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Wilfred Owen: Die Erbärmlichkeit des Krieges

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Günter Plessow

PORTIONIERTE PROSA / EIN VORWORT


Ein Titel, zwei Themen, verschränkt.


PORTIONIERTE PROSA wäre ein Titel, den man über die allermeisten Gedichte und über noch mehr Übersetzungen, die im 20sten oder 21sten Jahrhundert entstanden, setzen könnte (Ausnahmen bestätigen die Regel). Von dem, was Gedichte in der Vorzeit ausgemacht hat, von ihren spezifischen Formen, ist fast nur noch eine Portionierung in Zeilen beliebiger Länge übrig geblieben, die ein Gedicht von anderen Texten unterscheidet. (Obwohl der Flattersatz sich heute ja auch in der Prosa großer Beliebtheit erfreut.) Mit dem Reim ist (nicht immer, aber häufiger, als einem lieb sein kann) auch der Rhythmus in Verruf und, Werbetexte und Schlager ausgenommen, nahezu in Vergessenheit geraten, und mit ihm alles Regelhafte, das einmal Voraussetzung war, künstlerische Äußerungen der ‘Welt’ gegenüber zu behaupten, von anderen Artikulationen unterscheidbar, sprechbar und vor allem erinnerbar zu machen, ist doch der ganze Reichtum syntaktischer Differenzierung lange vor der Erfindung der Schrift aus sol-chen Motiven heraus entwickelt worden.  Ein weites Feld. Zunächst Feststellung für sich, zugleich aber auch Vorwort zu dem, was folgt.

EIN VORWORT ist ebenfalls ein weites Feld. Da gibt es die einen, die immer zuerst das Vorwort lesen. Oder das Nachwort. Oder beide und natürlich den Klappentext. Jedenfalls das, was über die Gedichte zusammenfassend/werbend/wertend befunden wird. Während andere es vorziehen, erst einmal die Gedichte selber zu lesen, wenigsten einige davon, ehe sie sich fragen, was sie da lesen und wie es einzuordnen wäre. Es gibt allerdings Vorworte, an denen man kaum vorbei kommt, weil sie Programm sind, das ganze Buch prägen und zu denken geben, und um so eines geht es hier.


Das Buch heißt:  Wilfred Owen 1893–1918, DIE/ ERBÄRMLICHKEIT/DES/KRIEGES. Ein Gedichtbuch. Es erschien 2014 in Berlin im Verlagshaus J. Frank. Die Gedichte wurden vom Verleger selbst übersetzt und herausgegeben und von Andrea Schmidt illustriert. Das Verlagshaus J. Frank gehörte bisher zu denen, die sich ausschließlich der zeit-genössischen Literatur einschließlich der Lyrik verschrieben haben und es lieben, Typographie und Buchgraphik unkonventionell einzusetzen. Mit diesem Buch wird erfreu-licherweise nun auch ein Werk der jüngeren Literaturgeschichte einbezogen. Pappbindung und Kistenschrift des Einbands erinnern an Rohheit und Knappheit in Kriegszeiten, abstrakte graphische Strukturen durchschießen den Text. Der Aufwind, den das Thema ‘Erster Weltkrieg’ derzeit genießt, wird genutzt, um die berühmten Gedichte Wilfred Owens 100 Jahre nach ihrer Entstehung auch in Deutschland übersetzt vorzulegen.

Das Vorwort stammt von Wilfred Owen selbst, der es entwarf, als er einige seiner Kriegsgedichte für eine Veröffentlichung zusammenstellte, zu der es nicht kam, weil kriegskritische Gedichte dieser Art in England weder während noch nach dem ‘Great War’ publizierbar waren. Jahre sollten vergehen, bis sie in Anthologien und Einzelausgaben (1931, 1965, 1973, 1983, 2009, 2013) ans Tageslicht traten. Frank übernimmt dieses Vorwort. Es ist kurz und steht auf Seite 07, zweisprachig, wie es sich gehört:  oben, schwarz gedruckt und gut lesbar, die deutsche Übersetzung; unten, hellbräunlich gedruckt, fußnotenartig zusammengepreßt und dadurch sehr schwer lesbar, das Original. Zitat:

VORWORT
Dieses Buch handelt nicht von Helden. Die englische Dichtung ist noch nicht soweit, von ihnen zu sprechen.
Weder handelt es von Taten, von Ländern, noch von irgendetwas wie Ehre, Ruhm, Majestäten, Herrschaft, Macht oder Kraft, nur von Krieg.

Vor allem befasse ich mich nicht mit Dichtung.
Es geht mir um den Krieg und um die Erbärmlichkeit des Krieges.
Die Poesie findet sich in der Erbärmlichkeit.

          Allerdings sind diese Klagelieder in keinem Sinne tröstlich für diese Generation. Vielleicht sind sie es für die nächste. Alles, was ein Dichter heute kann, ist warnen. Daher müssen wahre Dichter wahrhaftig sein.
          (Wenn ich angenommen hätte, daß dieses Buch überdauert, hätte ich vermutlich ihre richtigen Namen geschrieben ;  aber wenn sein Sinn überdauert – er Preußen überdauert – werden meine Wünsche und jene Namen sich frischere Felder verdient haben als diese in Flandern…)


Preface // This book is not about heroes. English Poetry is not yet fit to speak of them. / Nor is it about deeds, or lands, nor anything about glory, honour, might, majesty, dominion, or power, except War. / Above all I am not concerned with Poetry. / My subject is War, and the pity of War. / The Poetry is in the Pity. / Yet these elegies are to this generation in no sense consolatory. They may be to the next. All a poet can do today is warn. That is why the true Poets must be truthful. / (If I thought the letter of this book would last, I might have used proper names;  but if the spirit of it survives – survives Prussia – my ambition and those names will have achieved fresher fields than Flanders…)

Das Zitat imitiert das Satzbild, u.a. um zu zeigen, wie das Original hier an die zweite Stelle gesetzt und ins Kleingedruckte verbannt wird. Das wiederholt sich bei den Gedichten und ist bedauerlich, weil es ein vergleichendes Lesen von Original und Übersetzung nicht eben nahelegt. Doch zurück zum Vorwort, das dem Herausgeber so wichtig ist, daß er es noch zweimal zitiert, im Nachwort und im Klappentext auf der Rückseite des Einbands. In seinem sonst sehr ausführlichen Nachwort erläutert Frank nur an einer Stelle ganz kurz, was er aus diesem Vorwort (und aus einigen Briefen Owens, die er ausgewählt hat) schließt und welche Übersetzungs-maximen er daraus ableitet. Zitat Seite 128:

Owens frühe Gedichte, die in allen Gesamtausgaben als ‘Minor Poems and Juvenalia’ überschrieben sind – und somit selbstverständlich nicht in eine gute Gesamtausgabe gehören –, sind gewöhnliche Gedichte, selbst- und keatsverliebt, Gedichte von adoleszenter Innerlichkeit ohne Ziel, ohne originellen Gegenstand, ohne Reiz. Selbst in den Gedichten, die in diesem Band übersetzt wurden, sind Nachklänge der Romantic Poets zu vernehmen – vor allem im Formalen. Die Bedeutung Owens liegt allerdings in der inhaltlichen Innovation, nicht zuletzt deshalb hat sich der Übersetzer entschieden, den formalen Rahmen der Gedichte, die Merkmale ihrer Formen, in die Gedichte hineinzuverschieben: Endreime werden zu Binnenreimen, Assonanzen und Alliterationen verschoben, Rhythmen variiert.
Es kann mit gutem Recht gesagt werden, daß das Erleben des Krieges aus einem Möchtegern-Dichter einen Dichter gemacht hat. […]


*


Das sind Sätze, die aufhorchen lassen, jedenfalls wenn man (wie der Verf.) dazu neigt, Portionierte Prosa mit Skepsis zur Kenntnis zu nehmen. Mit seinem letzten Satz hat Frank (soweit man das anhand des Auswahlbands beurteilen kann) zweifellos recht:  bei Owen war es der Schock der Schützengrabenerlebnisse, der (s)einen Reifungsprozeß in Gang gesetzt hat. Einen ähnlichen Schock hatte, eine Generation später, Nelly Sachs angesichts der Greuel des zweiten Weltkriegs zu verarbeiten. Auch bei ihr gibt es ja diesen unübersehbaren Grabenbruch zwischen den Juvenalia und ihrem heute weithin geschätzten Werk. Ob Frank mit dem, was er über die Nachklänge romantischer Poeten (Keats wird namentlich erwähnt) und den minimalen Stellenwert des Formalen ebenfalls recht hat, das müßte sich am Text exemplarisch überprüfen lassen.  


Grundsätzlich ist man versucht zu widersprechen und zu fragen:  Wo denn sonst, wenn nicht im Formalen, gäbe ein Dichter sich als Dichter zu erkennen? Oder gehört der Verf. mit dieser Gegenfrage zu einer kleinen radikalen Minderheit, wenn er sich selbst die aufregendste inhaltliche Innovation nicht ohne formale Fassung, wie auch immer sie gestaltet sei, vorstellen kann? Form, das Tragende (und Übertragbare), und Stoff, das Getragene, Geprägte – sind das nicht ganz allgemein ‘Kategorien der Vorstellung’, auch ohne Aristoteles oder Kant zu bemühen? Wo gäbe es denn auf der Welt auch nur ein einziges Phänomen, das beschreibbar wäre, ohne daß Form&Stoff, miteinander verschränkt (mutually, würden die Engländer sagen), ins Spiel kämen? Und wie kann es angehen, daß ausgerechnet im Sprachlichen (vom Urschrei bis zum Jetztidiom) davon, und sei es auch nur ausnahmsweise, abgesehen werden könne? Kann man einen formalen Rahmen (der etwas von außen faßt) überhaupt in die Gedichte hinein verschieben? Können Binnenreime, Assonanzen, Alliterationen eine Fassung ersetzen? Und wie kann ein Literat vom Rhythmus des Gesagten absehen? Müßte er nicht, wenn er schon glaubt, keine Reime mehr über die Lippen bringen zu dürfen, alle Hebel in Bewegung setzen, um wenigstens den Rhythmus zu erfassen und zu referieren? Rhythmus, auch freier Rhythmus, allgemeiner gesagt ‘gebundene Sprache’, ist das nicht das einzige, was das ‘flüchtige Wort’ für eine Weile präsent hält? Diese Art Fassung ist ja als Sprechduktus nicht einmal bei literarischer Prosa wegzudenken. Und doch scheint sich Frank des Primats der inhaltlichen Innovation so sicher zu sein, daß er seine Verdrängung des Formalen nicht nur als eine Selbstverständlichkeit hinstellt, sondern sogar so weit geht, den originalen Text in Fußnoten zu verbannen, als sei er allenfalls für Philologen interessant. Tief aufgewühlt von der schonungslosen Realistik dessen, was Owen in Briefen und Gedichten berichtet hat, präsentiert er uns deutsche Prosazeilen, die sich nur marginal von einer Interlinearversion unterscheiden, in der die Länge der Zeilen keine Rolle spielt, wenn nur jedes einzelne Wort zu seinem Recht kommt.  


Schauen wir also ins Kleingedruckte, so mühsam es ist. Sehen wir uns die Gedichte selbst näher an. Nur von außen. Nur auf ihre Fassung hin. Vielleicht hat Frank das Vorwort Owens ja doch ein wenig ‘überinterpretiert’. Nehmen wir das erste Gedicht À Terre. Owen schreibt weder Prosa noch freien Rhythmus, sondern einen jambischen Pentameter und reimt, ja, er reimt, wenn auch auf eine sehr eigene und sehr bemerkenswerte Art. Während gebräuchliche Endreime die Vokale (nebst auslautenden Konsonanten) beibehalten, wechselt er die Vokale und behält sowohl an- wie auslautende Konsonanten bei: reimt shall auf shell, brats auf brutes, soup auf soap, shower auf share …, reimt also alliterativ nach dem Prinzip ‘dicht daneben ist auch vorbei’ und deutet damit an, wie einem im Schützengraben die Reime verrutschen, wenn die Kugeln um die Ohren pfeifen. Das zweite Gedicht Strange Meeting ist völlig analog gebaut: Pentameter, die bis auf die geschilderten ‘Konsonantenreime’ kanonisch streng gebaut sind. Das dritte Gedicht Mental Cases ist ebenfalls fünfhebig, verwendet aber Trochäen und verzichtet auf jede Art von Endreim. Das vierte Gedicht Disabled verwendet wiederum jambische Pentameter und gekreuzte Endreime. Das Gleiche gilt von dem fünften Gedicht Asleep: jambische Pentameter und konventionelle Kreuzreime. Und nicht anders verfährt Owen beim sechsten, seinem sarkastischen Dulce et decorum est. Wenn wir weiter blättern, finden wir fast ausschließlich Kanonisches: Sonette, Terzinen, Balladenstrophen; weit überwiegend jambische Pentameter, gelegentlich Trochäen, konventionell oder alliterativ gereimt wie oben beschrieben. Mit anderen Worten überall Nachklang. Aber ist das wirklich nur Spätromantik und deshalb aus der Moderne zu verdammen? Ist es nicht einfach kanonisches Sprechen? Ex negativo, versteht sich. Das ist das Handwerkszeug des Dichters. Selbst wo sich Owen im zitierten Vorwort dagegen verwahrt, es gehe ihm um Poetry, großgeschrieben, kann er nicht umhin, elegies vorzulegen: poetry, kleingeschrieben, zu deutsch Gemachtes, und das braucht seine Regeln auch da, wo es mit ihnen spielt bzw. wo es sie aufs Spiel setzt.


*


Keine Frage, daß Frank genau weiß, was er hier alles in den Wind schlägt. (Bei einigen Gedichten, etwa den Sonetten, deutet ein Zeilenversatz (Einzug) an, wo im Original die Reime wechseln.) Er nimmt es bewußt in Kauf und entscheidet sich gegen den Kanon für einen der einzelnen Vokabel verpflichteten Prosaton. Vielleicht weil er glaubt, den Geist dieser Gedichte nur dann zu treffen, wenn er das Vorgefundene zu einem so wesentlichen Teil ignoriert. Weil er die Gedichte so hören möchte. So anti-metrisch, wie es ihn ‘die Moderne’ seit 100 Jahren fast unisono gelehrt hat. Vielleicht aber auch deshalb, weil er weiß, daß eine metrische Übersetzung immer nur ein Übersetzungsversuch sein kann, weil wegen der leidigen ‘Raum-not’ (englischer Text ist silben-ärmer als ein deutscher) immer einiges Semantische auf der Strecke bleiben ‘muß’.  
Was ließe sich dem entgegenhalten? Vor allem, daß eine Übersetzung, Raumnot hin oder her, ohnehin nie eine Wieder-holung, eine Wieder-gabe im Maßstab 1:1 sein kann. Weder eine metrische noch eine non-metrische Übersetzung kann das leisten. Zwei unterschiedliche Idiome können weder qualitativ noch quantitativ ohne Rest in einander aufgehen. Der metrische Übersetzungsversuch, der das Silbenquantum und die Silbenordnung beibehält, tut das, weil Ton, Tempo und Sprechweise des Dichters daran gebunden sind. Je nachdem, ob oder ob nicht und wenn ja welchen kanonischen Sprechduktus ein Dichter wählt, verändert sich die Aufgabenstellung des Übersetzers. Er ‘beantwortet’ den freien Text frei und den gebundenen gebunden. Und wenn es um ein vorgegebenes Silbenquantum und einen vorgegebenen Sprechrhythmus geht, kann er nicht an jeder Vokabel des Originals festhalten, sondern muß versuchen, 1. den Sinn des Satzes oder der Phrase komplex zu erfassen und 2. den Ton zu treffen. Schlüsselwörter des Originals wird er versuchen beizubehalten, andere Vokabeln wird er ‘opfern’ und durch verwandte ersetzen müssen. Dieser Versuch ist immer riskant, ein Balanceakt und kann scheitern. Nicht anders als das Gedicht.


Dieses Risiko geht der non-metrisch Übersetzende anscheinend nicht in gleichem Ausmaß ein, und doch täuscht er sich, wenn er glaubt, daß seine Art, am Wortlaut (auf Kosten von Rhythmus und Metrum) festzuhalten, den Sinn besser oder richtiger erfasse. Denn der metrisch schreibende Autor (hier Owen) hat seine Wortwahl ja nicht ‘an sich’, sondern im Hinblick auf das Metrum, in dem er spricht, gewählt. Gerade als englischer Autor, der über ein besonders umfangreiches terminologisches Arsenal verfügt, ‘muß’ er wählen und wählt, vermutlich ohne allzu lange darüber nachzusinnen, metrum-konform. D.h. es ist gar nicht so ausgemacht, ob eine wortgetreue Übersetzung dem Gemeinten vollkommener entspricht.  

Fazit und Kurzfassung: Die portionierte Prosa, mit der wir begonnen haben, ist von Johannes CS Frank in diesem interessanten Buch bewußt an die Stelle der metrischen Bindung des Originals gesetzt, die im Kleingedruckten zu finden ist. Nachklänge hat er das genannt und ist zur Tagesordnung übergegangen, zur inhaltlichen Innovation. Hat den Geist dieser Gedichte gemeint (ihre Botschaft aufgenommen), aber ihren Ton, ihren Duktus verdrängt. Denn nicht nur, daß Owen Antikriegsgedichte geschrieben hat, sondern auch wie er sie formuliert hat, nämlich metrisch, macht sein Werk aus und hätte die Aufmerksamkeit des Übersetzers verdient. Owen hat die kanonischen Formen der gestanzten Heldenverehrungspoesie genutzt, um in ihnen gegen Verlogenheit zu opponieren. The Poetry is in the Pity, hatte Owen geschrieben. Gleichungen kann man auch umdrehen. De facto hat er es getan: The Pity is in the Poetry. Eine Versatilität, die hier, so verdienstvoll das Unternehmen auch sein mag, nicht erkennbar werden kann.

12/2014

Wilfred Owen: Die Erbärmlichkeit des Krieges. Gedichte & Briefe. Übersetzung & Nachwort: Johannes CS Frank. Berlin (Verlagshaus J. Frank / Edition ReVers) 2014. 144 Seiten. 14,90 Euro.

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