Werner Weimar-Mazur: vivisektionen
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Holger Benkel
Werner
Weimar-Mazur: vivisektionen. Gedichte, mit einem Nachwort von Jan Kuhlbrodt. Dortmund (Edition
Offenes Feld) 2023. 120 Seiten. 20,00 Euro (ISBN 9783756838196).
erdschichten und sternenhimmel
der
band beginnt mit dem gedicht »“… verse näher an sich heranlassen …“ / für christoph
meckel (* 12. Juni 1935, † 29. Januar 2020)«,
zwei tage nach dessen tod geschrieben. das zitat stammt aus einem brief des
freiburger dichters meckel an weimar-mazur aus dem jahr 2011. man läßt gute
gedichte nahe an sich heran, weil sie von fernher kommen, aus den tiefen der
seele eines dichters. weimar-mazur stand seit 2010 in einem austausch mit
meckel. im gedicht für meckel heißt es: »ich halte die wasser an / den wind /
ich halte den schnee an / ich unterbreche die blutspur des pumas in den bergen
/ ich folge dem formationsflug der kraniche / auf der gekräuselten
wasseroberfläche eines fremden meeres / ich lausche dem surren eines
immenvogels / im kelch einer glockenblume«. liest man einen dichter nach seinem
tod weiter oder schreibt über ihn, aufersteht und überlebt er in seinem leser
und interpreten.
gedichte
liefern topographien der seelenwelt. weimar-mazur, der als geologe arbeitete,
denkt auch schreibend in strukturen und schichtungen. das geologische interesse
hat bei deutschsprachigen schriftstellern tradition, von johann wolfgang goethe
über novalis, clemens brentano, heinrich heine und adalbert stifter bis zu
peter handke. ein lyriker mit vielen geologischen motiven ist der französische
spätsurrealist jüdischer herkunft andré du bouchet, der unter anderem auf dem
kalkplateau des vexin im nordwesten frankreichs gelebt hat, den aber in
deutschland nur wenige kennen, obwohl paul celan ihn übersetzte.
am
anfang des bandes ruft weimar-mazur arthur rimbaud auf: »Es
geht darum, durch Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen … Es
ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke. Man sollte sagen: Es denkt mich … Ich
ist ein anderer.« der poet sei »beladen mit der
ganzen Menschheit, sogar mit den Tieren. Er muss, was er dichtend entdeckt,
fühlbar machen, tastbar, hörbar«, und: »Eine Sprache finden – und wenn
schließlich jedes Wort ein Gedanke ist, dann kommt auch die Zeit einer
Universalsprache.« dichter sprechen in bruchstücken und splittern einer
universellen sprache. das ist viel und mehr kaum möglich.
wer
werner weimar-mazurs literarische entwicklung, so die motivischen und
stilistischen veränderungen, über jahre hinweg miterlebt hat, sieht, daß seine
gedichte stetig komplexer und ausgreifender wurden. bereits in »heimwehe«
(2022) finden wir langgedichte, zudem bewegte er sich zunehmend aus regionalem
heraus ins weltkulturelle, und zwar räumlich wie zeitlich. inzwischen gleichen
seine gedichte, die details aus verschiedenen kulturen und kulturschichten
verweben, teppichen oder batiken.
in
»[wenn die minze wieder blüht]« berichtet er: »als kind spielte ich am liebsten auf
dem friedhof«. mein kindergarten lag über einem alten friedhof. direkt daneben
waren noch parkartige reste der früheren friedhofsanlage. die einstigen
grabpflanzen hatten sich allein weiter verbreitet und wuchsen neben wilden
blumen, gräsern und kräutern. efeu rankte bis hinauf in die baumwipfel. für
mich als kind bildeten kindergarten und fried-hof kontraste. der kindergarten
verlangte ordnung, disziplin, pflichterfüllung und gruppenleben, folgte also
algorithmen der damaligen zeit, während der friedhof mit seinen geheimnis-vollen
halbdunklen ecken und bizarr verwitterten grabsteinen etwas überwirkliches
hatte, das die phantasie anregte. bei weimar-mazur könnte das ähnlich gewesen
sein.
Neben
meckel und rimbaud ließ er sich für die gedichte in diesem band von texten und
textpassagen bei friedrich hölderlin, josephine verstille hopper, halldór
laxness, paul celan, pier paolo passolini, zbigniew herbert, ingeborg bachmann,
jürgen becker, sarah kirsch, nicolas born, peter kurzeck und bernardo serrano
velarde anregen. außerdem bezieht er sich auf texte und textstellen bei nancy
hünger aus thüringen, marzanna kielar, jovana nastasijević, lika kevlishvili,
katerina poladjan, yamen hussein und lina atfah. Er greift also auf heutige
mittelost-undsüdosteuropäische und vorderorientalische lyriker und insbesondere
lyrikerinnen zurück, die, polnischer, serbischer, georgischer, armenischer und zudem
syrischer herkunft, aus katholisch, christlich orthodox oder islamisch
geprägten kulturen mit starken bildwelten kommen.
etliche
motive bei weimar-mazur entstammen orientalischen kulturen, so der duft der
früchte, kräuter und tees, der ans glückliche arabien erinnert, und bilden
zugleich einen kontrast zu repressionen, kriegen und bürgerkriegen in den
betreffenden ländern, etwa in »seidenstraße virtuell«: »mädchen in
safrankleidern / kardamon und weihrauch würzige kräuter / auch opium gegen die
schmerzen und für das vergessen / von zeit zu zeit ziehen heilige krieger auf
kamelen / durch heilige kriegsgebiete / auf den bergkuppen flakgeschütze
luftabwehr / raketen im schatten des halbmonds«.
das
»johannesevangelium«, ein langgedicht und
analytischer gesang, bereits 2019 geschrieben, spricht durch das, was es
mitteilt, nüchtern, ja ernüchtert. denn es betrachtet kritisch die heutige welt
und wird dabei teils zu einem abgesang. »treffen sich eisbär und pinguin / auf
einem eisberg am äquator«. das klingt zunächst witzig. der klimawandel wird
einiges nötig machen, das heute als absurd gilt. Die menschheit ist zur größten
klimakatastrophe auf erden geworden. wenn eisbären, die sich zunehmend mit braunbären
vermischen, im polaren norden nicht mehr leben können, verfrachtet man sie
vielleicht zum südpol, wo sie dann pinguine jagen und fressen könnten, was
pinguingemeinschaften, die bisher keinen eisbären kennen, sicher stören würde. »wenn
aber die erde zurückkehren wird / in eine stille / eine leere / und ein geist
eines gottes über einem wasser schweben wird / werden alle anfänge alle enden
alle worte alle zeiten vergessen sein«. das sind
weltendaussichten. apokalyptische szenarien findet man in der aktuellen
literatur häufig. an geschichte erinnert sich allein der mensch. deshalb kann
er auch über seine lebenszeit hinausschauen, eigentlich.
außerdem
thematisiert besagtes gedicht gewalt: »ich schaue
nach oben auf einen fernseher / in irgendwelchen spätnachrichten / liegen tote
auf einem schulhof / überall ist polizei und sind rettungswagen einer ambulanz
/ laden sanitäter verletzte ein / die ein massaker überlebten«, »in einem internet
schaue ich mir ein video an / in dem heilige krieger eine geisel enthaupten /
ein smartphone lasse ich läuten / mit diesem alten rocktitel als klingelton /
highway to hell«, »in einem schaufenster lagen / abgetrennte köpfe exekutierter
dichterinnen / die über tote schrieben«, »flakgeschütze
standen bereit / raketen schlugen ein in besetzte gebiete / in siedlungen
tobten aufstände und häuserkämpfe / wie in prophezeiungen besungen / erfüllungen
göttlicher gesänge« und »feiern soziale medien und autokonzerne an börsen
erfolge / steuerfrei versteht sich / niemandsland«. nachrichten aus einer
lebenszeit, die zur gefahrenzeit und todeszeit wird. südeuropa brennt im sommer
2023 und europas grenzen bluten. 2021 wollte man flüchtlinge in griechenland
mit schallkanonen vertreiben. sie sollten so verjagt werden wie zur plage
gewordene krähen. wer nach europa will, soll offenbar wissen, daß ihn schmerz
erwartet. geld und waren, die problemlos grenzen überschreiten, haben größere
freiheiten und rechte als menschen. welches menschenbild liegt dem zugrunde?
in
»vogelmenschen sprechen armenisch« zitiert weimar-mazur die armenisch-russisch
stämmige dichterin katerina poladjan mit »Es sind die Toten, die den Lebenden
die Augen öffnen.«, eine jahrtausende alte weisheit. die toten überschauen die
welt besser, und vor allem objektiver, als die lebenden, da sie frei von
äußerlichen lebensinteressen sind und sich daher ganz aufs innere wahrnehmen
konzentrieren können. vogelmenschen haben sumerisch, ägyptisch und griechisch gesprochen,
aber auch armenisch. armenien gehörte zum antiken kulturraum.
neben
tieren findet man in weimar-mazurs neuem gedichtband verstärkt pflanzen. die
meisten lyriker sind eher vegetarische naturen. in »stoßwellenmetamorphose
| die verschleierung von gedichten« fragt er, von corona, der jüngsten krone
der krankheiten, dazu angeregt, »an welchem schöpfungstag [oder war es in der
nacht?] erschuf gott die viren // wir ziehen weiter / unseren gedichteherden
hinterher / auf der suche nach neuen weidegründen«. allerdings könnte man
fragen, ob gedichte herden bilden. ich sehe sie als einzelgänger. in einem buch
verbinden sie sich freilich.
auch
gibt es öfter blicke des dichters zum himmel, die umgekehrten zu den
geologischen unter und in die erde. der himmel leuchtet sozusagen mit seiner
unendlich weit entfernten geologie. gedichte können wie raumschiffe oder
fernrohre sein, die durch seelenreiche reisen. in »abend
der partisanen | kebec« lesen wir: »der mond nimmt
dich in seinen arm / erdrückt dich mit seinem dicken bauch / der mond singt ein
wiegenlied / für dein ungeborenes kind / in seinem licht zittert das gras«. der
mond wurde als weiblich gesehen, etwa als urmutter oder muttergöttin. das
mondwachstum galt oder gilt als analogie zum wachsen des kindes im
mutterkörper.
Die
eigentlichen »vivisektionen«, die dem buch seinen titel gaben, sind kurze, und
teils spielerische, texte, letzteres etwa durch sprachspiel, so »vivisektionen x«: »erdruhepuls im jet lag / zeit
zonen über winden / in richtung oder gegen / die zeit und deinen /
mittelatlantischen rücken / streifen // streifen / weise deine tiefseegräben /
erforschen durchpflügen und / die dunkelheit // vergessen / die stille deines atems
ist / die beschleunigung der wale / des planktons das in deinem fruchtwasser
schwebt / schwebt«.