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Wisława Szymborska: Gesammelte Gedichte

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Barbara Zeizinger

Wisława Szymborska: Gesammelte Gedichte. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius und Renate Schmidgall. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2023. 445 Seiten. 25,00 €. ISBN 978-3-518-47338-2

Staunen ohne Pathos
Dieses Jahr wäre die polnische Lyrikerin Wisława Szymborska 100 Jahre alt geworden


Als Wisława Szymborska am 10. Dezember 1996 den Nobelpreis überreicht bekam, war ich als Lehrerin im Rahmen eines Austauschprojektes mit deutschen, polnischen und schwedischen Schülern und Schülerinnen in dem tiefverschneiten, nur ein paar Stunden taghellen Städtchen Arvidsjaur in Nordschweden. Ich erinnere mich, dass wir zu Ehren der Dichterin und um mit der polnischen Delegation die Freude zu teilen, eine Feierstunde abgehalten haben. Die kleine örtliche Bibliothek hatte tatsächlich einen schwedisch-polnischen Band vorrätig, so dass einige Gedichte auf Polnisch und Schwedisch vorgetragen werden konnten. Die deutschen Versionen fasste der polnische Deutschlehrer zusammen. Das ist Europa, dachte ich damals. Literatur, noch dazu Lyrik, als grenzüberschreitende Brücke.
         2012 ist Wisława Szymborska neunundachtzigjährig gestorben. Bis zuletzt hat sie Gedichte geschrieben, die ich jetzt 27 Jahre nach der Arvidjaur-Episode in dem vom Suhrkamp Verlag herausgegebenen Band Gesammelte Gedichte. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius und Renate Schmidgall finden kann. Rund 240 Gedichte, chronologisch anhand der auf Deutsch erschienenen Bücher geordnet, darunter sechs bisher unveröffentlichte, von Renate Schmidgall übersetzte Letzte Gedichte. Im Übrigen kann man in einem Anhang gut nachvollziehen, wer welche Texte übersetzt hat.

Ich suche das Wort lautet der Titel des ersten Kapitels, das zwei Gedichte aus einem nicht herausgegebenen Gedichtband aus dem Jahr 1945 enthält. So ist diese Gesamtausgabe eingerahmt von Gedichten, die bisher nicht veröffentlicht waren, eingerahmt von Gedanken der sehr jungen (22 Jahre) und der sehr alten (89 Jahre) Wisława Szymborska. Und doch berühren sie sich, spannen sozusagen das Dach über die vielen weiteren Gedan-ken, die in den anderen Jahrzehnten entstanden sind: Einst hatte wir die Welt, schreibt die junge Lyrikerin in dem Jahr, in dem für Polen Die Geschichte keine Siegesfanfare geschmettert hat. Aber: Unsere Kriegsbeute ist das Wissen von dieser Welt. Eine Beute, die mit einem Lächeln sich beschreiben lässt. Und im letzten Gedicht, in dem sie von einem Dichter aus dem Westen spricht, sagt sie, ich wusste allmählich mehr als ich sollte / dachte mehr als ich hätte müssen.

Wie Renate Schmidgall in einem Nachwort schreibt, war es Wisława Szymborska wichtig, dass ihre Gedichte von ihren Lesern und Leserinnen verstanden wurden. Sie wolle nichts verkompli-zieren, und dieses Credo findet man in allen ihren Gedichten, in denen es ihr gelingt, große Themen auf das alltägliche Leben zu beziehen und manches Ernstes mit Humor aufzulösen.
     So heißt es in dem Gedicht Was die Wirklichkeit verlangt, in dem sie über Kriege und Schlachten (Cannae, Pearl Harbour, Verdun usw.) spricht, in einer Strophe Wo Stein auf Stein liegt, / dort belagern auch Kinder / den Icecreamwagen und das Gedicht endet mit den Zeilen Auf den tragischen Passstraßen / reißt der Wind den Hut vom Kopf, / und so ist es nun mal - / ein Anblick zum Lachen.
       Diese Leichtigkeit ermöglicht es der Dichterin beispielsweise auch einem Thema wie dem Tod die Schwere zu nehmen. Vom Tod ohne Übertreibung lautet das Gedicht, in dem sie darstellt, dass er trotz aller Bemühungen und trotz der Hilfe der Menschen durch Kriege nicht das erreicht, was er will, denn

Manchmal fehlt ihm die Kraft,
eine Fliege aus der Luft zu fangen.
Gegen manche Raupe
verliert er den Wettkampf im Kriechen.

Und dann gibt es im selben Gedicht noch diese wunderbaren Zeilen:

Es gibt kein solches Leben,
das nicht wenigstens für einen Augenblick
unsterblich wäre.

Überhaupt der Augenblick. Ihm werden in dem Band mehrere Zeilen und der Titel eines ganzen Kapitels gewidmet. In dem Gedicht Kann auch ohne Überschrift bleiben schreibt sie:

Selbst der flüchtige Moment hat Vergangenheit,
seinen Freitag vor dem Samstag,
seinen Mai vor dem Juni.
Seine Horizonte sind so wirklich
wie die im Fernglas des Feldherrn.

Hinzu kommt das Staunen über diese Welt, die sie im Großen und Kleinen darstellt, sie aus den unterschiedlichsten Perspektiven, sei es Lots Frau, sei es ein Sandkorn, beschreibt.
Zum Staunen gesellt sich der Jahrmarkt der Wunder, und zwar ist es für sie:

Ein Alltagswunder:
dass es so viele Alltagswunder gibt.


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