Walle Sayer: Nichts, nur
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Stefan Hölscher
Walle Sayer: Nichts,
nur. Gedichte und Miniaturen. Stuttgart (Edition Hubert Klöpfer im Alfred
Kröner Verlag) 2021. 240 Seiten. 28,00 Euro.
Das stille Schwanken
der alltäglichen Welt
Ist Heimat das, was uns lebenslang mit seinen
Bildern Tönen, Gerüchen und Berührungen bewegt, verfolgt, in ruhelose
Ruhesehnsucht versetzt? Ist Heimat das, woher jemand ursprünglich kommt und von
dem er niemals lassen kann? Ist Heimat das, was uns realitätsverbunden erdet
oder etwas, das uns in andere Wirklichkeiten hineinträumen lässt? – Was für
Fragen und Gedanken! Ein Reich der Phantasie, Spekulation und poetischen
Betrachtung, das sich hier auftut, ist für so viele Dichtende die nicht
versiegende Quelle ihres Kreierens. Dass Heimatempfindungen poetische
Schwingungen produzieren, kann dabei nicht wirklich als überraschend gelten. Bei
Walle Sayer jedoch sind Heimat, Ursprungs- und Erdverbundenheit mehr: sie sind
der Kosmos seines Denkens und Dichtens. Sie sind die Schatzkammer, der Schatz,
der Weg dorthin und die Lichtung oder Trübnis, zu der, was zum Schatz gehört,
gehoben wird. Sie sind das mystische Reich des scheinbar alltäglichen Alltags.
Die heimatliche
Alltagsnähe zeigt sich in allen Gedichtbänden von Sayer, und besonders geballt
zeigt sie sich in dem jetzt ganz frisch in der Edition Klöpfer im Kröner Verlag
erschienenen Walle Sayer Lesebuch, das schon mit seinem Titel klarmacht, dass
es um das scheinbar ganz Kleine, Unscheinbare und Unbedeutende geht: „Nichts,
nur“. Hinter dem wie eine in der Dämmerung liegende tiefgrüne Wiesenlandschaft
erscheinenden Buchdeckel eröffnet sich dann auf etwa 240 Seiten eine Welt der
„Gedichte und Miniaturen“, die irgendwie alle um das gleiche
Gravitationszentrum, eben das des heimatverwurzelten Alltags, zu kreisen
scheinen. Es ist, wie es auf der Buchrückseite heißt, das „Logbuch eines
Sprachkünstlers … aus fünfunddreißig Jahren. Kompendium, Lesebuch, Querschnitt
und Zwischen-summe zugleich“.
Die hohe thematische
Familienähnlichkeit der Texte ist dabei ebenso signifikant wie der über die
Jahrzehnte hin kaum veränderte Walle Sayer-Ton: der Habitus einer Sprache, die
scheinbar ebenso schlicht und alltagsnah ist wie die Dinge, über die sie
spricht. Und Walle Sayer spricht besonders oft über solche Dinge, über die
andere nicht reden – sei es, weil sie sie gar nicht registrieren, oder sei es,
weil sie sie, wenn sie sie denn bemerkten, für eher nicht erwähnenswerte Nebensächlichkeiten
oder gar aus dem Weg zu räumenden Unrat halten würden:
AdditivDie Jahre, der Sammelhut, die Drachenschnur, das Füllgewicht, der Stuhlkreis, das Gefälle, die Anstecknadel, der Herbstflor, die Mehlschwitze und das Kerzenlicht: deinen Achseufzer davor und selbst eine wahllose Aufzählung wie diese wird Beschwörung, Litanei.
Es sind tatsächlich immer wieder Aufzählungen
und Reihungen, die Sayers Gedichte prägen, in seltenen Fällen aber nur einzelne
Begriffe wie in „Additiv“. Häufiger
werden scheinbar ganz disparate Phänomenkonstellationen aneinandergefügt:
BeispielsweiseDie Aufstiegschancen eines Sänftenträgers.Der Wangenkuß des Feuerschluckers.Die Augenfarbe eines Blindenhundes.Das Lächeln der Narkoseschwester.Die Rendite einer Rose.
Sayers Bilder bringen die Lesenden zum Sehen, Neusehen,
Fühlen, Träumen, melancholisch Nachsinnen und Schmunzeln zugleich. Immer wieder
kommt dabei auch das mit der Person des Dichters vermutlich nah verbundene
lyrische Ich in den Blick, selbst wenn dieses gar nicht als solches benannt
wird:
BrillenverordnungKahle Astversalienam Fenster des Klassenzimmers.Vor seiner Kurzsichtigkeiterstreckt sich das Absehbare.Durch solch ein Kassengestell gesehen,sind die unerreichbaren Mädchennoch unerreichbarer.Ein angehender Jünglingund die Tümpel seiner Augen.Eisschicht oder Einsicht:liest er von der Tafel ab
Sayer reizt Gefühle nicht aus. Sie sind zwar allgegenwärtig
in seinen Texten, aber er tippt sie nur an und bringt sie gerade dadurch in poetische
Schwingung, und das mit einer Sprache, die gänzlich normal aussieht und vom
Dekonstruieren und Wort- wie Strukturzersägen ähnlich weit ab liegt wie von
metapoetologischen Konzepten wie Abweichungsästhetik oder Diffraktionsmodell.
Sayers Sprache entspringt dem ‚normalen‘ Alltagsdenken so sehr, dass man
manchmal fast übersehen könnte, wie poetisch und elaboriert sie ist. Denn bei
aller scheinbaren Einfachheit ist sie das ganz ohne Frage. In Sayers Texten
findet sich eine Fülle von subtil eingesetzten Stilmitteln. Da gibt es
klassische Vergleiche mit „wie“ und „als“:
In die Nacht hineinmurmeln // wie in ein Diktiergerät.Maurerhände, die sich betrachten ließen wie eine KarstlandschaftAkkorde wie rasselnde Ankerketten
Es gibt zahlreiche Wortneuschöpfungen, zum Beispiel:
Filigrangestus,
Ackerstirn, Landstraßenallüre, Daheimgebliebenheit, Gewittersud, Verlusttümer
Es gibt interessante Selbstreferenzen:
die Dauer einer Dauer
ein Auditorium, das
zurückschaut, wenn man es anschaut
er macht das Unweite
nah
Es gibt immer wieder Tierbilder:
mit der Bachstelze /
auf dem Rücken / eines Schafs
fern das Ortsschild,
von einer Mücke verdeckt.
Es gibt jede Menge Paradoxien:
Weiße Schwärze
Schnee fällt draußen //
und bedeckt das Weiß
Zieht ein Luftballon
ein Senkblei nach oben
Es gibt fast in jedem Text assoziative
Verschiebungen:
Mit dem durchgelegenen
Sofa sich treiben lassen,
auf überladnem Heuwagen
oben, flußabwärts im Kahn,
Und es gibt in großer Zahl die schon erwähnten
Reihungen und Aufzählungen:
Was in die Streichholzschachtel paßtefür Hubert KlöpferDie abgekaute Veilchenwurzel. Ein vertrockneter Libellenflügel. Der versteinerte Stielrest einer Seelilie. Die Gedenkmünze des plattgewalzten Pfennigs. Ein Kirschkern. Ein verlorenes Knopfauge. Das Glöckchen von einem Narrenkleid.
Mit all solchen und vielen weiteren völlig
unprätentiös eingesetzten Stilmitteln schafft Sayer eine Poesie des
alltäglichen Realitäts-/Traum-Sinns:
Was die Realisten sagen, kommt mir so unwirklichkeitsfremd vor.
Sayers Gedichte und seine lyrischen
Miniaturprosatexte sind auf realitätsverwurzelte Weise unwirklichkeitsnah. Sie
sprechen oft von Vergangenem. Eigentlich aber sprechen sie von mental ganz Gegenwärtigem,
von Sinnlichkeit und Vergänglichkeit:
Vom Vergänglichen, nicht vom Vergangenen, sprach ich, als ich sprach.
Tief verwurzelt im Boden seiner schwäbischen
Heimat, der Sayer auch mit seinem Lebensmittelpunkt treu geblieben ist, reden seine
Poeme von einer still, aber unaufhaltsam, schwankenden Welt:
WahrzeichenWeithinder hohe Kirchturm,seine Glocken, die läutetenzu Taufen und zum Tod,darunter wir,eine Kindheit entlangschauend, emporzu seiner Spitze,bis zwischen Licht und Wolkener für immer anfing,still zu schwanken.
Mystische Alltags- / Heimatpoesie ohne jede Allüre
– das ist Sayers Werk.