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Walter Fabian Schmid: Das Scheitern des zersungenen Orpheus, Teil 2

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay


Walter Fabian Schmid

Das Scheitern des zersungenen Orpheus
Lied und Gesang bei Paul Celan


Der komplette Essay als pdf.


Teil 2:


Liedformen im Hauptwerk

Auch wenn hier von Lied als Form die Rede ist, müsste man mit dem fortschreitenden Prozess weniger von Liedformen als immer mehr von «musikalischen Kompositionen» sprechen.⁴⁸ Dabei nimmt das erste Gedicht aus dem Band Die Niemandsrose, nämlich Es war Erde in ihnen (G 125) noch einmal Bezug zur vergangenen musikalischen Verarbeitung:

ES WAR ERDE IN IHNEN, und
sie gruben.

Sie gruben und gruben, so ging
ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wusste.

Sie gruben und hörten nichts mehr;
sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Sie gruben.

Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm,
es kamen die Meere alle.
Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,
und das Singende dort sagt: Sie graben.

O einer, o keiner, o niemand, o du:
Wohin gings, da`s nirgendhin ging?
O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu,
und am Finger erwacht uns der Ring.


Durch das auffällige Wiederholungsprinzip einzelner musikalischer Einheiten steht das Gedicht formell in Verbindung zu Assisi aus dem Frühwerk. Allerdings werden die einzelnen musikalischen Strukturen nicht starr wiederholt, sondern die wiederholte musikalische Einheit «sie gruben» erfährt eine prozessuale Variation. Dadurch verliert das Gedicht die Statik à la Todesfuge und Assisi, so dass es «auch in dieser Weise unterwegs [ist]» (GW III, Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen, S. 186): Es ist unterwegs und schreibt sich stets selbst fort. Von daher wird auch Celans Notiz in den Materialien zum Meridian sinnfällig, wo er festhält: «Rhythmus – Sinnbewegung auf ein noch unbekanntes Ziel zu» (TCA, Der Meridian, S. 187). Denn zu beobachten ist auch, wie der Rhythmus erst nach und nach diese Bewegung annimmt.

Indem sich die Musikalität vermehrt in die Struktur verlagert, erscheint das umgesetzt, was Ingeborg Bachmann in ihrem Essay Musik und Dichtung über die implizite Musik in der Dichtung schreibt:

Und steht nicht an jeder Wegkehre der Musik auch eine neue Dichtung? Bringt nicht eine neue Nachbarschaft die neue Befeuerung? Die Worte suchen ja längst nicht mehr die Begleitung, die die Musik ihnen nicht geben kann. Nicht dekorative Umgebung. Sondern Vereinigung. Den neuen Zustand, in dem sie ihre Eigenständigkeit opfern und eine neue Überzeugungskraft gewinnen durch die Musik. Und die Musik sucht nicht mehr den belanglosen Text als Anlass, sondern eine Sprache in harter Währung, einen Wert, an dem sie den ihren erproben kann.⁴⁹



So findet sich auch in einem Exzerpt zum Meridian bei Celan die Notiz:

causa formalis | immanentes Formprinzip
causa materialis | (Entelechie)   (TCA, Der Meridian 204)


Gerade wegen dieser Weiterentwicklung erscheint es äusserst überraschend, wieso Celan in Die Niemandsrose mit dem Gedicht Eis, Eden (G 132) noch einmal das Strophenlied verarbeitet und somit formell in den Zeitraum vor Mohn und Gedächtnis zurückfällt.

EIS, EDEN

Es ist ein Land Verloren,
da wächst ein Mond im Ried,
und das mit uns erfroren,
es glüht umher und sieht.

Es sieht, denn es hat Augen,
die helle Erden sind.
Die Nacht, die Nacht, die Laugen.
Es sieht, das Augenkind.

Es sieht, es sieht, wir stehen,
ich sehe dich, du siehst.
Das Eis wird auferstehen,
eh sich die Stunde schließt.


Das Gedicht ist aber kein Rückschritt in der Poetik, sondern hier sei die These aufgestellt, dass Celan es als ein Formzitat nutzt. Wenn Broich definiert, dass für die Markierung eines Zitates das entscheidende Kriterium ist, dass es für den Rezipienten als solches erkennbar ist,
⁵⁰ so ist das alleine durch die Form gegeben; denn die Strophenform von Eis, Eden und die darin enthaltene strenge Metrik hebt das Gedicht von seiner unmittelbaren Umgebung im Band Die Niemandsrose eindeutig hervor. Zu vermuten ist bei Eis, Eden zudem, dass es sich um eine Kontrafaktur des Weihnachtsliedes Es ist ein Ros entsprungen handelt, wobei Celan die Formen des Liedes übernimmt und die bestehende Melodie mit einem neuen Text unterlegt, wie es auch Voswinckel behauptet.⁵¹ Celan nutzt die Kontrafaktur, um Eis, Eden eine zusätzliche Bedeutung und eine Basis zu geben. Interessanter ist allerdings, dass er es auch als etwas Fremdes nutzt, um anhand dessen die Poetik des Liedes in seiner Lyrik zu aktualisieren.

Zur Verdeutlichung hierfür muss auf Psalm (G 132), das nachfolgende Gedicht im Band Die Niemandsrose, eingegangen werden.

PSALM

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.


Da in der Abfolge des Gedichtbandes die feste Strophenform dem deformierten Gedicht direkt gegenübergestellt wird, besitzt die tradierte Form eine Art deiktische Funktion auf die Deformation, die somit explizit hervorgehoben wird. Celan stellt das Zitat innerhalb des Bandes als einen Fremdkörper aus, um auf dessen «Falschheit» hinzuweisen. Dazu gibt Celan selbst den Hinweis in einer Notiz zum Meridian, wo er festhält: «Zitate sind etwas anderes als fremde Körper, die wir, medial und damit in Mittelpunkte gestellt, auf uns zuströmen fühlen; es sind – {der hi} Friede dem Mitzitierten – Fremdkörper schlechthin.» (TCA, Der Meridian, S. 156). Das Lied ist ihm in dieser Form also zu etwas durch und durch Fremdem geworden.

Mit dem Gedicht Psalm kann nicht nur die Zitathaftigkeit von Eis, Eden erklärt werden, sondern interessant erscheint dabei auch, wie sich Celan gegen Mandel'štams Der Hufeisen-Finder wendet mit den dortigen Versen «Dreimal selig, wer einen Namen einführt ins Lied! / Das namengeschmückte Lied / lebt länger inmitten der andern» (GW IV, S. 133). Das erklärt, weshalb Celan in Psalm, wo er durch die Zerstörung des psalmenhaften Gesangs gegen die Kirchenliedtradition anschreibt, das «Niemand», also einen Nicht-Namen genau dreimal nennt: «Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub. / Niemand.» Celan nimmt so insgesamt auf dreifache Weise Bezug zu Mandel'štams Zitat: Er zerstört das Lied, er nennt dreimal einen Nicht-Namen und will somit auch, dass das Lied nicht «länger [lebt] inmitten der andern», sondern dass es aus den Gedichten endgültig verschwindet. Der deus absconditus, den Celan in Psalm mit «Niemand» explizit nennt, wird gleichsam auch formell sichtbar, wenn er sich notiert:

Es gibt, mit anderen Worten, ein dem Gedicht und nur ihm eigenes Sprach-Tabu, das nicht allein für seinen Wortschatz gilt, sondern auch für Kategorien wie Syntax, Rhythmus oder Lautung; vom Nichtgesagten {her, vom} [her] wird einiges verständlich; das Gedicht kennt das argumentum e silentio. Es gibt also eine Ellipse, die man nicht als Tropus [oder gar stilistisches Raffinement] missverstehen darf. Der Gott des Gedichts ist unstreitig ein deus absconditus. (TCA, Der Merdidan, S. 87)


Allerdings zieht sich das Lied – zumindest das gesungene Lied –, nicht nur in die Struktur zurück, sondern wird auch zurückgeführt zu seinen Bedingungen, sprich den Atem und die Atemtechnik, wie es sich in Eine Gauner- und Ganovenweise (G135) zeigt:


EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE GESUNGEN ZU PARIS EMPRÈS PONTOISE
VON PAUL CELAN AUS CZERNOWITZ BEI SADAGÓRA

Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,
Heinrich Heine, An Edom


Damals, als es noch Galgen gab,
da, nicht wahr, gab es
ein Oben.

Wo bleibt mein Bart, Wind, wo
mein Judenfleck, wo
mein Bart, den du raufst?

Krumm war der Weg, den ich ging,
krumm war er, ja,
denn, ja,
er war gerade.

Heia.

Krumm, so wird meine Nase.
Nase.

Und wir zogen auch nach Friaul.
Da hätten wir, da hätten wir.
Denn es blühte der Mandelbaum.
Mandelbaum, Bandelmaum.

Mandeltraum, Trandelmaum.
Und auch der Machandelbaum.
Chandelbaum.

Heia.
Aum.

Envoi.

Aber,
aber er bäumt sich, der Baum. Er,
auch er
steht gegen
die Pest.


Die Verbindung zur Liedform ergibt sich schon durch den Titel, der an die Troubadourlyrik erinnert, die durchaus auch das Spottlied kannte.
² Schulz allerdings stellt das Gedicht in die Tradition der Ballade nach Francois Villon, was er anhand der Zweiteiligkeit des Gedichts und des Villon-Zitates im Titel festmacht.³ Auch aufgrund des «Envoi», das als Geleit eine Ballade abschliessen kann, trägt das Gedicht einen balladesken Zug. Weder die Ballade noch die Troubadourtradition führt allerdings weiter. Denn auch hier kann vermutet werden, dass diese nur evoziert werden, um ihre Negation vorzuführen.


Wichtig erscheint vor allem die dritte Strophe. Hier tritt die für Celans Hauptwerk typische Verschränkung von Widersprüchen auf. Der offensichtliche Widerspruch «Krumm war der Weg […] denn […] er war gerade» löst sich aber ganz einfach: Das lyrische Ich legt krumme Wege, also eine Art Umwege, zurück, geht diese aber «straight», das heisst geradewegs entlang. Der Weg muss aber vielmehr als poetologisches Prinzip ins verschärfte Blickfeld genommen werden, nämlich als Weg, den die Dichtung zurückzulegen hat und den Celan so häufig im Meridian thematisiert. Die Dichtung hat demnach den krummen Weg zu gehen. Der krumme Weg wird in dem Gedicht ebenso aufgegriffen von der Nase, dem Atemorgan. Die Vereinigung dieser drei Aspekte, der Weg, das Gedicht und der Atem, findet sich im Meridian formuliert: «Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiss, vielleicht legt die Dichtung den Weg - auch den Weg der Kunst - um einer solchen Atemwende willen zurück?» (TCA, Der Meridian, S. 7). Denn der krumme Weg, den die Dichtung zurücklegt, führt zu einer Atemwende: «Krumm, so wird meine Nase. / Nase.» Im Vortrag dieser Verse findet zwischen «Nase» und «Nase» unweigerlich eine solche Atemwende statt. Der krumme Weg der Dichtung wird also fortgetragen über den Atem, und die Atemtechnik ist scheinbar das Einzige, was dem Gedicht noch vom Singen bleibt, so dass auch auf diesem Weg das Singen in seinen Ursprung zurückgekehrt ist, eine Involution durchgemacht hat.

Paul Celan


Celan zerstört dadurch aber auch die Liedhaftigkeit. Die Schüttelreime, um bei der Atemtechnik zu bleiben, werden erzeugt durch scheinbar unkontrollierte Luftstromveränderungen bzw. durch unkontrollierten Verschluss des Luftstromes, der die Artikulation als Grundbedingung überhaupt herstellt. Hier stellt sich eine Art Schmetterlingseffekt ein, der im absoluten Verschluss des Luftstroms mit «Aum» endet. Eine Gauner- und Ganovenweise hat auch die «innere Dynamik» des Gedichts verloren. Wenn Carl Dahlhaus die «innere Dynamik» aus den Konstituenten «erstens die tonalen Funktionen, zweitens [den] als Fortschreitungszweck empfundenen Wechsel der Klangqualitäten, drittens die metrischen Abstufungen und viertens [den] Gedanke[n] der entwickelnden Variation»
⁵⁴ zusammensetzt, so ist in Eine Gauner- und Ganovenweise zu beobachten, wie einzelne Strophen jeweils eine Konstituente bevorzugen, so dass die «innere Dynamik» auseinanderfällt, was vor allem eine strukturelle musikalische Analyse interessant machen würde.



Exkurs: Involution des musikalischen Diskurses anhand von Sprachgitter und Anabasis

Auch wenn hier lediglich an der Oberfläche gekratzt und nur die manifeste Motivik einbezogen wird, womit nicht eingegangen wird auf die Verlagerung der Musikalität in die Textstruktur – worunter die Auflösung der musikalischen Form, die musikalische Prosa, die Musikalisierung und Stabilisierung durch Wiederholungstechniken, die Leitmotivtechnik, rhythmische Konfiguration durch Pausenfiguren und Interpunktion, parataktische Phrasierung durch Klammern, Kontrapunktik und Polyphonie sowie die dekonstruktive Homophonie, die Verlagerung des Materials ins Vormusikalische und die dissonante Tonhöhenorganisation von Relevanz zu verstehen wären – so soll wenigstens noch angedeutet sein, dass sich auch die musikalische Motivik ins Innere zurückzieht und von dort aus wieder an die Oberfläche gelangt, so dass Adornos Statement zu Schönberg auch für Celan zutrifft:


Unter der Fassade [der traditionellen Musik] lag eine zweite, latente Struktur. Sie war vielfältig von der Fassade determiniert, hat aber zugleich auch jene, als ein dauernd Problematisches, stets aufs neue aus sich hervorgebracht und gerechtfertigt. Traditionelle Musik verstehen hiess immer auch: mit der Fassadenstruktur jener zweiten innewerden und das Verhältnis der beiden realisieren. Dies Verhältnis war […] so prekär geworden, dass am Ende beide Strukturen auseinanderklafften. Schönbergs spontane Produktivkraft vollstreckte einen objektiven historischen Richterspruch: er hat die latente Struktur freigesetzt, die manifeste beseitigt.⁵⁵



Die Verlagerung der manifesten Motivik ins Innere ist wohl am interessantesten in dem «Übergangsband» Sprachgitter. Die Nachbearbeitung der Gedichte zeigt nämlich eine willentliche Beseitigung des Themas. Denn obwohl im Endstadium nur mehr Engführung und Windgerecht diese Thematik eingeschrieben ist, so tritt sie doch bei mehreren Gedichten in den Vorstufen auf.

Statt dem Titel Matière de Bretagne zum Beispiel notiert Celan in der zehnten Handschrift mit einem Abgrenzungsstrich zum Text und etwas nach rechts eingerückt noch «Gesang» (Vgl. BCA, Sprachgitter, Bd. 5.2, S. 218 u 223), womit weniger eine Titelvariante oder ein Untertitel bezeichnet wäre, als ein Parakommentar zum Gedicht. Unter der Berücksichtigung des Inhalts von Matière de Bretagne führt Celan die Linie des Klageliedes und des ernüchterten, sich aufgebenden Gesanges fort. Ebenso thematisiert die Vorstufe des Gedichts Ein Holzstern (BCA, Sprachgitter, Bd. 5.1, S. 55) den Gesang, der in der siebten Handschrift erscheint als: «Die leergesungenen Namen. Alle. // Die Windgalle, oben. Ich weiss nicht, weiss ja nicht, hilf mir» (BCA, Sprachgitter, Bd. 5.2, S. 275). Der nihilistische Gesang bleibt aber Gesang, und Celan changiert so zwischen seiner Verneinung, seiner Herstellung und seiner Evokation, womit sich Sprachgitter eben auch als der Ort der Wandlung der gesanglichen Verarbeitung zeigt. Der Nihilismus und das vorgeführte Scheitern des Singens in Sprachgitter führen direkt zur Infragestellung des Gesanges in den nachfolgenden Bänden wie beispielsweise Keine Sandkunst mehr (BCA, Atemwende, Bd. 7.1, S. 39) und Singbarer Rest (BCA, Atemwende, Bd. 7.1, S. 36), auf die noch eingegangen wird. Ebenso lässt Celan bereits eine Vorbereitung der anatomischen und der kreatürlichen Verarbeitung des Gesanges erkennen, was sich in den Vorstufen von Schuttkahn zeigt.
⁵⁶ Diesbezüglich ist vor allem aufschlussreich, wie sich durch die Vorstufen hindurch das in der Endfassung deklarierte «hellgeatmete Nein» entwickelt: In H3 erscheint noch «das veratmete Nein», in H2 mit einigen Streichungen erst das «verröchelte Nein», dann das «singend veratmete Nein» und letztendlich erscheint das «atemgetragene Nein» (Vgl. BCA, Sprachgitter, Bd. 5.2, S. 226f).

Trotz der geringen Thematisierung der Musik ist in Sprachgitter kein Verlust der Verbindung von Dichtung und Musik festzustellen, nur ist der Ort, wo sie sich einlagert, verdeckt. Sie zeigt sich auch in der Allophonie von Lid und Lied, die sich aufgrund der «Augenstimmen, im Chor» (Windgerecht) herstellen lässt.
⁵⁷ Die Verlagerung der manifesten Motivik ins Innere zeigt sich aber vor allem in Windgerecht, zu dem Janz anmerkt, es sei «vom vergeblichen Reden einer windschiefen Partitur die Rede».⁵⁸


WINDGERECHT

Tafelwand, grau, mit dem Nachtfries.
Felder, windgerecht, Raute bei Raute,
schriftleer.
Leuchtassel klettert vorbei.

Gesänge:
Augenstimmen, im Chor,
lesen sich wund.
[…]
Später:
[…]
ein einziges Feld,
das ein Lichtschein beziffert: die Stimmen.


Von diesem Blickpunkt aus wäre das Gedicht – bis auf Rauten als Auflösungszeichen – eine notationslose Partitur mit dem «Nachtfries» als Notenlinien. Selbst das auftauchende, leuchtende As klettert vorbei und bleibt nicht in den Linien, wodurch die «Augenstimmen» sich zwangsweise wundlesen müssen, bis letztendlich ein Feld mit einer bezifferten, durchnummerierten Stimme beleuchtet wird.⁵⁹  

Der Titel «Windgerecht» spielt zudem auf die «Fähnchen»
⁶⁰ von Viertel- und Achtelnoten an, so dass von Anbeginn an die Partitur für die Ausfüllung mit Fähnchen bereit liegt, nicht jedoch, wie Janz das formuliert, dass die Partitur selbst windschief sei.⁶¹  

Aus Sicht einer Partitur stellen auch die Verse «Stränge, / an die du die Glocke hängst» aus dem ersten Zyklus des Bandes, Stimmen, ein reflexives Moment dar und symbolisieren wieder Notenhals und Notenkopf. Stimmen an sich ist aber schon ein Kulminationspunkt eingelagerter musikalischer Bezüge. Bereits der vierte Vers «sirrt die Sekunde» stellt einen Bezug zu einer Partitur her, wobei die Sekunde als Intervallabstand zweier unmittelbar benachbarter Töne in der Harmonie- und Kontrapunktlehre als auflösungsbedürftige Dissonanz
² gilt. Wichtig sind vor allem auch die Verse: «Wenn mittschiffs die Bö sich ins Recht setzt, / treten die Klammern zusammen». Denn die Klammer beziehungsweise die Akkolade dient an dieser Stelle als Reflexionsinstrument der Polyphonie Celans. Wenn die Klammern, «die mehrere Liniensysteme gleichzeitig erklingender Stimmen oder Stimmgruppen […] zusammenfass[en]»³, symbolisch zusammentreten, ergibt es eine Unisono-Stimmüberlagerung des Chores als kollektive Einheit, und somit wäre sinnbildlich die Dispersion der Einzelstimmen von Stimmen zusammengeführt.


So wie hier anhand von Sprachgitter deutlich werden sollte, wie das musikalische System im verdeckten Diskurs präsent bleibt, kann das auch in Anabasis beobachtet werden. Bei beidem ist allerdings typisch, dass die Musik von der Zerstörung bedroht wird, aber zugleich anwesend bleibt und gelingt. Lediglich ein «naives» leichtfertiges Gelingen wird negiert. Wo die Musik in Sprachgitter dissonant, polyphon und kontrapunktisch auftritt, wendet sich Celan in Anabasis einem singulären musikalischen Mittel zu, nämlich einer Aufwärtsbewegung.


ANABASIS

Dieses
schmal zwischen Mauern geschriebne
unwegsam-wahre
Hinauf und Zurück
in die herzhelle Zukunft.

Dort.

Silben-
mole, meer-
farben, weit
ins Unbefahrne hinaus.

Dann:
Bojen-,
Kummerbojen-Spalier
mit den
sekundenschön hüpfenden
Atemreflexen –: Leucht-
glockentöne (dum-,
dun-, un-,
unde suspirat
cor
),
aus-
gelöst, ein,
gelöst, unser.

Sichtbares, Hörbares, das
frei-
werdende Zeltwort:

Mitsammen.


Auffälligste Neuerung ist die Zerschneidung der Wörter und die Trennung über das Zeilenende hinweg, was die einzelne Silbe autonom betont und bereits mit den durchstossenen Silben in Argumentum e Silentio angekündigt wurde. Zwar ist das Gedicht bisher unstreitig als eine Sprachentfaltung im Raum und Sprachreflexion in Zusammenhang mit einer «dichterischen Landnahme» gedeutet worden, die nachfolgende Interpretation versucht aber vor allem aufzuzeigen, dass das Gedicht in seiner Reflexion die Verschriftlichung und die Sprachfreisetzung mittels der Musik selbst diskursiv verhandelt.⁶⁴

Wenn Speier feststellt, dass sich das Gedicht einen topographischen Weg erschreibt, so bleibt unbeachtet, dass sich die Gedichtbewegung zugleich selbst thematisiert und das Gedicht seinen geschriebenen Weg reflektiert. Dieser führt nämlich nicht nur zurück, sondern «Hinauf und Zurück», worin Speier einen Widerspruch sieht, der sich aber leicht lösen lässt, wenn man den ersten Vers des Gedichtes betrachtet: «Dieses […] geschriebene». Der Text verweist selbst auf seine textliche Ebene, und wer innerhalb des Gedichtes zurückgeht, muss hinauf gehen, nämlich die Verszeilen hinauf. Das «unwegsam-wahre / Hinauf und Zurück / in die herzhelle Zukunft» ist nicht nur genannt, sondern ist dem Gedicht «zwischen Mauern» eingeschrieben, die als Verszeilen gesehen werden können, wodurch sich das Wahre im Durchschuss befinden würde.

Ein solches «Zurück in die (…) Zukunft» wird vom Gedicht sogar selbst umgesetzt, nämlich durch den Scharniervers «Dort», der in seiner Deixis natürlich erst einmal auf das Folgende, die «Silben- / mole», verweist, aber zudem darauf, wo sich diese befinden, worüber nur das Vorhergegangene Auskunft geben kann. Sie befinden sich ebenso zwischen den Mauern, im Durchschuss, durch ihre Nennung hebt sie Celan aber aus dem Verdeckten auf die Textoberfläche. Erst dann wird auch das aus dem Durchschuss sichtbar. Denn, dass die «Silben- / mole» «meer- / farben» sind, bedeutet, dass das zunächst Abwesende mit Tinte verschriftlicht wird. Die Schrift wiederum drängt ins «Unbefahrene» hinaus, womit auch das sprachlich Unerschlossene gemeint ist.
⁶⁵ Sie weist in den unbeschriebenen Leerraum, ins Weiss, das das Gedicht umgibt. Und darin liegt die Umsetzung folgender Notiz in den Materialien zum Meridian: «Die Form des Gedichts ist längst nicht mehr die {seiner} seiner Verse und Strophen; eine ein viel weiteres Weiss als die seines Satzspiegels bestimmt die Konturen» (TCA, Der Meridian, S. 99).

In der nächsten Strophe wird das Wegdriften eingefangen von den Bojen, die sich durch die «sekundenschön hüpfenden Atemreflexen» auszeichnen. Auf diese atemtechnischen Erscheinung deutet auch eine Notiz hin, die Celan zuerst für den Meridian niederschrieb, dann aber in seinen Radiobeitrag Die Dichtung Ossip Mandel'štams (Vgl. TCA, Der Meridian, S. 215-221) verarbeitete:


(Dieses Vibrato ist überall: in den [Intervallen {zwischen den} [zwischen]] Worten {ebenso, zwi} und den Strophen, in den ,Höfen`, in denen die Reime [und die Assonanzen] stehen, in der Interpunktion. All das hat semantische Relevanz.) (TCA, Der Meridian, S. 70)


Dieses Zitat wiederum steht in Verbindung mit folgender Notiz zum Meridian:

Erst, wenn du mit deinem allereigensten Schmerz zu den krummnasigen, bucklichten und mauschelnden [Anm.: Celan verstand das Gespräch im Gebirg als ein Mauscheln zwischen ihm und Adorno] und kielkröpfigen Toten von Treblinka, Auschwitz und anderswo gehst, dann begegnest du auch dem Aug und seinem Eidos: der Mandel. / x – Nicht das Motiv, sondern Pause und Intervall, sondern die stummen Atemhöfe, sondern die Kolen⁶⁶ verbürgen [im Gedicht] die Wahrhaftigkeit solcher Begegnung.



So ausgelegt müsste das Vibrato, das von den Bojen ausgeht, also aus den Kolen, den Pausen und in der Interpunktion stammen. Das hätte eine Verwandtschaft zwischen Bojen, Kolen und dem Kolon zur Folge. Celan macht diesen Diskurs evident, indem die betreffenden Verse eingeleitet und abgeschlossen werden durch jeweils ein Kolon, so dass beide dem Vers «Spalier» stehen. Zusätzlich leitet sich das Wort «Kummer» vom Lateinischen cumbrus ab, was so viel bedeutet wie Wehr oder Sperre und somit in seiner Doppelfunktion zum einen die «wegdriftenden» Silben und Bedeutungen einfängt, zum anderen aber auch den Sprachrhythmus bremst und somit zusätzliche Pausen schafft.

In Bezug auf die Bojen ist aber das wahrscheinlicher, wofür schon Pöggeler den Grundstein gelegt hat: Er sieht in den Bojen Noten(köpfe) und interpretiert die Mauern als Notenlinien.
⁶⁷ Demnach wäre das Gedicht nicht nur ein Text, der seine eigene Verschriftlichung thematisiert, sondern das Gedicht würde von Anbeginn an schon eine Partitur beschreiben, die ins hörbare übergeht – nämlich Mozarts Motette Exsultate, jubilate (Köchelverzeichnis 165). Zusätzlich zu Pöggelers Deutung wären demnach die Mole Ligaturen bzw. die Bindebögen der Vokalisen, denn die virtuosen Koloraturpassagen der ausführenden Stimme innerhalb der Motette beinhalten die «sekundenschön hüpfenden Atemreflexe[n]» und erzeugen «Leucht- / glockentöne», die wörtlich auf die «herzhelle Zukunft» verweisen und durch die onomatopoetische Ornamentik rund um das Zitat aus Mozarts Motette («unde suspirat / cor») hörbar werden. Das «cor» verweist ebenso auf die «herzhelle[n] Zukunft» und mit dem «suspirat» (sus = aufwärts und spirare = hauchen, Atemholen) findet nach den langandauernden «Atemreflexen» dann auch endlich die Atemwende statt.


Celan lässt aber nicht nur die ausführende Stimme erklingen, sondern in den Bojen erklingen zudem Oboen der orchestralen Besetzung. Genauer gesagt sind es «Kummer-Bojen», wobei «Kummer» auf «cum me» verweist, das im ersten Satz der Motette in Form von «psallant aethera cum me» und «psallant cum me» auftaucht. Dabei erzeugen die Oboen nach dem allerersten gesungenen «cum me» eine Echowirkung zur Singstimme (Takt 47-55). Die «sekundenschön hüpfenden Atemreflexe» können sich also auch auf diese Interaktion beziehen, bei der die Intervalle der Oboen während dieser Echowirkung jeweils eine Sekunde betragen und die «Atemreflexe» ihre Entsprechung in der kurzen sechzehntel Note haben. Zudem scheint die Echowirkung nachgeahmt in den Glockentönen Celans, wenn die Konsonanten in «dum-, / dun-, un» immer mehr ausgedünnt werden.


Wenn aber Speier schreibt, dass an dem Mozart-Zitat der «zerschlagene Gesang» deutlich wird, so ist das zurückzuweisen. Speier macht das zum einen an dem an sich aus dem Kontext gelösten Zitat fest und zum anderen durch das von Celan eingefügte Enjambement innerhalb des Zitates, wodurch er den «Verscharakter entscheidend verändert».⁶⁸ De facto erscheint in der Notation Mozarts in der Gesangsstimme bei «unde suspirat / cor» immer ein Taktstrich zwischen «suspirat» und «cor», wodurch also an der Stelle ein Harmonienwechsel stattfindet und Mozart das Verb «suspirat» durch eine Atempause auch «hörbar» gemacht hat.⁶⁹ Dennoch versiegt der Gesang auf eine andere Art: Die onomatopoetische Mimesis und das Gesangszitat sind in Klammern gesetzt, es findet also in der Diskussion des Gedichts zwischen seiner Absenz und seiner Textoberfläche statt.

Das Ende des Gedichts ist dann nur mehr eine Reflektion und Schlussfolgerung. Wenn Speier in «aus- / gelöst, ein- / gelöst» eine Konzentration auf Inspiration und Aspiration sieht,
⁷⁰ so ist dies durchaus zutreffend. Das Ausgeatmete und Eingeschriebene löst sich und wird freigesetzt. Jetzt kann auch «Sichtbares, Hörbares», also die in dem Gedicht angelegte Diskussion zwischen der (Silben-)Schrift und dem (Atem)Artikulierten, zusammengeführt werden in einem Wort. Dieses «Zeltwort» wird durch die Bremer-Rede verständlich:


Und ich glaube auch, dass Gedankengänge wie diese nicht nur meine eigenen Bemühungen begleiten, sondern auch diejenigen anderer Lyriker der jüngeren Generation. Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend. (GW II, S. 186)


Mit dem «Zeltwort» haben der zeltlose Dichter und sein sprachliches Dasein eine Behausung gefunden und zugleich hat das Wort die Wirklichkeit gefunden.⁷¹ Das folgende «Mitsammen» heisst in diesem poetologischen Text nur, dass all die getrennt ablaufenden Bereiche zusammen zur Wahrheit führen: Die Absenz zwischen den Zeilen, die Konzentration auf die kleinsten sprachlichen Einheiten, das Schriftbild, die Interpunktion, die Respiration und der Klang, freigesetzt durch die Musikalität.

Interessant erscheint bei der Deutung vor allem die Verwendung des Exsultate jubilate in Ingeborg Bachmanns Malina. Bachmann bringt Mozarts Motette ebenfalls in Verbindung mit einer euphorisch entfesselten Sprachbewegung, in der die geschriebenen Worte ihre Schwere verlieren und zu fliegen beginnen:

Ein Brausen fängt an in meinem Kopf und dann ein Leuchten, einige Silben flimmern schon auf, und aus allen Satz-schachteln fliegen bunte Kommas, und die Punkte, die einmal schwarz waren, schweben aufgeblasen zu Luftballons an meine Hirndecke, denn in dem Buch, das herrlich ist und das ich also zu finden anfange, wird alles sein wie EXSULTATE JUBILATE.²


Ingeborg Bachmann


Unter dieser Betrachtung kann das Celansche Zeltwort eben auch das im Kopf gedachte Wort sein. Im Kopf, wo «Sichtbares, Hörbares» sich vereinigen. «Mitsammen» heisst in diesem Sinne dann auch das Zusammenwirken aller an der Textentstehung beteiligten kognitiven «Räume». Darauf weist auch das Gedicht Kolon (G 152) hin, das mit Anabasis schon dadurch zusammenhängt, da eben dort das Kolon reflektiert wird. «Mitsammen» erscheint dort wieder als «Vonsammengeschiedenes», das sich im Kopf vervollständigt, indem es heisst: «sprachwahr in jeder / der Pausen: / für / wieviel Vonsammen-geschiedenes / rüstest du's wieder zur Fahrt: / das Bett / Gedächtnis!». Das Zelt wäre demnach also das Gedächtnisbett in den Pausenfiguren und der zeltlose Dichter, der zur neuen Sprache geht, wäre demnach ein selbstvergessener Dichter, auch ein Dichter, der sich selbst und sein Frühwerk vergessen muss. Denn schaut man sich Anabasis im Gesamten noch einmal an, dann ist das Gedicht eine mögliche Umsetzung folgender Notiz im Meridian:

Im Gedicht: das heisst, glaube ich, nicht – oder nicht mehr –, n`en déplaise à Mallarmé, in einem jener aus ,Worten` bzw. ,Wörtern` gefügten, phonetisch, semantisch und syntaktisch überdifferenzierten Gebilde der Sprache;. Nicht in dem sich als ,Wortmusik` begreifenden Gedicht; nicht in irgendeiner aus 'Klangfarben' zusammengewobenen ,Stimmungspoesie‘, {und auch} [nicht] im Gedicht als dem Resultat von Wortschöpfungen, Wortzertrümmerungen, Wortspielen; nicht in irgendeiner neuen ,Ausdruckskunst`; und auch nicht im Gedicht als in einer das Wirkliche sinnbildlich überhöhenden ,zweiten` Wirklichkeit.» - {Sondern} [Vielmehr] im Gedicht als dem Gedicht dessen, der weiss, dass er unter dem Neigungswinkel seiner Existenz spricht, dass die Sprache seines Gedichts weder ,Entsprechung` noch Sprache schlechthin ist, sondern aktualisierte Sprache, stimmhaft und stimmlos zugleich, freigesetzt im Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gesetzten Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten [Anm: da das Gedicht mit Welt befrachtet zur Welt kommt] eingedenk bleibenden Individuation. (TCA, Der Meridian, S. 55)


Was aber in der Struktur und der eingelagerten Motivik teils gelingt, heisst noch lange nicht, dass sich das auch auf die oberflächliche Motivik der nachfolgenden Bände niederschlägt.




Lied als Thema

So, wie Celan also von der festen Liedform im Frühwerk zu textlichen Kompositionen übergeht, muss auch das explizit in den Texten erwähnte Lied auf seine Aktualisierung hin untersucht werden.


… RAUSCHT DER BRUNNEN

Ihr gebet-, ihr lästerungs-, ihr
gebetscharfen Messer
meines
Schweigens.

Ihr meine mit mir ver-
krüppelnden Worte, ihr
meine geraden.

[…]

Krücke du, Schwinge. Wir – –

Wir werden das Kinderlied singen, das,
hörst du, das
mit den Men, mit den Schen, mit den Menschen, ja das
mit dem Gestrüpp und mit
dem Augenpaar, das dort bereitlag als
Träne-und-
Träne.                                                                           (G 138 )


Wiedemann weist zunächst auf den Titel des Gedichtes hin, der nicht nur anschliesst an einen Halbvers des aus dem Frühwerk stammenden Gedichtes Kristall (G 44), sondern in seiner aus zwei Trochäen bestehenden Form und seiner Bildlichkeit an das Volkslied erinnert.³  Dies wird im Titel allerdings nur ausgestellt, um im Gedicht vorzuführen, wie diese Liedhaftigkeit zerschnitten wird. Konkret wurde das Lied «mit den Men, mit den Schen, mit den Menschen» von dem «Messer / meines / Schweigens» durchfahren, wodurch auch die von Giftzähnen durchstossenen Silben aus Argumentum e silentio realisiert werden. Die Zertrennung symbolisiert zugleich die verkrüppelten Worte, die als «Krücke» zur «Schwinge» werden, weil sie durch die Zertrümmerung in Schwingung geraten und dabei tönen bzw. stammeln.⁷⁴


Obwohl dem Lied diese neuere Poetik eingeschrieben ist, fällt es gegen Ende wieder in den für das Frühwerk liedtypischen Klageduktus zurück. Wie Celan diese Diskrepanz schliesst, kann ganz gut in Hammerköpfiges (G 191) beobachtet werden.


HAMMERKÖPFIGES, im
Zeltgang,
neben uns her, der doppelten,
langsam strömenden Rotspur.

Silbriges:
Hufsprüche, Schlaflied-
gewieher – Traum
hürde und -wehr –: niemand
soll weiter, nichts
[…]


Denn hier geschieht eine intensive Auseinandersetzung mit dem Frühwerk, gegen das Celan anschreibt. Das «Schlaflied- / gewieher» entstellt letztendlich seine naive romantische Poetik der Schlaflieder und die dortige Traumsphäre wird mit einem Wehr blockiert. In Richtung Selbstnegation weisen auch «Hufsprüche», denn nach dem Grimmschen Wörterbuch heisst das Verb «hufen» so viel wie «etwas zurücknehmen» und «von etwas ablassen», was sich wiederum auf die Schlaflieder bezieht; und ausserdem meint «Huf» nach Grimm eine Hornhaut an den Händen,⁷⁵ wodurch die «Hufsprüche» den singenden Hände aus Russischer Frühling ihre Macht nehmen.

Der Bezug zur Musik zeigt sich aber bereits im ersten Vers. Hammerköpfiges bezieht sich wortwörtlich auf den Hammerkopf des Hammerklaviers, der auf die Saiten schlägt. Das darin enthaltene «köpfig» hängt zusammen mit dem «Zeltgang», denn unter Rückbezug zu Anabasis kann damit der Gedankengang verstanden werden. Die «doppelte[n], / langsam strömend[en] Rotspur» wäre demnach der Blutstrom und zeigt auch eine textliche Verbindung zum zweiten Schlaflied, wo eine mythische Vereinigung der Geliebten über das Blut geschieht, wenn es heisst: «hebt mich mein Stern in dein schwärmendes Blut». Das «Silbrige[s]» erscheint unter dieser Querverbindung auch als Anklang an den Stern und letztendlich resultiert das «Schlaflied- / gewieher» aus einer zynischen Selbstverballhornung.

Ohne den Hammerkopf wortwörtlich zu nehmen, gibt es allerdings noch eine weitere Stelle, an der der Hammer mit dem Kopf und der Musik verbunden ist.


DIE ZAHLEN, im Bund
mit der Bilder Verhängnis
und Gegen-
verhängnis.

Der drübergestülpte
Schädel, an dessen
schlafloser Schläfe ein irr-
lichternder Hammer
all das im Welttakt besingt                                   (G 176)


Das Gedicht nimmt nämlich den Bildbereich eines Experiments auf, das in Reichel / Bleicherts Leitfaden der Physiologie des Menschen beschrieben ist, und auf das Wiedemann zu dem Gedicht Am Reizort (G 512) hinweist (Vgl. G 957):

Wenn man einer Versuchsperson eine angeschlagene Stimmgabel an den Kopf setzt und den äusseren Gehörgang durch einen Schlauch mit dem eigenen Gehörgang verbindet, kann man den Ton der Stimmgabel hören.⁷⁶



Die Verarbeitung des Hörtests kann dabei auch in Verbindung gebracht werden mit Ich trink Wein (G 363) und dem Vers «Gott gibt die Stimmgabel ab». Diese Zerstörung des Liedes zeigt sich etwas anders auch in Schädeldenken (G 203)


SCHÄDELDENKEN, stumm, auf der Pfeilspur.

Dein hohes
Lied, in den harten
Februarfunken verbissner,
halbzertrümmerter
Kiefer.


Zwar wird hier noch der Anschein des realisierten Hoheliedes erweckt, allerdings wird es passiv zerstört, indem seine Grundbedingung, der Artikulationsapparat, zertrümmert wurde. Und dies ist nicht nur Ausdruck des Einflusses Adornos und somit eine Zuwendung zum Fragmentierten, sondern ebenso metapoetisch auf das Frühwerk bezogen, dessen Lieder endgültig zerschlagen werden.

Auffällig ist zudem, dass das Lied häufig in Verbindung mit Speien auftritt.
⁷⁷ Deutet man dies affektiv, dann kommt dem Lied grösstmöglicher Ekel zu, da nach Darwin – und dieser Querschläger sei unter Beachtung von Celans Hinwendung zum «Kreatürlichen» erlaubt – das Ausspeien und das Spucken intercodiert in allen Arten und Kulturen eine Form von Ekel ausdrückt.⁷⁸ Am wichtigsten erscheint hier Wenn ich nicht weiß, nicht weiß (G 237) mit dem Abschnitt:


[…]
die
Freigeköpften, die
zeitlebens hirnlos den Stamm
der Du-losen
besangen:

Aschrej

ein Wort ohne Sinn,
[…]
das sich übergebende un-
sterbliche
Lied.


Besungen werden zunächst die «Freigeköpften» vom «Stamm / der Du-losen», womit eine Kritik an die jüdische Glaubensgemeinschaft verbunden ist. Das Wort «Aschrej» hat unter jenen Umständen, unter denen es gesungen wird, und die es besingen soll, keinen Sinn mehr. Es enthält zwar den Heilsruf, wendet sich aber gegen die Wirkung der hebräischen und jüdischen Religionslieder. Mit leeren Worten führen diese zu einem Ekel vor sich selbst und speien. Das wird sogar noch gesteigert, indem das Lied «unsterblich» ist, es sich also unendlich übergeben muss. Dennoch ist das Lied durch den Zeilenbruch auch sterblich. Celan will das Lied nicht unendlich in einem kotzenden Zustand belassen, sondern will das kotzende Lied ebenso seiner Sterblichkeit überlassen und es dahin führen.

Die Lieder werden aber nicht nur vor Ekel ausgespien, sondern sie werden auch zwangsweise vom Ekel infiltriert, was in den «Müllschlucker-Chöre[n]» (G 240) zum Ausdruck kommt. Und ebenso in Üppige Durchsage (G 250), wo vom Lied nur noch bitterer Sarkasmus übrig bleibt, wenn «in jeder zweiten / Zahn- / karies […] / eine unverwüstliche Hymne» erwacht.




Singen

Die äusserst originäre Verwendung des Singens als diskursives Element im Hauptwerk Celans blieb bisher nicht ganz unbeachtet. Wo Peter Horst Neumann die Zerstörung des Gesanges darlegt und davon ausgehend das Ende dieser poesiegeschichtlichen Tradition für die gesamte Moderne in den Raum stellt,⁷⁹ wendet sich Pöggeler vom Verlust einer Verbindung zwischen Musik und Lyrik ab, indem er eine Identifikation Celans mit dem späten Mozart postuliert.⁸⁰  Ausser in Anabasis und Müllschlucker-Chöre kann dies jedoch nicht manifest in den Gedichten festgestellt werden.

Anstatt Thesen aus dem Persönlichkeitsbereich abzuleiten, soll hier aber vor allem die originäre Verarbeitung des «Singens» aufgeschlüsselt werden, indem versucht wird, einen neuen Zugang dazu zu liefern. Ausgehend von seinem metapoetischen Prinzip des Atmens ist neben einer anatomischen Verhandlung des Singens auch eine verdeckte Stimmbildungsanatomie zu beachten. Im Sinne der Kreatürlichkeit negiert Celan auch den Gesang und führt ihn zurück in ein Lallen und Wiehern, was hier als physiognomischen Atavismus bezeichnet wird. Hauptziel ist es letztlich darzustellen, wie Celan innovativ versucht gegen jegliche Musikalität und musikalische Elemente anzuschreiben, jedoch vergeblich.




Infragestellung des Gesangs

Zunächst sei hier die luzide Infragestellung Celans als Ausgangspunkt dargelegt. Am deutlichsten wird diese in Frihed (G 200), wo das lyrische Ich fragt: «ich singe – // was singe ich?» Celans stellt jedoch nicht den Gesang an sich in Frage, sondern zur Disposition steht der textgebundene Gesang. Das lyrische Ich fragt nicht «ich singe – singe ich?», sondern es fragt nach dem Inhalt, der gesungen wird: «was singe ich?». Aufschlussreich ist hierfür auch das Gedicht Keine Sandkunst mehr (G 183).


KEINE SANDKUNST MEHR, kein Sandbuch, keine Meister.

Nichts erwürfelt. Wieviel
Stumme?
Siebenzehn.

Deine Frage – deine Antwort.
Dein Gesang, was weiss er?

Tiefimschnee,

   Iefimnee,

    I – i – e.


Primär zu beobachten ist, dass Celan die Töne aus ihrer rhythmischen Gestalt bzw. aus ihrem Tonverbund herauslöst, was nichts anderes als die Grundlage für ein serielles Komponieren ist. Andreas Meyers Anmerkung zu Pierre Boulez seriellem Verfahren im Schlusssatz von Bel édifice et les pressentiments aus Le marteau sans maître (1952-1955) liefert zugleich eine exakte Beschreibung des Verfahrens Celans⁸¹: «Aus gesprochenem Textvortrag (,quasi parlando` bzw. ,parlando libre`) wird zunächst syllabisches, dann melismatisches Singen, schliesslich ein textloser Gesang […] in gedehnten Vokalisen.»² Aufgrund des Übergangs zu einem Vokalisieren kann aber noch lange keine Zerstörung des Gesanges konstatiert werden; sondern Celan nähert sich dadurch eigentlich noch stärker an die reine Musik an. Das, was nämlich wirklich einen Verlust erfährt, ist der Text des Gesanges, also die Sprache. Deswegen kann durchaus eine Analogie zu Ingeborg Bachmann hergestellt werden, wenn diese in Die wunderliche Musik schreibt:


Geglaubt werden ihnen nur Töne […] ihre Gefühle nicht. Am allerwenigsten die Worte […] Angebetete Sänger! […] vom Applaus geschwellt die Stimmbänder; von Pfiffen gelähmt die Zungen.³



Durch dieses Vorgehen und auch durch die mögliche Dekonstruktion des Titels zu «keine Sangkunst mehr, kein Sangbuch», muss die Verbindung zu Singbarer Rest (G 182) geschlagen werden.


SINGBARER REST – der Umriss
dessen, der durch
die Sichelschrift lautlos hindurchbrach,
abseits am Schneeort.
[…]
Entmündigte Lippe, melde,
dass etwas geschieht, noch immer,
unweit von dir.


Letztlich bezieht sich hier der dritte und vierte Vers explizit auf die letzten beiden Verse von Keine Sandkunst, aber auch die zweite Strophe, schliesslich sind Vokalisen wortwörtlich «entmündigt» und zu ihrer Realisierung nicht auf den Mund angewiesen. Mit der Lippe muss also die Stimmlippe gemeint sein, unweit derer sich das Stimmband befindet, wo die Vokale gebildet werden.⁸⁴ Der tatsächliche singbare Rest sind also Vokale. Aber erst im Zusammenspiel mit Singbarer Rest kann das Singen von Keine Sandkunst in Frage gestellt werden.




Die Anatomie des Gesangs

Durch den Zusammenhang des Singens mit seinen anatomischen Bedingungen – wie gerade mit der Stimmlippe – stellt Celan ebenso die Möglichkeit des Singens in Frage, weil damit die grundlegenden Voraussetzungen verhandelt werden. Seinen Anfang nimmt dieses Prinzip bereits in der Niemandsrose mit dem Gedicht Flimmerbaum (G 137).


FLIMMERBAUM

Ein Wort,
an das ich dich gerne verlor:
das Wort
Nimmer.

Weisst du noch, dass ich sang?
Mit dem Flimmerbaum sang ich, dem Steuer.
Wir schwammen.

Weisst du noch, dass du schwammst?
Offen lagst du vor mir.
Lagst du mir, lagst
du mir vor
meiner vor-
sprechenden Seele.
Ich schwamm für uns beide. Ich schwamm nicht.
Der Flimmerbaum schwamm.

Schwamm er? Es war
ja ein Tümpel rings. Es war der unendliche Teich.
Schwarz und unendlich, so hing,
so hing er weltabwärts.

Weisst du noch, dass ich sang?

Diese –
o diese Drift.

Nimmer. Weltabwärts. Ich sang nicht. Offen
lagst du mir vor
der fahrenden Seele


Wo in Anabasis das Zur-Sprach-Kommen mittels einer musikalischen Figur gelingt, gelingt es hier mittels des Respirationssystems nicht mehr. Der Flimmerbaum bezeichnet nämlich den Bronchialbaum, dessen fortschreitende Verzweigung und Verästelung einer Baumkrone ähnelt⁸⁵ und bei Celan zum «Steuer», also zur Atmungssteuerung und generell zur Sprachsteuerung wird. Das Flimmern bezieht sich dabei auf das respiratorische Flimmerepithel, das als Bestandteil der Schleimhaut die gesamten luftleitenden Atemwege auskleidet.⁸⁶ Das «Schwimmen» wäre also die Bewegung der Flimmerhärchen in der Schleimhaut. Diese Flimmerhärchen transportieren die Staubpartikel nach aussen, was auch die Ursache ist, warum der «Tümpel rings» «schwarz» ist.⁸⁷ Das, was hier also zur Sprache will, ist Staub, und somit in Bezug auf die Genesis etwas Urmenschliches.⁸⁸ Der Dialog, der sich in dem Gedicht einstellt, ist ein Dialog zwischen präartikulierten Worten. Allerdings spricht das Du auch die Glottis an, denn «offen lagst du vor mir».⁸⁹ Die «vor- / sprechende Seele» ist demnach nicht nur das Vorsprachliche, sondern sie wird auch vorstellig bei der Glottis, um in Sprache verwandeln zu werden. Da die Glottis offen ist, befindet sie sich in normaler Atmungsstellung, bei der die Stellknorpel, also die Öffnung hin zur Luftröhre offen sind. Allerdings kann nur bei einer geschlossenen Stellung eine Phonation durch Vibration der Stimmlippen erzeugt werden. Wenn es am Ende des Gedichts heisst «Ich sang nicht. Offen lagst du vor mir», dann lag die Stimmritze das ganze Gedicht hindurch offen vor dem «Sprecher» und nichts kam zur Sprache. So wird die wiederholte Äusserung des Singens in dem Gedicht nicht nur zur Ironie und markiert nachdrücklich eine Erinnerung an das Singen, das nicht mehr stattfinden kann, sondern gefragt wird zudem: «Weisst du noch, dass ich sang?». Es ist also die Bedingung, die einen Gesang unmöglich macht.


Ein ähnliche Verarbeitung liegt im Band Fadensonnen mit dem Gedicht Die Hügelzeilen entlang (G 246) vor, das durchsetzt ist von einer Bildlichkeit der Gefangenschaft: Der Weg zur Sprache im Bronchialbaum wird als «niedliche Streckfolter» bezeichnet und die Lungenflügel als «die / entzweigten Erzengel schieben / hier Wache.» Der Prozess der Sprachwerdung ist also qualvoll und der Atem als vorsprachliches Phänomen scheint eingesperrt. Zwar wird in dem Text kein Singen thematisiert, aber Musik immerhin, denn hier wird die Glottis gleichgesetzt mit dem Spinett: «Dum-dum-Horizonte, davor, / vertausendfacht, ja, / dein / Hör-Silber, Spinett, // Tagnacht voll schwirrender Lungen, / die / entzweigten Erzengel schieben / hier Wache.» Die Dum-dum-Horizonte können zwar nicht eindeutig anatomisch zugewiesen werden, die Textstelle zeigt aber, wie das «dum-, / dun-, un-, / unde suspirat / cor», das in Verbindung mit der Mozart-Motette in Anabasis noch zur Freisetzung der Sprache verhilft, direkt verneint wird. Dennoch hält Die Hügelzeilen entlang mit dem Spinett an der Musik fest und Celan verwandelt die Stimme in ein Instrument. Damit kann aber nicht die romantische Vorstellung der Stimme als das höchste und göttliche Instrument verbunden sein, sondern vielmehr erscheint die Glottis in Form des Spinetts als eine automatenhafte, veraltete Mechanik.⁹⁰ Zudem drückt das Wort Spinett, in dem auch das Italienische spina mitschwingt, und das so viel heisst wie Dorn, wiederum den Schmerz der Sprachwerdung aus.


Aber bereits in Muta (G 463) aus dem Zeitraum von Die Niemandsrose wird die Stimme zum Instrument, nämlich einem Streichinstrument:


MUTA

Seul –: zu dreien gesprochen, stummes
Vibrato des Mitlauts.
Seuls.

……………….

Ein Bogen, hinauf
ins Vielleicht einer Sprache gespannt,
aus der ich, souviens-
t'en, – aus der ich
zu kommen
glaubte. Und

une corde (eine Saite, eine
Fiber) qui
répondrait.


Interessanter als die Instrumentalisierung der Stimme und die Anatomisierung des Gesanges erscheint hier aber die Opposition zwischen Konsonanten und Vokalen, die räumlich voneinander getrennt erzeugt werden, was die punktierte Linie innerhalb des Gedichts zum Ausdruck bringt. Das Vibrato des Mitlauts und somit die gesamte erste Strophe findet im Mundraum statt, dort, wo die Konsonanten erzeugt werden. Unterhalb der punktierten Linie, also auch im unteren Atembereich, werden die Vokale erzeugt. Da aber der Mitlaut «seul», also einsam, bleibt und seine Stummheit nicht vokal gefüllt wird,⁹¹ können die Vokale nicht erzeugt worden sein. Die punktierte Linie stellt die Schleuse dar, die der Kehlkopf zwischen dem Mundraum und den unteren Atemwegen bildet, und der in diesem Fall eine Kommunikation zwischen den beiden Bereichen verhindert. Diesbezüglich ist vor allem interessant, was Seidner / Seedor in ihrem Artikel zum Singen in Musik der Geschichte und Gegenwart schreiben:


Die Stimmatmung (Respiratio phontoria) lässt sich von der stummen Atmung (Respiratio muta) abgrenzen. Während sich in Ruhe Ein- und Ausatmungsphase wie 1:1,2 (auch 1:1,9) verhalten, gilt für die Stummatmung 1:8. Das Verhältnis ändert sich vor allem beim Singen sehr stark […] Die Besonderheit der Sängeratmung besteht darin, dass sie sich stets auf die Funktionen Stimmgebung (Kehlkopffunktion) und Klangbildung (Einstellung der oberhalb der Stimmlippen gelegenen Ansatzräume) ausrichten muss. Schon während der Einatmung erfolgt eine Voreinstellung auf die Singleistung, und Faktoren wie Kehlkopfstellung und -spannung, Ausformung der Ansatzräume durch Gaumensegel, Zungenlage, Mundöffnung und Lippen, Vorstellung von Tonhöhe, Stimmstärke, Melodiebewegung und Stimmausdruck u.a. werden berücksichtigt.⁹²



Demnach können zwar die Voreinstellungen für das Singen in der Dichtung Celans³ ausgeführt werden, effektiv kommt es aber lediglich zur Klangbildung, die Stimmgebung wird verweigert. Was dabei allerdings verhandelt wird, ist keine Poetik des Schweigens, sondern ein Ringen nach Ausdruck. Das Wort muss – falls es überhaupt zu Stande kommt – hervorgewürgt werden. Und das ist keine flapsige Formulierung, sondern zeigt sich mit den gespienen Liedern auch manifest im musikalischen Diskurs. Die Verweigerung der Sprachkonstituierung wird grösstenteils mit Mitteln der Musik, mit dem Lied und vor allem mit dem Singen verhandelt. Die intrinsische Verbindung des Singens mit dem Atemweg und dem Atmen, das bei Celan mit dem dichterischen Sprechen an sich gleichgesetzt ist, kennzeichnet das Singen also immer noch als das wahre dichterische Sprechen.



Physiognomischer Atavismus des Singens

Anhand den bisherigen Ausführungen sollte klar geworden sein,⁹⁴ wie Celan das «in den Keim Zurückgekehrte» anhand der anatomischen Bedingungen verhandelt, und dabei zugleich auch «die Rückkehr in das eben noch Stimmhafte» vollzieht, was er letztlich auch so in Notiz zum Meridian festhält:

es ist die Rückkehr in das eben noch Stimmhafte wie im Wozzeck – es ist Sprache als Involution, Sinnentfaltung in der einen, wortfremden Silbe –: {der das} es ist die im [durchröchelten] Stammeln erkennbare ,Stammsilbe`, {die} [Sprache als] das in den Keim Zurückgekehrte – der Bedeutungsträger ist der {M} sterbliche Mund, dessen Lippen sich nicht mehr ründen. Muta cum liquida – {und} vokalisch gestützt, der Reimlaut als Selbstlaut. (TCA Meridian, S. 123f.)


Zwar könnte man davon ausgehend auch eine klangliche Analyse starten, allerding ist in Bezug auf die Motivik die Involution von grösserer Bedeutung. Sie äussert sich nämlich auch noch auf eine andere Weise. Ausgangspunkt hierfür ist, was Celan im Brief vom 23. Mai 1960 an Adorno schreibt, nämlich: «Ob es [das Gespräch im Gebirg] sonst noch etwas ist? Erworbener und zu erwerbender Atavismus vielleicht, auf dem Weg über die Involution erhoffte Entfaltung ...»
⁹⁵ Auch wenn Celan Involution und Atavismus beinahe als Synonyme verwendet, werden sie hier differenziert betrachtet. Der Unterschied liegt in Bezug auf das Singen darin, dass mit Involution die biologischen Gegebenheiten gemeint sind, also hier explizit die Rückwendung zu den anatomischen Gegebenheiten, Atavismus hingegen soll hier als eine anthropologische Rückwendung verstanden werden, als eine Rückführung in eine frühere Entwicklungsstufe und in überholte Verhaltensweisen.




Lallen

Zwar wird mit dem Lallen kein gesanglicher Ausdruck an sich markiert, man kann es aber ebenso als einen Atavismus des Singens betrachten. Aus dem Lallen wird nämlich erst ersichtlich, wie der Atavismus mit der Anatomie zusammenhängt. Lallen entsteht ja gerade deswegen, weil der Luftstrom weniger durchbrochen wird, und es so durch Abschwächung der Luftstromhindernisse keine Kontur bildenden Verschlussstellen gibt. Besonders betroffen und abgeschwächt werden dabei die Plosive. Im Extremfall führt Lallen zu einer Vokalise, also zu so etwas wie «I – i – e». Eben das ist für Celan der ursprachliche Ausdruck, mit dem die wahren Bedingungen beschrieben werden können, denn «Käme, / käme ein Mensch, / käme ein Mensch zur Welt, heute, […] er dürfte, / spräch er von dieser / Zeit, er / dürfte / nur lallen und lallen», wie es in Tübingen, Jänner (G 133) heisst. Das Lallen als ein vorsprachlicher Ausdruck hält Celan auch in einer Notizbuchaufzeichnung zum Gedicht Das Flüsterhaus fest: «die vorsprachliche Lallstufe | Verschluss- und Engelaute» (G 869). Das Flüsterhaus ist, wie auch Stille! (G 52), allerdings im Todesbereich angesiedelt, also in der Nach-Sprachlichkeit. Das Lallen wird so zu einem präexistenten und postexistenten Ausdruck zugleich.⁹⁶ Die Kulmination von Widersprüchen zeigt sich aber noch in einem anderen Bereich: Zwar stellt das Lallen in seinem Atavismus einen vorsprachlichen und metasprachlichen Ausdruck dar, durch dessen Hilfe der Weg zu einem wahren Ausdruck gesucht wird, dennoch ist das Lallen an sich eine Zerstörung des Ausdrucks durch ungenügende Artikulation.


Mit dem Lallen wird – wie schon in Keine Sandkunst – aber auch die Grundbedingung des textlichen Singens zerstört, da zu allererst eine gute Artikulation bestehen muss, bevor halbwegs verständlich gesungen werden kann. Auch hier kann man also eine Hinwendung zum lautlichen, nicht-sprachlichen Bereich erkennen. Wenn sich Agricola im 18. Jahrhundert echauffiert:


Denn wenn man die Worte nicht verstehen kann; so beraubt der Sänger die Zuhörer eines grossen Theils der Anmuth, welche der Gesang von den Worten erhält. Wenn man die Worte nicht höret; so schliesst der Sänger die Wahrheit von der Kunst aus. Wenn man endlich die Worte nicht versteht; so unterscheidet sich die Menschenstimme nicht von einem Zinken oder eine Hoboe.⁹⁷



so sei dies hier nicht zur Unterhaltung zitiert, sondern hier wird in der sprachlichen Formulierung von Agricola auch deutlich, welche Verunzierung in dem Lallen angelegt ist. Im Lallen kulminiert bei Celan also die Bedeutung des einzig wahren, ursprachlichen Ausdrucks und des zerstörten Ausdrucks.
⁹⁸ Welchen Sinn allerdings diese Verunzierung hat, wird erst am Wiehern deutlich.




Wiehern

Dieses Prinzip tritt zum ersten Mal dem Gedicht Bei Wein und Verlorenheit (G 126) auf.


BEI WEIN UND VERLORENHEIT, bei
beider Neige:

ich ritt durch den Schnee, hörst du,
ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang,
es war
unser letzter Ritt über
die Menschen-Hürden.

Sie duckten sich, wenn
sie uns über sich hörten, sie
schrieben, sie
logen unser Gewieher
um in eine
ihrer bebilderten Sprachen.


In Opposition zu Gott, der tatsächlich singt, ist das Gewieher unzulänglich und wird sogar noch umgelogen in «eine ihrer bebilderten Sprachen». Neben der Bibelkritik und der Verballhornung geistlicher Gesänge, wie auch in Gewieherte Tumbagebete (G 239), wird das Singen durch die Abwertung der Bilder auch über diese gestellt und bleibt somit ein metasprachlicher Kodex. Hilfreiche Erkenntnisse zu diesem Standpunkt liefern vor allem Parallelen zu Ingeborg Bachmann, Osip Mandel'štam und Franz Kafka.

Bachmanns Essay Musik und Dichtung strebt zwar eine Re-Adaption der Musik in der Dichtung an, relevant für die Verarbeitung Celans ist jedoch, wie sie zu ihrem Standpunkt gelangt:


Denn es ist Zeit, ein Einsehen zu haben mit der Stimme des Menschen, dieser Stimme eines gefesselten Geschöpfs, das nicht ganz zu sagen fähig ist, was es leidet, nicht ganz zu singen, was es an Höhen und Tiefen auszumessen gibt. Da ist nur dieses Organ ohne letzte Präzision, ohne letzte Vertrauenswürdigkeit, mit seinem kleinen Volumen, der Schwelle oben und unten – weit entfernt davon, ein Gerät zu sein, ein sicheres Instrument, ein gelungener Apparat. […]
Es ist Zeit, dieser Stimme wieder Achtung zu erweisen, ihr unsere Worte, unsere Töne zu übertragen […] Es ist Zeit, sie nicht mehr als Mittel zu begreifen, sondern als den Platzhalter für den Zeitpunkt, an dem Dichtung und Musik den Augenblick der Wahrheit miteinander haben. […] wem würde da, wenn sie noch einmal erklingt, wenn sie für ihn erklingt! – nicht plötzlich inne, was das ist: Eine menschliche Stimme.
⁹⁹



Zwar strebt Celan ebenso eine Einheit von Singen, Musik und Dichtung an, die «den Augenblick der Wahrheit» besitzt, allerdings führt er Bachmanns Standpunkt der Stimme als «Organ ohne letzte Präzision» konsequent zu Ende und das Singen wird zu einer verzerrt-grotesken Lächerlichkeit. Lächerlich zum einen wegen dem unbedingten Versuch, die «Wahrheit» in einer Welt zu singen, die das nicht hören will, und zum anderen aufgrund des unablässigen Scheiterns, diese «Wahrheit» konkret in Sprache zu fassen. Zwar wird diese Lächerlichkeit ausgestellt, durch die Groteske entsteht aber auch ein befreiendes Lachen, das zu einer Effizienz dieser Groteske führt. Hierzu ist vor allem aufschlussreich, was Celan zu Mandel'štams Gedicht Der erste Januar 1924 mit dem Vers «die Rosshaardecke singt!» anmerkt:


So kommt es zum Ausbruch aus der Kontingenz: durch das Lachen. Durch jenes, uns bekannte ,unsinnige‘ Lachen des Dichters – durch das Absurde. Und auf dem Weg dorthin hat das Erscheinende – die Menschen sind abwesend – geantwortet: die Rosshaardecke hat gesungen. (TCA, Der Meridian, S. 221)


Die Verschiebung des Gesanges ins Animalische rückt Celan auch in die Nähe von Kafka.¹⁰⁰ Wo bei Kafka «die Nager […] imstande sind, korrekte musikalische Töne hervorzubringen», nähert Celan die Kreatur nicht der Kunst an, sondern führt die Kunst des Menschen zurück in die Kreatur. Denn letztlich liegt im kreatürlichen Ausdruck etwas Urtümliches und Reines, oder im Sinne Celans, etwas Wahres.




Kurzes Fazit

In musikalischer Hinsicht zeigt das gesamte Hauptwerk eine strenge Auseinandersetzung Celans mit seinen Texten, wo er changiert zwischen Fortführung, Negation und Zerstörung seiner eigenen Motive. Dennoch war Celans Absicht eigentlich, die Musik mit ihrer ästhetisierenden Wirkung abzuschaffen, so dass die Fortführung auch als ein Ringen um Beseitigung gelesen werden muss und vor allem in der verdeckten Motivik nicht gänzlich gelingt.

Durch die Entstellung des Singens hat Celan zumindest erreicht, dass es nicht mehr wie im Frühwerk ein hochästhetisches und semantisch leeres Singen ist, das einen metasprachlichen Bereich an sich darstellt, sondern dass es jetzt gebrochen und semantisch aufgeladenen ist. Dabei wird immer auch die Fähigkeit der Sprache mitverhandelt: Kommt sie überhaupt zur Sprache und in welcher Form kommt sie zur Sprache? Kann sie überhaupt so etwas wie «Wahrheit» ausdrücken? Die musikalischen Mittel reagieren nämlich genau auf diese Fragen. Zum einen vermitteln sie die Dringlichkeit dieser Anliegen, wodurch eine «Überschallschwinge» ersungen wird; zum anderen können sie diese auch erfüllen, wenn sie sich in ihre Urzustände zurückversetzen – ins vormusikalische Lallen und ins kreatürliche Wiehern. Durch diese Art von Entkleidung versucht Celan, die Musikalität zu beseitigen, wobei er es aber nicht schafft, sie gänzlich zu zerstören, sondern er verzerrt sie nur und spricht ihr andere Wirkungen und Aussagen zu. Seine Versuche enden wiederum in musikalischen Bezügen und führen letztendlich dazu, dass Celan 1969 mit Verzweiflung notiert «noch immer in Berührung mit Singendem» [M 125].


Paul Celan




Wieder Ärger um die Todesfuge


Trotz der erweiterten und fortgeführten musikalischen Poetik wird Celan 1965 noch einmal an seinen naiven Umgang mit der Musik erinnert, nämlich gleich in zwei Aufsätzen im Merkur, Heft 19. Reinhard Baumgart lässt sich dort noch einmal auf den Diskurs über Lyrik nach Auschwitz ein, wobei er in seinem Aufsatz sogar zwei Zitate von Rudolf Höss verarbeitet.¹⁰¹ Baumgart greift genau das Problem der Ästhetisierung des Grausamen wieder auf und postuliert, dass Autoren, die sich auf diese Problematik einlassen, den «ästhetische[n] und moralische[n] Gewaltakt»¹⁰² zu entkleiden haben und auf den «ästhetisch peinlichen Aufputz»¹⁰³ verzichten müssten. Ausführlicher dazu schreibt er:


Legitimer klingt ein anderer Einwand gegen diese Autoren, denn sie [die Lyrik] nimmt ihren Gegenstand, eben die Unmenschlichkeit, ernst und fragt: Darf das Geschehene überhaupt zu Kunst gemacht werden, gedeiht es der Literatur nicht, auch gegen ihre Absicht, allzu formell? Laokoon, behauptet klassische Ästhetik, darf nicht schreien; noch vor den äussersten Zumutungen des Schmerzes soll die Kunst gelassen ihre Regeln, den ästhetischen Anstand wahren. Gegenüber solchen Dekreten freilich muss Adorno recht behalten mit der Behauptung, ein Gedicht nach Auschwitz sei Barbarei. Aber ganz zu schweigen vom Gedicht nach Auschwitz: haben sich die Gedichte über Auschwitz immer frei halten können von jener Schönheit, die das Unsägliche durch Kunstaufwand beredt macht, den Schrecken zur Ordnung ruft, einzirkelt und befriedet? Celans ,Todesfuge` etwa und ihre Motive, die ,schwarze Milch der Frühe`, der Tod mit der Violine, ,ein Meister aus Deutschland`, alles das durchkomponiert in raffinierter Partitur – bewies es nicht schon zuviel Genuss an Kunst, an der durch sie wieder ,schön` gewordenen Verzweiflung? (…) Jede Form und ästhetische Methode nämlich begeht diesen Frevel an diesem Gegenstand, insofern sie ihn organisiert. Auch und gerade das geglückte Gedicht, die geglückte Geschichte machen sich verdächtig, wenn es ihnen geglückt ist, Unmenschlichem in aller Form gerecht zu werden. Dieser Widerspruch lässt sich nicht aufheben.¹⁰⁴



Im demselben Merkur-Band findet sich dann auch noch eine Kritik von Kurt Oppens, die in die gleiche Richtung zielt, wenn er schreibt:


Die beiden Bände [Celans Die Niemandsrose und Enzensbergers Blindenschrift] sind massvoll, verglichen mit denen, die ihnen vorangingen; allerdings enthält auch keiner von ihnen Schlager wie ,Gewimmer und Firmament‘, die ,Todesfuge‘, die ,Engführung‘. (…) Als Schlusskadenz des Bandes verweisen sie [die Verse: «Um / wessen / Sternzeit zu spät?»] auf den geheimen Fluch und die unlösliche Tragik, die über dieser Dichtung und der in ihr deutschsprachig vollzogenen jüdisch-christlichen Eignung liegt: sie kommt um die Sternzeit der Sprache zu spät, in der sie geschrieben ist.¹⁰⁵



Die Folge daraus ist, dass sich Celan erneut intensiv mit Schönberg auseinandersetzt¹⁰⁶ – was natürlich der falsche Weg ist, denn auch die Neue Musik ist Musik nur mit anderen Mitteln und einer aktualisierten Definition. Am deutlichsten zeigt sich die Schönberg-Rezeption im Briefwechsel mit Franz Wurm, in dem Celan um Briefe Schönbergs an Kandinsky bittet,¹⁰⁷ woraufhin Wurm deren Versand an ihn veranlasst.¹⁰⁸ Es lässt sich aber nicht ausfindig machen, welche Zitatstelle Celan suchte, weil die Anfrage nicht brieflich zuging, sondern anscheinend telefonisch. Eine Untersuchung auch auf Schönbergs Harmonielehre, die ihm Wurm ans Herz legt,¹⁰⁹ wäre in Bezug auf das Spätwerk zwar ebenso interessant, kann hier aber nicht gesichert unternommen werden. Nachfolgend sei deswegen nur auf signifikante Erscheinungen der Musikpoetologie im Spätwerk hingewiesen.




Erscheinungen im Spätwerk

Zumindest den äusseren Umständen nach müsste spätestens ab 1969 bzw. ab dem Band Lichtzwang noch einmal ein Wandel in Bezug auf die Musik stattfinden. Das Grundproblem im Hauptwerk Celans war ja, dass er mit musikalischen Mitteln und Fragmenten gegen die Musik anschreibt, was kaum gelingen kann. Dennoch kann hier nicht von einem allumfassenden Wandel gesprochen werden, sondern «lediglich» von einem zusätzlichen und weiterentwickelten Aspekt. Celan geht dabei von der Involution heraus wieder auf die Oberfläche und verhandelt die Motivik, wie im Frühwerk, wieder direkter diskursiv. Freilich, nachdem die Musik die Sprache von innen heraus «durchfahren» hat.¹¹⁰   Hierfür entkoppelt Celan die Musik und das Singen auch von dem Problem des Zur-Sprach-Kommens und der Opposition hörbar/unhörbar, da mit dieser Kopplung die eigentlich beabsichtigt zerstörte Musik lediglich zurückfiel ins Unhörbare, Nichtausgesprochene und Urtümliche oder Lächerliche, wo sie aber ihre musikalischen Merkmale zuweilen behielt. Insofern kann das 67 entstandene Gedicht Hörreste, Sehreste (G 275) ganz ohne psychotherapeutischen Aspekt auch programmatisch ausgelegt werden:


HÖRRESTE, SEHRESTE, im
Schlafsaal eintausendundeins,

tagnächtlich
die Bären-Polka:

sie schulen dich um,

du wirst wieder
er.


Wiedemann verweist zwar hierzu auf Celans Rezeption von Freuds Das Ich und das Es und Freuds Bedeutung der optischen Erinnerungsreste (G 798), eine werkgenetische Auslegung ist hier aber einleuchtender. Wo, begonnen mit Anabasis, die Dichotomie hörbar/unhörbar noch auf die passive Rezipientenseite verlagert wurde, weil das Zur-Sprach-Kommen immer auch von seiner Wahrnehmung abhängig ist, so bleibt es jetzt ausschliesslich auf den Produktionsprozess beschränkt, womit es eben auch zu einem Problem der Musik wird, die gestört erscheint, denn von ihr erscheinen hier nur «Hörreste». Auf die Verbindung von auditiv Musikalischem und Visuellem wurde, wie z.B. bei den «Augenstimmen, im Chor» in Windgerecht, bereits hingewiesen, sie macht plausibel, dass die Hörreste auch mit Sehresten auftreten. Die Hörreste ergeben sich aber auch aus dem zeitgleich entstandenen Gedicht Mächte, Gewalten (G 256):


MÄCHTE, GEWALTEN.

Dahinter, im Bambus:
bellende Lepra, symphonisch.

Vincents verschenktes
Ohr
ist am Ziel.


Etwas zynisch erfüllt hier van Goghs abgetrenntes Ohr seinen Sinn gerade dadurch, dass es nichts mehr hören kann. Denn die Abtrennung erscheint immer noch sinnvoller als sich von der Lepra befallen zu lassen. Dabei ist es nicht ganz unwichtig, dass es die befallene Musik ist, die das Hörorgan abtrennen kann. Letztlich ist es besser, wenn sie gleich versiegt und etwas Schalltotes (G 297) wird, wie dann auch ein Gedicht heisst. Andererseits kann natürlich auch aktiv gegen die Musik und den Gesang vorgegangen werden wie in Wanderstaude (G 349): «wenn einer, der / die Gesänge zerschlug, / jetzt spräche zum Stab, / seine und aller / Blendung / bliebe aus.» Lässt man die religiöse Bedeutung des Liedes mit dem Lobgesang Mose ausser Acht, dann wenden sich die Verse nicht nur gegen die religiösen Gesänge, sondern eben auch gegen die Blendung durch die Ästhetisierung mittels des Gesanges. Nur muss dieses einfache gewalttätige Verfahren in Hinblick auf die intensive und komplexe Verarbeitung im Hauptwerk, fast schon als eine Kapitulation vor dem Thema gelesen werden. Aber gerade auch in der involutiven Verarbeitung zeigt sich im Spätwerk noch einmal, dass Celan sein Vorhaben der Zerstörung des Gesanges nicht gelingt.


[…]
Huf-
schläge des Vorgetiers zum
Hefen-Arioso:
es geht, fladenschön-singbares Wachstum,
immer noch aufwärts,
[…]                                                  Ausgerollt (G 250)


Mit Verweis auf das Wiehern ist es nicht unlogisch, dass hier ein Huftier zu einem Arioso ansetzt, das an sich kein reiner Gesang ist, sondern sich zwischen Textvortrag und melodischem Singen bewegt. Noch dazu ist es ein «Hefen-Arioso», womit Celan wahrscheinlich das sogenannte knödelnde Singen pejorativ der Lächerlichkeit preisgibt. Da es sich beim Knödeln um eine künstliche Verengung in der Luftsäule¹¹¹ handelt, wird doch noch einmal auf die Erschwerung des Zur-Sprach-Kommens angespielt. Trotzdem gelingt die Entfaltung des Singens auf eine «fladenschön» raumgreifende Art und besitzt durch seine Aufwärtsbewegung wie in Anabasis einen emphatisch befreienden Charakter.

Weil damit aber all die Mühe und das Ringen um die Zerstörung ohnehin obsolet wird, kommt dann auch noch ein sang- und klangloser, aber geglückter Orpheus daher: «den Flüssen folgend in die ab- / schmelzende Eis- / heimat […] Ungestillt, / unverknüpft, kunstlos, / stieg die Allverwandelnde langsam / schabend / hinter mir her.» (Muschelhaufen, G 275) Oder hat gerade er das Ziel
¹¹² erreicht?


***


⁴⁸ Diese zeigen aber auch feste Adaptionen, worauf schon Titel im Hauptwerk wie Ricercar, Cello-Einsatz (der Bezug nimmt auf den Einsatz des Solo-Cellos im langsamen Satz Adagio ma non troppo des Cello-Konzerts in h-Moll op. 104 von Antonin Dvořak [vgl. G 739]), Die Posaunenstelle, Die entzweite Denkmusik, Wer gab die Runde aus? (das auf ein Shanty verweist) und Ausgerollt (das auf ein Arioso verweist).

⁴⁹ Bachmann, Ingeborg (2005), S. 250f.

⁵⁰ Vgl. Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Manfred Pfister und Ulrich Broich. Tübingen 1985, S. 31-47.
⁵¹ Voswinckel (1974), S. 85.
⁵² Vgl. Metzler Lexikon Literatur. 3., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. Von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart 2007, S. 784.
⁵³ Die Verse von Villon lauten: «Je suis Francoys, dont il me ponse, / Né de Paris emprès Pontoise» (Vgl. Schulz, Georg-Michael: Eine Gauner- und Ganovenweise. In: Kommentar zu Paul Celans Die Niemandsrose. Hg. von Jürgen Lehmann. Heidelberg 1997, S. 131-136).
⁵⁴ Dahlhaus, Carl: Fragmente zur musikalischen Hermeneutik. In: Beiträge zur musikalischen Hermeneutik. Hg. von Carl Dahlhaus. Laaber 1975, S. 159-174, hier S. 167.
⁵⁵ Adorno (2003), S. 160.
⁵⁶ Neben den ausgeführten Vorstufen sei noch auf den Gedichtanfang in Handschrift 4 hingewiesen, wo Celan im Vergleich zur Endfassung noch ganz anders ansetzt mit: «Wilde, blähende Lunge. / Stöberts? Wir haben geatmet.» (BCA, Sprachgitter, Bd. 5.2, S. 226). Dies lässt nicht nur die Verbindung zu «Par- / tikelgestöber» (Engführung) zu, sondern – durch das poetologische Prinzip des Atmens – auch zum «Metapherngestöber» (Ein Dröhnen, BCA, Atemwende, Bd. 7.1, S. 89).
⁵⁷ Die Allophonie von Lied / Lid und die Verbindung von Musik und visueller Wahrnehmung zeigt sich auch später in ihrer Negation: «bald hängt der taumlige Star / im doppelten Liedschwarm» (Magnetische Bläue aus Lichtzwang).
⁵⁸ Janz (1976), S. 95.
⁵⁹ Infolge dessen deutet Licht immer auf die Stimmwerdung hin, so wie es auch in «Atemgeflecktes Geleucht» (Schneebett) konstatiert wird, oder in «Eine Hand, die ich küsste, / leuchtet den Mündern» (Eine Hand). Dies wird in den nachfolgenden Gedichtbänden Celans beibehalten und zeigt sich am deutlichsten in Give the Word mit den Versen «Der stille Aussatz löst sich dir vom Gaumen / und fächelt deiner Zunge Licht zu,/ Licht.» (BCA, Atemwende, Bd. 7.1, S. 93).
⁶⁰ Die «Fahne» als Teil von Viertel- und Achtelnotenwerten wird aber noch an anderen Stellen in eine verdeckte musikalische Reflexion involviert. Janz weist darauf in Bezug auf Die Welt hin, wo sich dies in den Versen «In der Düsenspur, scharfrandig, das / eine frei- / stehende Hochblatt. // Auch wir hier, im Leeren, stehn bei den Fahnen» manifestiert. Hierzu schreibt Janz: «Das Blatt als Fahnentuch innerhalb der Düsenspur gemahnt an eine Note zwischen zwei Linien.» Janz (1976), S. 96). Allerdings ist eher davon auszugehen, dass durch das deiktische «wir hier» das Wir und somit die Fahnen an einem anderen Ort stehen als das Hochblatt. Falls das Hochblatt als Notenhals angesehen werden sollte, dann hätten sich die Fahnen vom Notenhals abgetrennt und das Notenzeichen ist beschädigt. In dem beschädigten Zustand wäre auch eindeutig, dass solche Noten nur noch einen «Scherbenton» erzeugen. Das Wir in Die Welt steht aber gleichfalls «im Leeren», womit wieder die leere Partitur symbolisiert wird, was noch einmal in Sommerbericht aufgegriffen wird: «Eine Leerzeile, quer / durch die Glockenheide gelegt. / Nichts in den Windbruch getragen.» Die Glocken, die Notenköpfe, werden durch den Wind nicht mehr zwischen die Notenlinien getragen, womit verdeutlicht wird, dass die Musik in ihrer ungebrochenen, reinen Form zwar bereit läge, sie aber nicht adaptiert und bewusst nicht aufgegriffen wird. So erfüllt sich Celans Forderung nach «eine[r] ,grauere[n]’ Sprache, […] die […] ihre ,Musikalität’ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ,Wohlklang’ gemein hat» (GW III, S. 167f).
Etwas abwegiger taucht das Fahnen-Motiv auch in Heimkehr auf: «ein Gefühl, / vom Eiswind herübergeweht, / das sein taube-, sein schnee- / farbenes Fahnentuch festmacht». Was hier zunächst nicht in Bezug zur Musik steht, tut es aber doch. Denn den nötigen (biographischen) Hinweis zum Zusammenhang der Fahne mit der Musik liefert Brigitta Eisenreich, die Celans «Fensterln» folglich beschreibt: «Um meine Anwesenheit zu signalisieren und um dem Besucher [Celan] den unnützen Aufstieg über die steile Treppe in den 7. Stock zu ersparen, befestigte ich ein weisses Tuch an meinem Fenster, wo es als ,Fahne’ seinen Zweck erfüllte. Dieses Wort war zudem mit grossen Lettern auf die Tür gemalt, damit ich beim Weggehen nicht vergässe, das Tuch hereinzunehmen; es spielte in unseren Gesprächen als Zeichensprache eine gewisse Rolle: Es meinte ja Gegenwart, Erwartung, mögliches Zusammensein. Es meinte den Reiz und die Schönheit des ,Augenblicks’, das Wehen der Vergänglichkeit. […] Schuberts Melodie [gemeint ist das Motiv von Schuberts 8. Symphonie, der ,Unvollendeten’], gepfiffen, diente weiterhin als Kommunikationsmittel – als Aufforderung also, dass ich auf die Strasse hinunterkommen sollte. Ich fand die Wahl dieses musikalischen Motivs nicht vom Zufall diktiert; ob das nun stimmte oder nicht, ich empfand sie als Bestätigung für das Zusammenspiel der Neigungen.» (Eisenreich, Brigitta: Celans Kreidestern. Ein Bericht. Mit Briefen und unveröffentlichten Dokumenten. Unter Mitwirkung von Bertrand Badiou. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 41).
⁶¹ Aller Wahrscheinlichkeit nach thematisiert Celan hier die Partitur von Schönbergs Kol Nidre op. 39, das er auch Hanne Lenz als Schallplattenaufnahme im August 1957 schenkte (Vgl. BW PC / HHL, S. 88). Schönberg setzt dort mit der Notation der Stimme des Rabbis an zahlreichen Stellen aus, nämlich zum ersten Mal an der für Celan textlich markanten Stelle «but the meek and modest, eyes, downcast, he sees it – ,A light is sown for the pious’» (ab Takt 43). In der Adaption Celans kann der Chor erst dann einsetzen, wenn sich die ersten Worte des Rabbis, «Let there be light» (Takt 31f), und somit auch die Demut des Kol Nidre erfüllt haben.
Schönberg ersetzt in der Partitur ausserdem die leeren Notenköpfe von Halbnoten mit Rauten (die gefüllten hingegen mit Kreuzen beziehungsweise Sternchen). Mit dieser Notation versieht Schönberg seinen «Sprechgesang». Der «Sänger» kann die Noten so zwar im entsprechenden Rhythmus, aber in keiner Tonhöhe ausführen. Ist die Partitur leer, was Celan ebenso markiert, dann fällt folglich auch die Vorgabe für den Rhythmus weg.
Was bisher für Windgerecht behauptet wurde, nämlich dass die Fahnen der Noten bereitlägen aber nicht gespielt werden, wird ebenso aus Schönbergs Kol Nidre mit neuem Sinn gefüllt. In der Partitur erscheinen an einer Stelle in der Stimme des Rabbis gar keine Notenköpfe, sondern lediglich zwei alleinstehende Achtelfahnen. Dies ist der Fall an der Stelle «We re-» (Takt 71) von «We repent that these obligations have estranged us from the sacred task we were chosen» (Takt 71-74), nach dem tatsächlich der Chor direkt erwidert: «We repent» (Takt 74) – Wir tun Buße, wir kehren um. Genau dieses «We» von «We repent» setzt in Takt 77 bei der Sopran-, der Alt-, und der Tenorstimme, also ausser der Bassstimme im gesamten Chor, mit einem As ein. Hier befindet sich also bereits die «Leuchtassel», bevor das Feld ganz mit einem «Lichtschein beziffert» wird und realisiert werden kann. (Vgl. Schönberg, Arnold: Kol Nidre. Opus 39. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abteilung V: Chorwerke. Reihe A. Bd. 19: Chorwerke II. Hg. von Josef Rufer und Christian Martin Schmidt. Mainz / Wien: Schott Verlag und Universal Edition AG 1975, S. 1-61.).
⁶² Vgl. Der Brockhaus Musik. Personen, Epochen, Sachbegriffe. 2., völlig neu bearb. Aufl. Hg. von der Lexikon Redaktion des Verlags F.A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig / Mannheim: F.A. Brockhaus 2001, S. 719.
⁶³ dtv Wörterbuch Musik. Von Gerhard Dietel. 3. Aufl. München / Kassel / Basel/ London / New York / Prag 2006, S. 11.
⁶⁴ Vgl. Speier, Hans-Michael: Musik – Sprache – Raum. Zu Paul Celans Gedicht Anabasis. In: Celan-Jahrbuch 5 (1993), S. 53-88.
⁶⁵ Darauf weist auch Speier hin (Vgl. Speier [1993], S. 67).
⁶⁶ Auch Böschenstein bringt die Atemreflexe mit den Kolen in Verbindung und sieht darin die «Verdeutlichung der Intervalle, die die Silbenzerteilung freilegt, um die Pausen hörbar zu machen.» (Böschenstein, Bernhard: Anabasis als Zeugnis von Celans Poetologie. In: Ders.: Vom Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. München 2006, S. 351-355, hier S. 353.)
Wichtig erscheint in Bezug auf Kolen die Wortverwandtschaft zu kol, was im Hebräischen sowohl Stimme beziehungsweise Stimme Gottes, als auch «alles» bedeutet, das somit in den Kolen eingelagert wäre. Ivanović weist diesbezüglich auch Kol Nidre hin (Vgl. Christine Ivanović: Stimmen. In: Kommentar zu Paul Celans Sprachgitter. Hrsg. von Jürgen Lehmann. Heidelberg 2005, S. 73-110, hier S. 81).
Aus der Verbindung zu Kol Nidre ergeben sich aber noch weitere Zusammenhänge für die Lyrik Celans, nämlich in Bezug auf Engführung, in der Celan auch die Sternchen verwendet, mit denen Schönberg die Notenköpfe ersetzt. Gleich zu Beginn von Kol Nidre spricht der Rabbi auch: «The Kabalah tells a legend: At the beginning God said: ,LET THERE BE LIGHT.’ Out of space a flame burst out. God crushed that light to atoms. Myriads of sparks are hidden in our world, but not all of us behold them. The self-glorious, who walks arrogantly up-right, will never perceive one; but the meek and modest, eyes downcast, he sees it.» (Vgl. Schönberg [1975], S. 14-25). In Zusammenhang mit Engführung liefert dies eine neue Bedeutung des «Partikelgestöber», sowie des Augenmotivs bezüglich des verdrängten Vergehens und des Zusammenhangs mit der Musik.
Übertrieben schlussgefolgert müsste das alles, so wie auch die reuige Umkehr, die im Kol Nidre stattfindet, in den Kolen, also in den Pausenfiguren Celans, kulminieren.
⁶⁷ Vgl. Pöggeler, Otto: Die göttliche Tragödie. Mozart in Celans Spätwerk. In: Der glühende Leertext. Hg. von Otto Pöggeler und Christoph Jamme. München 1993, S. 67-86, hier S. 75.
Belegt kann diese These auch werden mit dem ebenso im Meerraum angesiedelten Gedicht Hafen aus Atemwende, in dem die «den zwölf- / tonigen Liebeslautbojen» auftauchen. Derartige Bojen bzw. Notenköpfe verweisen nicht nur auf die Zwölftontechnik, sondern sind zugleich tonig, so dass im Sinne der Kreatürlichkeit sich die Musik in Asche, Erde und Lehm eingelagert hat, wodurch es auch als Fortführung von Psalm dient und dem Vers: «Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub.» Die Liebeslautbojen wären also demnach nichts anderes als der im Frühwerk angeschlagene Dialog zwischen Liebenden und Toten mittels des Mediums Musik, nur dass diese jetzt dissonant klingt.
⁶⁸ Speier (1997), S. 77.
Dadurch reflektiert Mozart die musikalisch-rhetorische Figur des Suspiratio, das durch Unterbrechung einer Phrase den Affekt des Seufzens und Klagens darstellen soll. «suspirat cor» wird zu einem ausgeführten Herzseufzer. Das suspiratio legt Celan aber auch in die Wörter hinein und zerteilt sie, weil hier gleichsam zutrifft, was Krones für diese musikalische Pausenfigur definiert: «Hier handelt es sich um Kunstmittel, die sich durch längeres Schweigen beziehungsweise Pausieren darstellen. Die häufigste Figur ist die suspiratio (stenasmus, der Seufzer […], also Affekte eines Stöhnenden und seufzenden Geistes, aber auch der Sehnsucht ausdrückt und selbst Worte zerteilen kann.» (Krones, Hartmut: Musik und Rhetorik. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (1995), Meis – Mus, S. 814-852, hier S. 832.)
⁶⁹ Da hier eine strukturelle Analyse ausbleibt, sei aber zumindest erwähnt, dass Celan mit dem Suspiratio beginnt, mit der Musiksprache durch die Wortsprache hindurchzugehen und eine Parasprache ausbildet, die eben «mit und durch die Sprache (hindurchgeht) gegen das atemferne Wortgebräu» (TCA, Der Meridian, S. 171). Diese Parasprache setzt auf die musikalische Semantik des Nicht-Sprachlichen und bildet mit musikalischen Mitteln und Figuren eine neue Sprachlogik.
⁷⁰ Vgl. Speier (1997), S. 82.
⁷¹ Die Freisetzung der Sprache, des Wortes und des für Celans Poetologie so wichtigen Namens zeigt sich aber später auch wieder negiert, nämlich im Gedicht Kein Name (Fadensonnen): «Kein Name, der nennte: / sein Gleichlaut / knotet uns unters / steifzusingende / Hellzelt.» Die Freisetzung mittels Gesang funktioniert hier also nicht mehr, und die Musik kann das Wort nur steif singen.
⁷² Bachmann, Ingeborg: Todesarten-Projekt. Kritische Ausgabe. Band 3.1. Malina. Bearbeitet von Dirk Göttsche unter Mitwirkung von Monika Albrecht. München 1995, S. 335.
⁷³ Vgl. Wiedemann (1997), S. 154.
⁷⁴ Interessant erscheint dabei, dass Celan am Beginn des Bandes Fadensonnen den Vorzustand des von Messern durchfahrenen Menschenliedes thematisiert und dessen Dringlichkeit verdeutlicht in Gezinkt der Zufall: «Messer / schmeicheln, Krücken […] sing du das Menschenlied / von Zahn und Seele, beiden / Härten». Dies allerdings auch nur, um es am Ende des Bandes zynisch aufzulösen, da das Lied mit zu viel Druck gesungen wurde, wie es in Angewintertes heisst: «im goldgelben Schatten […] / der sternbespieenen / Überschall-Schwinge / die du / ersangst.» Das Vibrato der Worte im Sinne eines Luftwellenmediums tritt in Verbindung mit den Sternen auf, womit wiederum gegen das Frühwerk angeschrieben wird.
⁷⁵ Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 10, Spalten 1866 – 1870.
⁷⁶ Reichel, Hans und Adolf Bleichert: Leitfaden der Physiologie des Menschen. Stuttgart 1966, S. 185. Zitiert nach G, S. 957.
⁷⁷ Ferner sind hier folgende Textstellen zu erwähnen: «Mein Mund / spie seinen Schotter» in Matière de Brétagne (G 102), «Von Wahr- und Voraus- und Vorüber-zu-dir-, / von / Hinaufgesagtem / […] der eigenen Herzsteine, die man ausspie» in Und mit dem Buch aus Tarussa (G 164) oder auch «die beiden / herzgrauen Lachen: / zwei/ Mundvoll Schweigen» in Sprachgitter (G 99). Unter diesem Aspekt wird auch Celans Notiz deutlich: «‹Was auf der Lunge, das auf der Zunge›, pflegte meine Mutter immer zu sagen» (TCA, Der Meridian, S. 51). Es ist die Lunge und der Atemweg, aus denen der Dreck und die Asche transportiert wird, so dass der Sprachmüll, den man ausspeit, darauf zurückzuführen ist.
⁷⁸ Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Menschen und Tieren. Halle 1896, S. 177.
⁷⁹ Vgl. Neumann, Peter Horst: Wie der deutschen Lyrik das Singen verging. Von Eichendorff zu Paul Celan. In: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft. Bd. 25. Hrsg. von der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft. Bern 2006, S. 81-92.
⁸⁰ Vgl. Pöggeler (1993), S. 67-86.
⁸¹ Dass sich Celan für die Arbeit von Boulez, diesem aus Osteuropa stammenden Juden, dessen Eltern im KZ starben, und der nach Wien flüchtete, interessiert hat, erscheint aber nicht nur aus biographischen Parallelen naheliegend, sondern Boulez' erste Vokalkompositionen von 1946-1950 basieren auch auf Gedichten von René Char, den Celan übersetzt hat.
Auch der Titel von Boulez' Vokalkomposition Le marteau sans maître, also «Der herrenlose Hammer», zeigt Parallelen zu Celans Verwendung des Hammer-Motivs in Bezug auf die musikalische Verarbeitung.
⁸² Mayer, Andreas: Musikalische Lyrik im 20. Jahrhundert. In: Hermann Danuser (Hrsg.): Musikalische Lyrik. Bd. 2: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Laaber 2004, S. 225– 318, hier S. 269.
⁸³ Bachmann (2005), hier S. 206.
⁸⁴ Vgl. Faller, Adolf: Der Körper des Menschen. Einführung in Bau und Funktion. Neu bearb. von Michael Schünke. 13. Aufl. Stuttgart / New York: 1999, S. 344-346.
⁸⁵ Dieser Zusammenhang und die Beschreibung der Bronchien als schwarzer Tümpel in diesem Gedicht, liefert noch eine weitere Interpretationsvorlage für Fadensonnen und den «baum- / hohen Gedanken», der sich den «Lichtton» greift.
⁸⁶ Vgl. Faller (1999), S. 335.
⁸⁷ Ob Celan als Raucher hier zudem die Nikotinverschmutzung seines bronchialen Systems miteinbezieht sei dahingestellt. Aufgrund der Staubpartikel muss aber die Asche oder der Staub, wo sie gemeinsam mit dem Singen auftreten, nicht als Metapher gesehen werden. In dieser Bedeutung taucht es immer wieder im Band Fadensonnen auf, wie etwa in Form vom «Aschen-Schluckauf» oder auch in den Versen «ein Aschen-Juchhe / blättert die Singstimmen um». Letztendlich führt das auch etwas zynisch zu dem Vers «grölten den Aschen-Shanty».
⁸⁸ Das Gedicht steht so in Zusammenhang mit Psalm im selben Gedichtband. Da dies allerdings nicht zur Sprache kommt, heisst es dort: «Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unsern Staub.»
⁸⁹ Siehe auch das Gedicht Offene Glottis (G 335) aus Schneepart.
⁹⁰ Wenn die Glottis als eine automatenhafte Mechanik angesehen wird, so erklärt das die Verse von Die Zerstörungen? (G 494): «Eine Sprache / gebiert sich selbst, / mit jedem aus / den Automaten gespieenen / Gedicht».
⁹¹ Das «stumme / Vibrato des Mitlauts» ist streng genommen ein Selbstzitat und stammt aus dem Frühwerk mit dem Gedicht Schliere, wo es heisst: «ein durchs Dunkel getragenes Zeichen […] als stumm / vibrierender Mitlaut gestimmt.» Dadurch ist das Vibrato, wie es in Form einer Schwinge auch in … rauscht der Brunnen und Angewintert auftaucht, eigentlich eine Fortführung dessen.
Eine weitere Textstelle, wo der Kehlkopf ohne vokale Ausgestaltung Musik erzeugt, findet sich im viel interpretierten Gedicht Frankfurt, September (G 231) und den Versen «Der Kehlkopfverschlusslaut / singt.» Auch hier muss es als Versuch gelesen werde, das Wahre auszudrücken. Dabei wurde zwar das Singen des Kehlkopfes erwirkt, effektiv singt aber lediglich der «Kehlkopfverschlusslaut» und die eigentliche Sprechabsicht kommt wieder nicht zum Ausdruck.
⁹² Seidner, Wolfram und Thomas Seedor: Singen. In: Musik der Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet durch Friedrich Blume. Zweite neu bearb. Ausgabe hg. von Ludwig Finscher. Sachteil 8: Quer - Swi. Kassel / London / New York / Prag / Stuttgart / Weimar 1996, S. 1412-1470, hier S. 1413.
⁹³ Dies kommt auch in dem Gedicht Give the Word (G 208) in den letzten Versen zum Ausdruck: «Der stille Aussatz löst sich dir vom Gaumen/ und fächelt deiner Zunge Licht zu,/ Licht.»
⁹⁴ Beiläufig ist hoffentlich auch klar geworden, dass die von Celan häufig angesprochene Metaphernlosigkeit realisiert ist bzw. die Metaphern ad absurdum geführt werden, weil die Metaphorik wieder zurückweist ins objektiv Ontologische. Denn mit den oft als verrätselt dargestellten Wörtern wie «Flimmerbaum» sind ganz reale Erscheinungen und Dinge gemeint.
⁹⁵ Seng (2003), S. 179.
⁹⁶ Diese Verbindung stammt eigentlich schon aus dem Frühwerk, wo Celan in einer bis spätestens März 1949 entstandenen Notiz festhält: «‹Du redest so unverständlich›, meinte der Tod zum Sterbenden, ‹du lallst ja nur, du lallst wie ein Neugeborenes. Sprich deutlicher, sprich tödlicher!›» Allerdings aktualisiert er es erheblich und kehrt das Lallen, das hier noch in seinem prosaischen Gebrauch verwendet wird, eigentlich in seiner Semantik um. Ausser Celan würde es z.B. in Tübingen, Jänner einen durch den Tod gegangenen Neugeborenen aufrufen, so dass eine Wiedergeburt eines Eingedenk-Gebliebenen gemeint wäre.
⁹⁷ Agricola, F.: Anleitung zur Singkunst. Bln. 1757, S. 136. Zitiert nach Seidner/Seedor (1996), S. 1432.
⁹⁸ In Flüsterhaus wird dieses Lallen sogar zwangsweise hergestellt, indem Pflöcke zwischen den Mund getrieben werden, damit der Luftstrom ungehindert ausströmt: «Das Flüsterhaus […] es bürgert / den Enge-Laut ein, // für die Lallstufe / sorgen / die Lippen- / pflöcke» (Das Flüsterhaus aus Lichtzwang).
⁹⁹ Bachmann (2005), S. 251f.
¹⁰⁰ Wiedemann hat bereits zu dem Gedicht Frankfurt, September auf die Verbindung zu Josefine und die Sängerin hingewiesen, die sie mit dem singenden Kehlkopfverschlusslaut in Verbindung bringt (Vgl. KG 752). Die Beziehung Celans zu Kafkas Erzählung zeigt auch das Gedicht mit dem Titel Mit der Stimme der Feldmaus (G319).
¹⁰¹ Die beiden Zitate lauten: «Ich muss offen sagen, auf mich wirkte die Vergasung beruhigend … Mir graute immer vor der Erschiessung, wenn ich an die Massen, an die Frauen und Kinder dachte.» (Zitiert nach Baumgart, Reinhard: Unmenschlichkeit beschreiben. Weltkrieg und Faschismus in der Literatur. In: Merkur 19 (1965), H. 202, S. 37-50, hier S. 38.) Und: «Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauernhofs, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod. / So wohlfeil, und so pervers, ist als solches Sentiment und sein Lyrismus geworden – auch die Mörder beherrschen den wehen Zungenschlag.» (ebd., S. 46.)
¹⁰² Baumgart (1965), S. 44.
¹⁰³ Baumgart (1965), S. 45.
¹⁰⁴ Baumgart (1965), S. 48f.
¹⁰⁵ Oppens, Kurt: Blühen und Schreiben im Niemandsland. In: Merkur 19 (1965), H. 202, S. 84-88.
¹⁰⁶ Bei einem Treffen mit Franz Wurm in Zürich kaufte Celan bereits 1967 Schönbergs Texte. Die glückliche Hand. Totentanz der Prinzipien. Requiem. Die Jakobsleiter. Wien / New York: Universal Edition 1926, versehen mit dem Kaufdatum 20.09.67. Ausser dem Kapitel Jakobsleiter sind nach Badiou allerdings keine Seiten aufgeschnitten. (Vgl. BW PC / GCL II, S. 332)
¹⁰⁷ Celan schreibt anfänglich am 06.02.1969: «Aber es gibt ja noch andere Instanzen, nur klirren da die Menschenscherben herein, mitten aus den Aschen, mitten in die Aschen […] Eine Bitte: können Sie mir den Band Schönberg-Briefe leihen und mir gleichzeitig den Brief nennen, den Sie mir seinerzeit vorgelesen haben?» (Briefwechsel BW PC / FW, S. 174).
¹⁰⁸ Wurm antwortet darauf, dass Luzzi Wolgensinger die Briefe schickt: «Die Schönberg Briefe hat Luzzi [Wolgensinger], nicht ich; sie wird sie Ihnen schicken. Es waren, glaub ich, die Briefe an Kandinsky, Sie werden sie nach dem Index leicht finden.» (BW PC / FW, S. 175) und am 24.02.69 weiter: «Luzzi schreibt mir, sie habe Ihnen die Schönberg-Briefe geschickt, ihr Brief war einige Tage unterwegs, Sie werden also das Buch inzwischen wohl bekommen, die beiden Briefe an Kandinsky darin gefunden haben.» (BW PC / FW, S. 176)
¹⁰⁹ Wurm bringt Schönberg am 02.10.69 noch einmal zu Gespräch, indem er schreibt: «Ob es dieses Schönberg-Zitat war, das Sie gesucht haben? Seine Harmonielehre ist voll solcher Exkurse und überhaupt ein ausgezeichnetes Buch. Der Wittgenstein kommt als Zugabe mit.» (BW PC / FW, S. 216).
¹¹⁰ Um dies vollends zu untermauern, müsste noch die strukturelle Verarbeitung der Musik und die Ausbildung einer Parasprache durch musikalische Mittel einbezogen werden.
¹¹¹ Etwas abwegiger könnte man auch die Hufen selbst als eine Thematisierung von Teilen der Luftröhre deuten. Faller schreibt jedenfalls, dass die Luftröhre etwa durch zwanzig «hufeisenförmige Knorpelspangen» nach hinten hin offen gehalten wird. (Faller 1999, S. 344.). Die «Schläge» derer würden demnach wiederum ein Vibrato erzeugen.
Aus diesem Blick bekämen auch die Hufe in Gewieherte Tumbagebete eine neue Deutung. Wenn es dort heisst: «Bluthufe scharren / die Denksträuße zusammen», dann wäre es also die vom Atem überbeanspruchte Luftröhre, die das Gedachte hin zur Stimmwerdung transportiert.
¹¹² Der Verfasser hat das Ziel jedenfalls noch nicht erreicht, eigentlich sollte er jetzt noch den gesamten Gedichtband Lichtzwang genauer durchforsten, schliesslich sollte dieser – unter Erinnerung der behandelten Fahnenmotivik und des Atems – «Mit fahniger Lunge» bzw. «Fahnenlunge» heissen (Vgl. G 801).


Siglen:

BCA = Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe Herausgegeben von Rolf Bücher und Andreas Lohr unter Mitarbeit von Hans Kruschwitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 203ff.

G = Die Gedichte - Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. und kommentiert von Bar-bara Wiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

GW = Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983ff.

M = «Mikrolithen sinds, Steinchen». Die Prosa aus dem Nachlass. Kritische Ausgabe. Hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt a.M. Suhrkamp 2005.

TCA = Paul Celan: Werke. Tübinger Ausgabe: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Herausgegeben von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996ff.

BW PC / FW = Paul Celan – Franz Wurm: Briefwechsel. Hrsg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

BW PC / HHL = Paul Celan – Hanne und Hermann Lenz: Briefwechsel. Mit drei Briefen von Gisèle Celan-Lestrange. Hrsg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.

BW PC / GCL = Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange: Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. 2 Bände. Hrsg. von Bertrand Badiou. Frankfurt a.M. Suhr-kamp 2001.

BW PC / IB = Paul Celan – Ingeborg Bachmann: Herzzeit. Briefwechsel. Hg. Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll, Barbara Wiedemann. Suhrkamp: Frankfurt 2008.

BW PC / KND = Paul Celan – Klaus und Nani Demus: Briefwechsel. Hg. von Joachim Seng. Frank-furt a.M.: Suhrkamp 2009.

BW PC / PS = Paul Celan – Petre Solomon: Briefwechsel 1957-1962. In: Neue Literatur 32/11 (1981), S. 60-80.

BW PC / PSZ = Paul Celan – Peter Szondi. Briefwechsel. Hg. von Christoph König. Frankfurt: Suhr-kamp 2005.

BW PC / TWA = Paul Celan – Theodor W. Adorno: Briefwechsel 1960-1968. Hg. von Joachim Seng. In:


Frankfurter Adorno Blätter VIII (2003), S. 177-202.


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