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William Wordsworth: Gedicht, noch ohne Titel, für S.T. Coleridge

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Jan Kuhlbrodt

Zu Wordsworths Langgedicht



Gerade im Sommer erschienen: Gedicht, noch ohne Titel, für S.T Coleridge. so der Name der deutschen Übersetzung des Poems The 1805 Prelude von William Wordsworth. Schon die Widmung war mir eine große Verheißung, stammen doch von Coleridge einige meiner Lieblingsgedichte, allen voran Kubla Khan, das mich in seiner Musikalität fast niederknien lässt.


Für mich ist Wordsworths Prelude ein Buch des Jahres, wenn nicht das Buch, auch wenn es anderen textlich-musikalischen Maßgaben folgt als das erwähnte Gedicht von Coleridge. Ist es doch schon mal ein Langgedicht auf 333 Seiten, nimmt philosophische Positionen auf, schildert Geschichte um 1800, also keinen ganz unwichtigen Abschnitt in der Entwicklung Europas und für heutige Zeitgenossen doch überraschend. Zum Beispiel die Bedeutung der Gemeinde Goslar, bekannt durch das untergärige Bier, das auch heute noch in verschiedenen Leipziger Wirtschaften ausgeschenkt wird. Überhaupt eine unterschwellige Faszination für Deutschland, die die englische Romantik wohl teilte, die sich im Fortgang der Geschichte verlor.

Zum Gedicht selbst kommen Glossar und Nachwort, in dem Wolfgang Schlüter die Prinzipien seines Übersetzens offenlegt. Die vorliegende Übertragung versteht sich als literarische Arbeit, schreibt Schlüter, wobei das Wort literarisch hervorgehoben ist. Faszinierend dabei ohnehin Schlüters Umgang mit dem Blankvers. Denn er rettet die erzählerische Qualität dieses Mediums ins Deutsche, indem er einen Vers entwickelt, der sich nicht sklavisch an die Vorgaben hält, sondern die Anzahl der geforderten Hebungen quasi im Durchschnitt gewährleistet. Das schafft Lesefluss und zumindest bei mir auch gesteigerte Leselust. Ich ließ mich bei der ersten Lektüre forttragen.

Das Gedicht changiert zwischen Lebensbeschreibung, Stadtbild oder Landschaftsbild und philosophischem Lehrgedicht, und entwickelt balladeske Passagen, in denen sich Humor und zuweilen sogar Situationskomik freisetzt. Die Beschreibung einer Alpenpassage des Protagonisten führt dies alles auf wunderbare Weise eng. Für mich einer der Höhepunkte des Buches: die Stimmung im postrevolutionären Frankreich, Debatten und Gespräche in Dorf und Kleinstadtkneipen, der Aufbruch über die Schweizer Alpen und das unvermittelte Erkennen im Gespräch mit einem Bauern, den Gipfel längst überschritten zu haben. Ein Highlight in meinem Leseleben und ein Beweis für die narrativen Qualitäten des Verses überhaupt und des Wordsworth/Schlüterschen im speziellen.

Dem gegenüber die Beschreibung des studentischen Londons, die Abkehr, Flucht ins Ländliche gewissermaßen und die Wiederkunft. Man ist versucht auch einen Text über dieses Buch in Verse zu fassen. Konservativismus gepaart mit progressiver Grundhaltung, oder umgekehrt. Eine Quadratur des Kreises, wie sie wohl nur einem englischen Romantiker gelingen konnte.

Mehr als fünfzig Lebensjahre hindurch quälte sich Wordsworth mit diesem utopischen Recluse-Projekt, vergrub es, an seiner Realisierung zweifelnd, in der Schublade, holte es wieder hervor … und starb schließlich am 23. April 1850 im Alter von 80 Jahren, ohne auch nur das Richtfest der Vorhalle, die Publikation des „Vorspiels“ erlebt zu haben.

Der Abbruch und das Ende eines Lebens vervollständigen gewissermaßen ein Werk von außen. Auch Pounds Cantos sind ein Beispiel, und zum Zeichen der Vollständigkeit gerinnt die vollständige Übersetzung des Vorliegenden, in diesem Fall durch Schlüter 165 Jahre nach dem Tod des Verfassers. Und diese Vollständigkeit macht mich zum glücklichen Leser.


William Wordsworth: Gedicht, noch ohne Titel, für S. T. Coleridge (The 1850 Prelude). Deutsch. Übers. von Wolfgang Schlüter. Berlin (Matthes & Seitz) 2015. 378 Seiten. 39,90 Euro.

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