SS
deportiert, und im folgenden Winter wurde die Mutter ermordet. Wie der Vater zu
Tode kam, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen.
Soweit die Ausgangssituation, aus der heraus sich Celan (zu
einem deutschsprachigen Dichter) entwand. Ihm standen sicher auch andere
sprachliche Optionen offen, zumal er einer vielsprachigen Gegend entstammte,
aber er entschied sich für die Sprache der Mutter. Dass diese Sprache letztlich
auch die derer war, die seine Mutter ermordeten, war der Widerspruch, an dem
sich Celans Denken und Dichten entlangarbeiten musste.
Auch in Celans Rezeption von ihm geschätzter oder geachteter
deutscher Dichter prägte sich diese Ambivalenz ein. Etliche Passagen des Buches
sind seiner Lektüre der Gedichte Hölderlins gewidmet und letztlich darüber hinaus
der aus dieser Rezeption entspringenden Begegnungen mit Heidegger. Ein Ambivalenz-Verhältnis,
das nicht endgültig zu klären ist und das in der aktuellen Heidegger-Rezeption
auf verschiedene Art ihren Ausdruck findet. Nicht dass Celans Heidegger-Lektüre
eine exemplarische wäre, aber sie birgt diese Mischung aus Anziehung und
Abstoßung. Letztere resultiert nicht zuletzt daraus, dass Heidegger sich nie
zur deutschen Schuld und in diesem Zusammenhang auch zu seiner eigenen bekannt
hat.
Die Heidegger-Passagen aber sind nur Momente in dieser
umfangreichen Studie. Und wenn die Ermordung der Mutter sie auf der einen Seite
grundiert, so sind die Plagiatsvorwürfe Claire Golls die Grundierung auf der
anderen Seite, die Celans Positionen zu Freunden und Kollegen in den Fünfziger-
und Sechzigerjahren mitbestimmten.
Emmerich bleibt im ganzen Buch über vorsichtig analytisch, gerade
auch in der Darstellung von Celans psychischer Erkrankung, die letztlich im
Suizid endet. Er sieht ihn eingebunden in die sozialen und privaten Strukturen,
sieht aber auch, dass ein in Westdeutschland vorhandener latenter
Antisemitismus zu einer Verstärkung gesundheitlicher Krisen führte.
Ein nötiges Buch!! Unbedingt!