Voltaire: Mikromegas
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Befleckte Statue Voltaires
Voltaire
Mikromegas
Eine
philosophische Erzählung.
1752
Erstes Kapitel:
Reise eines
Insassen der Welt des Sternes Sirius nach dem Planeten Saturn.
Auf einem
der Planeten, die um den Fixstern namens Sirius kreisen, lebte ein junger Mann
von großen geistigen Gaben, den ich während seiner letzten Reise nach unserem
kleinen Ameisenhaufen kennen zu lernen die Ehre gehabt habe. Er hieß
Mikromegas, ein Name, der allen Großen gar wohl ansteht. Der junge Mann maß
acht Meilen in der Länge; unter acht Meilen verstehe ich vierundzwanzigtausend
geometrische Schritte, einen jeden zu fünf Fuß.
Studenten
der Algebra, also dem Publikum stets sehr nützliche Leute, werden auf der
Stelle die Feder ergreifen und folgendes ausrechnen: da Herr Mikromegas, der
Bewohner des Sirius, vom Scheitel bis zur Sohle vierundzwanzigtausend Schritte,
also hundertundzwanzigtausend Fuß maß, und wir Erdenbürger kaum fünf Fuß lang
sind, und andererseits unsere Erdkugel einen Umfang von neuntausend Meilen hat,
so werden sie herausrechnen, sage ich, daß die Weltkugel, die Herrn Mikromegas
hervorgebracht hat, notwendig genau einen einundzwanzig Millionen
sechshundert-tausendmal größeren Umkreis haben müsse, als unsere kleine Erde,
und dies ist auch etwas völlig Einfaches und Gewöhnliches in der Natur. Die
Staaten einiger Fürsten Deutschlands und Italiens, welche sich in einer halben
Stunde gar leicht umschreiten lassen, sind im Vergleich mit dem türkischen, moskowitischen oder chinesischen Reiche nur ein
äußerst schwaches Abbild von der wunderbaren Verschiedenheit, welche die Natur
in allen ihren Schöpfungen geoffenbart hat.
Da die
Gestalt seiner Exzellenz die von mir angegebene Höhe hatte, werden alle unsere
Bildhauer und Maler ohne Sträuben zugeben, daß sein Leibesumfang ungefähr
fünfzigtausend Fuß messen mußte, was eine sehr hübsche Proportion ergab. Da
seine Nase ein Drittel seines schönen Gesichtes und sein schönes Gesicht den
siebenten Teil der Länge seines schönen Körpers ausmachte, so muß festgestellt
werden, daß die Nase des Sirioten sechstausenddreihundert-dreiunddreißig Fuß und
noch einen Bruchteil mehr maß, was zu beweisen war.
Was seinen
Geist anbelangt, so wäre er einer der gebildetsten Menschen gewesen, die bei
uns hätten vorkommen können: er wußte gar viele Dinge und hatte einige sogar
selber entdeckt. Er zählte kaum zweihundertundfünzig Jahre und studierte, wie
es Brauch war, an dem Jesuitenkollegium seines Planeten, als er kraft seines
Verstandes mehr als fünfzig Aufgaben des Euklid löste, also achtzehn mehr als
Blaise Pascal, welcher, nachdem er zweiunddreißig spielend gelöst, nach dem
Bericht seiner Schwester später ein ziemlich mittelmäßiger Geometer und ein
sehr schlechter Metaphysiker wurde. Gegen das vierhundertundfünfzigste Jahr, am
Ausgang der Kindheit also, sezierte er viele jener kleinen Insekten, welche
kaum hundert Fuß im Durchmesser haben und mit gewöhnlichen Mikroskopen nicht
sichtbar sind; er schrieb darüber ein sehr gewissenhaftes
Buch, das ihm jedoch einige Unannehmlichkeiten eintrug. Der Mufti seiner
Heimat, ein äußerst unwissender, unleidlicher Kleinigkeitskrämer, entdeckte in
seinem Buche verdächtige, anstößige, vermessene, freigeistige und nach Ketzerei
riechende Sätze und verfolgte ihn heftig: es handelte sich um die Feststellung,
ob die Grundform der siriotischen Flöhe urverwandt sei mit der Form der
Wegschnecken. Mikromegas verteidigte sich mit großem geistigen Geschick und
brachte die Weiber auf seine Seite: der Prozeß dauerte zweihundertundzwanzig
Jahre. Schließlich ließ der Mufti das Buch von Rechtsgelehrten verdammen, die
es nicht gelesen hatten, und den Verfasser traf das Verbot, achthundert Jahre
lang nicht bei Hofe zu erscheinen.
Diese
Verbannung von einem Hofe, dessen Leben und Weben aus Kabalen und Kleinigkeiten
bestand, bereitete ihm nur geringen Kummer. Er machte ein lustiges kleines
Spottlied auf den Mufti, was dieser sich nicht weiter zu Herzen nahm, und
schickte sich an, von Planet zu Planet zu reisen, um, wie man sagt, seine
Herzens- und Geistesbildung zu vollenden. Wer nur in der Postkutsche oder der
Berline zu reisen gewohnt ist, würde sicherlich vor Erstaunen außer sich
geraten über die Beförderungsmittel von dort oben, denn wir auf unserem kleinen
Schmutzhäufchen hienieden vermögen nichts zu begreifen, was jenseits unseres
Gebrauches liegt. Unser Reisender kannte gar wunderbar alle Gesetze der Schwere
und alle anziehenden und abstoßenden Kräfte und wußte sich ihrer so gut zu
bedienen, daß er bald mit Hilfe eines Sonnenstrahles, bald
unter Benutzung der Fahrgelegenheit eines Kometen mit allen seinen Begleitern
von Weltkugel zu Weltkugel fuhr, wie ein Vogel von Ast zu Ast fliegt. In kurzer
Zeit durchquerte er die Milchstraße, und ich halte mich für verpflichtet
mitzuteilen, daß er zwischen den Sternen, mit denen sie besät ist, niemals jene
schönen Himmelsgefilde entdeckte, die der berühmte Vikar Derham mit seinem
Fernrohre gesehen zu haben sich rühmt. Nicht etwa, daß ich behauptete, Herr
Derham habe schlecht gesehen, da sei Gott vor, aber Mikromegas ist doch eben an
Ort und Stelle gewesen und ist ein vortrefflicher Beobachter, ich will jedoch
beileibe niemandem widersprechen. Mit wohlberechneter Wendung gelangte
Mikromegas auf die Kugel des Saturn. Wie gewohnt er es auch war, neue Dinge zu
sehen, so konnte er sich doch beim Anblick der Winzigkeit dieses Himmelskörpers
und seiner Bewohner zunächst nicht jenes überlegenen Lächelns erwehren, das
bisweilen auch den Weisesten überkommt. Der Saturn ist ja auch kaum
neunhundertmal größer als die Erde, und die Saturnbürger sind Zwerge, welche
nur ungefähr tausend Klafter messen. Anfangs machte er sich mit seinen
Begleitern ein wenig lustig darüber, wie etwa ein italienischer Musiker über
Lulli's Musik lachen muß, wenn er nach Frankreich kommt. Da der Siriote jedoch
einen vortrefflichen Verstand besaß, begriff er schnell, daß ein denkendes
Wesen nicht notwendig lächerlich sein mußte, weil es nur sechstausend
Fuß in der Länge maß. Nachdem er anfangs die Saturnier in Erstaunen versetzt,
ward er bald vertraut und vertrauter mit ihnen. So knüpfte er denn auch die
engste Freundschaft mit dem Sekretär der Akademie des Saturns, einem Manne von
großem Verstande, der in Wahrheit allerdings nichts selber erfunden hatte, über
die Erfindungen anderer aber trefflich zu berichten wußte und ganz leidliche
Verschen und gewaltige Berechnungen machte. Um den Lesern Genüge zu tun, will
ich hier ein seltsames Gespräch wiedergeben, das Mikromegas eines Tages mit dem
Herrn Sekretär hatte.
Zweites Kapitel:
Gespräch des
Sirioten mit dem Saturnier.
Nachdem
seine Exzellenz sich zu Boden gelegt, und der Sekretär sich seinem Antlitze
genähert hatte, sagte Mikromegas: »Man muß doch zugeben, daß die Natur recht
mannigfaltig ist.« »Ja,« antwortete der Saturnier, »die Natur ist wie ein Beet,
dessen Blumen . . .« »Ach,« unterbrach der andere, »verschonen Sie mich mit
Ihrem Beet.« »Sie ist,« nahm der Sekretär seine Rede wieder auf, »wie eine
Versammlung von Blonden und Braunen, deren Haartrachten . . .« »Was habe ich
denn mit Ihren Blonden zu schaffen?« rief der Siriote. »Dann ist sie also wie
eine Gemäldegalerie, deren einzelne Werke . . .« »Nein, nein doch,« rief der
Siriote, »die Natur ist immer nur wie die Natur. Warum Vergleiche für sie suchen?« »Um Ihnen zu gefallen«, antwortete der Sekretär. »Ich
will aber durchaus nicht, daß man mir gefalle, sondern vielmehr, daß man mich
belehre: beginnen Sie zunächst damit, mir zu sagen, wieviel Sinne die Menschen
auf Ihrer Weltkugel haben?« »Wir haben deren zweiundsiebenzig,« erwiderte der
Akademiker, »und klagen tagtäglich über diese geringe Zahl. Unsere Phantasie
übersteigt unsere Bedürfnisse, wir fühlen uns mit unseren zweiundsiebenzig
Sinnen, unserem Ringe und unseren fünf Monden allzu beschränkt, denn trotz all
unserer Wißbegier und der ziemlich großen Zahl von Leidenschaften, die in
unseren zweiundsiebenzig Sinnen ihren Ursprung haben, bleibt uns doch vollauf
Zeit, uns zu langweilen.« »Das glaube ich schon,« erwiderte Mikromegas, »denn
wir auf unserer Kugel haben an die hundert Sinne, und dennoch bleibt uns irgend
ein unbestimmtes Sehnen, irgend eine unbestimmte Unruhe, die uns unaufhörlich
daran gemahnt, wie wenig wir doch eigentlich sind, und daß es noch viel
vollkommenere Wesen geben muß. Ich bin ein wenig umhergekommen und habe
Sterbliche gesehen, die weit unter uns standen, und solche, die uns gar sehr
überlegen waren, aber ich bin nirgendwo solchen begegnet, die nicht mehr
Wünsche als wirkliche Bedürfnisse und mehr Bedürfnisse als Befriedigung empfunden
hätten. Vielleicht werde ich eines Tages in das Land gelangen, wo es an nichts
fehlt, aber bisher hat mir niemand über ein solches Land bestimmte Nachrichten
zu geben vermocht.« Der Saturnier und der Siriote ergingen sich nun in allerlei
Vermutungen, aber nach vielen sehr geistvollen und verschwommenen Überlegungen mußten sie doch wieder auf die Tatsachen zurückkommen. »Wie
lange leben Sie hier?« fragte der Siriote. »Ach, kurz, sehr kurz«, erwiderte
der kleine Mann vom Saturn. »Genau wie bei uns,« rief der Siriote, »auch wir
beklagen uns stets über die Kürze! Es scheint dies ein allgemeines Naturgesetz
zu sein.« »Ach,« sagte der Saturnier, »wir leben nur fünfhundert große
Sonnenwenden (nach unserer Weise gezählt, bedeutet das ungefähr fünfzehntausend
Jahre). Sie sehen wohl, daß das fast in dem Augenblicke sterben heißt, in dem
man geboren wird. Unser Dasein ist ein Punkt, unsere Dauer ein Augenblinken,
unsere Weltkugel ein Stäubchen; kaum hat man angefangen, ein wenig zu lernen,
so kommt auch schon der Tod, noch ehe man irgendwelche Erfahrung gesammelt hat.
Deshalb wage ich meinerseits auch keinen einzigen Vorsatz zu fassen, ich fühle
mich wie ein Wassertropfen inmitten eines unermeßlichen Ozeans. Vor allem Ihnen
gegenüber schäme ich mich der lächerlichen Gestalt, die ich in dieser Welt
herumtrage.«
Mikromegas
erwiderte ihm: »Wenn Sie kein Philosoph wären, würde ich Sie durch die
Mitteilung zu betrüben fürchten, daß unser Leben siebenhundertmal länger währet
als das Ihre, aber Sie wissen nur allzu gut, daß wenn man seinen Leib den
Elementen zurückgeben und die Natur in einer anderen Gestalt neu beleben muß,
was nämlich sterben heißt, daß es beim Eintreten dieses Augenblickes der
Umwandlung genau dasselbe ist, ob man eine Ewigkeit oder nur einen Tag lang
gelebt hat. Ich bin in Ländern gewesen, wo man tausendmal länger lebte als bei
mir zu Hause, und dennoch sah ich, daß man auch dort noch
murrte. Allenthalben gibt es jedoch verständige Menschen, die ihr Schicksal auf
sich zu nehmen und dem Schöpfer der Natur dafür zu danken wissen: er hat über
dieses Weltenall eine Überfülle von Mannigfaltigkeiten mit einer wunderbaren
Art von Einheitlichkeit ausgeschüttet. So sind zum Beispiel alle denkenden
Wesen verschieden, und dennoch sind sie im Grunde einander alle gleich durch
die Gift des Denkens und Wünschens. Allenthalben ist die Materie vorhanden, auf
jeder Weltkugel aber hat sie verschiedene Eigenschaften. Wie viele solcher
verschiedenen Eigenschaften zählen Sie an Ihrer Materie?« »Wenn Sie,« sagte der
Saturnier, »jene Eigenschaften meinen, ohne die wir den Fortbestand unserer
Weltkugel, so wie sie ist, für unmöglich halten, so zählen wir deren
dreihundert, wie Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit, Schwere,
Teilbarkeit und was dergleichen mehr ist.« »Wahrscheinlich genügt diese kleine
Zahl für die Absichten, die der Schöpfer mit Ihrer kleinen Wohnstätte hegte«,
erwiderte der Reisende. »Ich bewundere in allem seine Weisheit. Überall sehe
ich Verschiedenheit, aber auch Ausgeglichenheit überall. Ihre Weltkugel ist
klein, und klein sind auch die Bewohner. Sie haben wenig Empfindungen, Ihre
Materie wenig Eigenschaften, alles das ist ein Werk der Vorsehung. Welche Farbe
hat Ihre Sonne, wenn man es genau untersucht?« »Sie zeigt eine sehr gelbliche
Weisse,« sagte der Saturnier, »und wenn wir einen ihrer Strahlen zerlegen, so
finden wir, daß er sieben Farben enthält.« »Unsere Sonne neigt dem Roten zu,«
sagte der Siriote, »und wir haben neununddreißig Grundfarben. Nicht eine einzige von allen den Sonnen, denen ich nahe gekommen
bin, ist einer anderen ähnlich, wie es bei Ihnen kein Gesicht gibt, das nicht
verschieden wäre von allen anderen.«
Nach
mehreren Fragen dieser Art erkundigte er sich, wieviele artverschiedene
Wesenheiten man auf dem Saturn zähle. Er erfuhr, daß man ihrer nur ungefähr
dreißig annähme, wie Gott, den Raum, die Materie, die mit Ausdehnung begabten
Wesen, welche fühlen und denken, die denkenden Wesen, welche keine Ausdehnung
haben, die Wesen, die einander durchdringen, solche, die einander nicht
durchdringen usw. Der Siriote, bei dem man dreihundert zählte und der auf
seinen Reisen noch dreitausend andere entdeckt hatte, setzte den Philosophen
vom Saturn in maßloses Erstaunen. Nachdem sie einander ein wenig von dem
mitgeteilt, was sie wußten, und gar viel von dem, was sie nicht wußten, und so
einen Sonnenumlauf miteinander verschwatzt hatten, beschlossen sie endlich,
eine kleine philosophische Reise zusammen zu unternehmen.
Drittes Kapitel:
Reise der
beiden Bewohner des Sirius und des Saturn.
Unsere
beiden Philosophen waren gerade bereit, mit einer recht hübschen Ausrüstung an
mathematischen Instrumenten in die Atmosphäre des Saturns hinauszusegeln, als
die Geliebte des Saturniers, die Wind davon bekommen hatte, unter Tränen
herbeistürzte, um ihrerseits Verwahrung dagegen einzulegen. Sie war ein hübscher kleiner Braunkopf, der nur sechshundertundsechzig
Klafter maß, aber durch vielerlei Zierlichkeiten diese Winzigkeit seines
Körpers wieder ausglich. »Oh, du Grausamer,« schrie sie, »nachdem ich dir
fünfzehnhundert Jahre lang widerstanden, willst du mich jetzt, da ich mich dir
endlich hingegeben und kaum hundert Jahre in deinen Armen verbracht habe, nun
willst du mich verlassen, um mit einem Riesen aus einer anderen Welt auf Reisen
zu gehen? Geh, du bist nur neugierig, wahre Liebe hast du niemals gefühlt; wärest
du ein echter Saturnier, würdest du auch treu sein. Wohin willst du, und was
willst du? Unsere fünf Monde irren ja weniger herum als du, und unser Ring ist
arm an Wechsel neben dir: aber das ist ausgemacht, niemals wieder werde ich
jemanden lieben.« Der Philosoph umarmte sie und weinte mit ihr trotz all seiner
Philosophie, und nachdem sie dann gründlich in Ohnmacht gefallen war, ging sie
davon und tröstete sich mit einem kleinen einheimischen Schulmeister.
Unterdessen
reisten unsere beiden Wißbegierigen ab. Sie sprangen zuerst auf den Ring, den
sie ziemlich flach fanden, wie ein erlauchter Bewohner unserer kleinen
Weltkugel richtig erraten hat, und von dort aus begaben sie sich von Mond zu
Mond. An dem letzten flog ganz dicht ein Komet vorbei und sie sprangen mit
ihrem Bedienten und ihren Instrumenten hinauf. Nachdem sie ungefähr
hundertundfünfzig Millionen Meilen zurückgelegt hatten, begegneten sie den
Trabanten des Jupiter. Sie stiegen auf den Jupiter selbst hinüber und
verbrachten dort ein Jahr, in dessen Verlauf sie gar schöne
Geheimnisse erfuhren, die gegenwärtig ohne die Herren Inquisitoren unter der
Presse sein würden, denn diese fanden einige Behauptungen allzu schroff: ich
habe aber das betreffende Manuskript in der Bücherei des hochwürdigen Bischofs
von . . . gelesen; er ließ mich alle seine Bücher mit der ihm eigenen
Bereitwilligkeit und Güte sehen, welche man niemals genug wird preisen können.
Wir wollen
jedoch zu unseren Reisenden zurückkehren. Nachdem sie den Jupiter verlassen,
durchquerten sie einen Raum von ungefähr hundert Millionen Meilen und kamen an
dem Planeten Mars vorbei, der, wie man weiß, fünfmal kleiner ist als unsere
kleine Kugel. Sie sahen zwei diesem Planeten dienende Monde, die den Blicken
unserer Astronomen bisher entgangen sind. Ich weiß wohl, daß der Pater Castel
gegen das Vorhandensein dieser beiden Monde sogar recht ergötzlich schreiben
wird, aber ich wende mich an die, welche aus Übereinstimmungen Schlüsse zu
ziehen gewöhnt sind. Diese wackeren Philosophen werden nämlich wissen, wie
schwer es für den von der Sonne so weit entfernten Mars halten würde, dieser
beiden Monde zu entbehren. Wie dem nun aber auch sein möchte, unsere beiden
Freunde fanden den Mars so klein, daß sie dort keinen Platz zum Niederlegen und
Schlafen zu finden fürchteten, und so setzten sie denn ihren Weg wie zwei
Reisende fort, die ein schlechtes Dorfwirtshaus verschmähen und bis zur
nächsten Stadt weiterwandern wollen. Aber der Siriote und sein Gefährte sollten
es gar bald zu bereuen haben. Sie drangen lange vorwärts und fanden nichts.
Endlich gewahrten sie ein Lichtchen . . . die Erde; das war
wahrlich zum Erbarmen für Leute, die vom Jupiter kamen. Aus Furcht jedoch, ein
zweites Mal Grund zur Reue zu haben, beschlossen sie an Land zu steigen. Sie
begaben sich auf den Schwanz des Kometen, fanden ein Nordlicht eben bereit,
vertrauten sich ihm an und landeten auf der Erde am südlichen Ufer der Ostsee,
und zwar am fünften Juli eintausendsiebenhundertundsiebenunddreißig neuen
Stils.
Viertes Kapitel:
Was ihnen auf
der Erdkugel begegnete.
Nachdem sie
sich eine Weile ausgeruht hatten, aßen sie zu ihrem Frühstück zwei Berge, die
ihre Bedienten ihnen ziemlich sauber zubereiteten. Darauf wollten sie das
kleine Land, auf dem sie sich befanden, näher in Augenschein nehmen. Sie gingen
zunächst von Norden nach Süden. Die gewöhnlichen Schritte des Sirioten und
seiner Leute waren ungefähr dreißigtausend Fuß lang: der Zwerg vom Saturn lief
atemlos hinterher, er mußte aber auch ungefähr zwölf Schritte machen, wenn der
andere nur einmal zutrat. Man stelle sich (wenn derartige Vergleiche denn
überhaupt erlaubt sind) ein recht kleines Schoßhündchen vor, das hinter einem
Hauptmann der Garde des Königs von Preußen herlaufen wollte.
Da die
beiden Ausländer ziemlich schnell vorwärts kamen, hatten sie die Erdkugel in
sechsunddreißig Stunden umschritten. Die Sonne, oder vielmehr die Erde macht
diese Reise allerdings innerhalb eines Tages, aber man muß
dabei bedenken, daß man weit bequemer geht, wenn man sich um seine eigene Achse
dreht, als wenn man auf seinen Füßen marschiert. Sie gelangten also wieder auf
den Punkt, von dem sie ausgegangen waren, nachdem sie unterwegs jene für sie
kaum wahrnehmbare Pfütze, das Mittelländische Meer genannt, und jenen anderen
kleinen Weiher gesehen hatten, der unter dem Namen der Große Ozean den ganzen
Maulwurfshaufen umschließt. Beim Durchschreiten war's dem Zwerge niemals höher
denn bis zu den Waden gegangen, und der Siriote hatte sich kaum die Fersen
naßgemacht. Beim Kommen und Gehen, obenherum und untenherum, hatten sie alles
getan, was nur irgend in ihrer Macht stand, um zu erkennen, ob diese Weltkugel
bewohnt sei oder nicht. Sie bückten sich, legten sich nieder und tasteten
überall umher, aber da weder ihre Augen noch ihre Hände in einem Verhältnis zu
den kleinen Wesen standen, die hier einherkrochen, so machten sie nicht die
geringste Wahrnehmung, die sie hätte vermuten lassen können, daß wir und unsere
Mitbrüder, die anderen Bewohner dieser Erdkugel, der Ehre teilhaftig wären zu
leben.
Der Zwerg,
der bisweilen ein wenig allzu schnell urteilte, entschied zunächst, daß es
niemanden auf der Erde gebe, und sein erster Grund dafür war, daß er niemanden
gesehen hatte. Mikromegas gab ihm höflich zu verstehen, daß solcherweise
urteilen schlecht urteilen sei, »denn,« sagte er, »Sie schauen mit Ihren
kleinen Augen gewisse Sterne fünfzigster Größe nicht, welche ich noch ganz
deutlich wahrnehme, möchten Sie daraus schließen, daß diese Sterne nicht
existieren?« »Aber ich habe ja auch sorgsam umhergetastet!«
erwiderte der Zwerg. »Jedoch schlecht gefühlt«, antwortete der andere. »Aber,«
rief der Zwerg, »diese Weltkugel ist doch so schlecht gestaltet, alles ist so
unregelmäßig und von einer Form, die mich völlig lächerlich deucht, alles
erscheint mir hier wie mitten im Chaos: sehen Sie nur diese schmalen Bäche, von
denen keiner fadengrade läuft, und diese Teiche, die weder rund, noch
viereckig, noch länglichrund, noch irgendwie sonst regelmäßig geformt sind, und
all diese kleinen spitzigen Körner, mit denen diese Kugel ausgebuckelt ist und
die mir die Füße aufgeschunden haben! (Er wollte von den Gebirgen sprechen.)
Beachten Sie auch die Gestalt der ganzen Kugel, wie platt ist sie nicht an den
Polen, wie ungeschickt dreht sie sich nicht um die Sonne, nämlich derart, daß die
Gegenden um die Pole notwendig unfruchtbar sein müssen! Was mich im Letzten zu
der Annahme treibt, es könne hier niemand leben, ist der Eindruck, daß
vernünftige Leute nicht würden hierbleiben wollen.« »Gut,« sprach Mikromegas,
»vielleicht sind es eben auch keine vernünftigen Leute, die hier wohnen.
Jedenfalls hat es den Anschein, als sei dieses alles nicht für nichts und
wieder nichts gemacht. Es erscheint Ihnen alles unregelmäßig hier, sagen Sie;
ja, auf dem Saturn und dem Jupiter ist eben alles nach der Schnur gezogen!
Vielleicht herrscht gerade aus diesem Grunde hier ein gewisser Wirrwarr. Habe
ich Ihnen nicht schon gesagt, ich hätte auf meinen Reisen stets
Mannigfaltigkeit angetroffen?« Auf alle diese Gründe erwiderte der Saturnier,
und ihr Streit würde nie ein Ende genommen haben, hätte Mikromegas
glücklicherweise nicht in der Hitze des Wortgefechts die
Schnur seiner diamantenen Halskette zerrissen, so daß die Diamanten zu Boden
fielen: es waren hübsche, kleine, ziemlich ungleichförmige Steine, von denen
die größten vierhundert und die kleinsten fünfzig Pfund wogen. Der Zwerg hob
einige auf, und als er sie vor seine Augen brachte, gewahrte er, daß die
Diamanten durch die Art ihres Schliffes vortreffliche Vergrößerungsgläser
waren. Er nahm also ein kleines Vergrößerungsglas von hundertundsechzig Fuß im
Durchmesser und hielt es vor sein Auge; Mikromegas wählte eines von
zweitausendfünfhundert Fuß. Sie waren vortrefflich, aber zunächst sah man mit
ihrer Hilfe noch nichts, sie mußten erst richtig eingestellt werden. Endlich
sah der Bewohner des Saturn etwas kaum Wahrnehmbares, das sich zwischen zwei
Wogen in der Ostsee bewegte: es war ein Wal. Er ergriff ihn sehr geschickt mit
dem kleinen Finger, legte ihn auf den Nagel seines Daumens und zeigte ihn dem Sirioten,
der zum zweiten Male über das Übermaß von Winzigkeit der Bewohner unserer
Weltkugel in ein lautes Gelächter ausbrach. Überführt, daß unsere Welt bewohnt
sei, verfiel der Saturnier nun sofort darauf, zu wähnen, sie sei es nur von
Walfischen, und da er ein großer Denker war, wünschte er festzustellen, woher
so ein kleines Stäubchen seine Bewegung nähme, und ob es Vorstellungen, einen
Willen und Freiheit dieses Willens besäße. Mikromegas ward dadurch sehr in
Verlegenheit gesetzt, er untersuchte das Tier mit äußerster Geduld, und als
Ergebnis dieser Untersuchung stellte er auf, es dürfe unmöglich angenommen
werden, daß darin eine Seele wohne. Die beiden Reisenden neigten also dem Gedanken zu, daß auf unserem Erdenrund nichts
Geistiges vorhanden sei, als sie mit Hilfe der Vergrößerungsgläser etwas
entdeckten, das größer als ein Walfisch war und auf der Ostsee schwamm. Man
weiß, daß gerade zu genau jener Zeit eine Philosophenschar vom Polarkreise
zurückkehrte, wo sie Beobachtungen angestellt hatte, auf die bisher noch
niemand verfallen war. Die Zeitungen berichteten, ihr Schiff sei im Bottnischen
Meerbusen gescheitert, und sie hätten sich nur mit knapper Mühe retten können,
aber man vermag eben in dieser Welt den Ereignissen niemals in die Karten zu
sehen. Ich will genau erzählen, wie sich die Sache zutrug, ohne etwas von dem
meinigen hinzuzutun, was für einen Geschichtsschreiber keine geringe
Anstrengung bedeutet.
Fünftes Kapitel:
Erfahrungen
und Überlegungen der beiden Reisenden.
Mikromegas
langte mit der Hand behutsam nach der Stelle, wo der Gegenstand zu sehen war,
streckte zwei Finger aus, zog sie aber im Augenblick darauf, aus Furcht
fehlzugreifen, wieder zurück, öffnete und schloß sie dann endlich, erfaßte
dabei mit großer Geschicklichkeit das Schiff, auf dem sich jene Herren
befanden, hütete sich, aus Angst es zu zerquetschen, vor jedem Druck, und legte
es wiederum auf seinen Nagel. »Wahrlich, dies Tier ist doch von dem ersten
recht verschieden«, rief der Zwerg vom Saturn. Der Siriote legte das
vermeintliche Tier in die hohle Hand. Die Reisenden und die Schiffsmannschaft,
welche sich von einem Wirbelwinde emporgehoben geglaubt und
sich jetzt auf einer Art Felsen wähnten, fingen alle an hin und her zu laufen;
die Matrosen nahmen Weintonnen, warfen sie auf Mikromegas Hand und sprangen
ihnen nach; die Geometer ergriffen ihre Quadranten, ihre Sektoren und ihre
lappländischen Mädchen und kletterten auf die Finger des Sirioten herab. Es
waren ihrer so viele, daß er endlich etwas sich regen fühlte, das ihm die
Finger kitzelte. Die Gelehrten bohrten einen eisenbeschlagenen Stock einen Fuß
tief in seinen Zeigefinger, und an diesem leisen Stechen erkannte er, daß aus
dem kleinen Tier etwas auf seine Hand hinaus gekrochen sein mußte, aber mehr
konnte er darüber noch nicht mutmaßen. Das Vergrößerungsglas, das einen
Walfisch und ein Schiff gerade erkenntlich werden ließ, vermochte nichts über
ein so winzig kleines Wesen, wie der Mensch es ist. Ich möchte niemandes
Eitelkeit verletzen, bin aber verpflichtet, die Wichtigtuer zu bitten, hier mit
mir eine kleine Betrachtung anzustellen: wenn man die Größe des Menschen
ungefähr auf fünf Fuß ansetzt, so ist unsere Gestalt auf der Erde nicht größer
als auf einer Kugel von zehn Fuß Umfang ein Tier aufragen würde, dessen Höhe
ungefähr den sechshunderttausendsten Teil eines Daumens betrüge. Man stelle
sich eine Wesenheit vor, welche die Erde in ihrer Hand zu halten vermöchte und
Organe im Verhältnis zu den unseren besäße – und es könnte gar gut sein, daß
eine große Zahl solcher Wesenheiten existiert – und nun bedenke man bitte, was
sie über jene Schlachten denken würden, die uns zwei Dörfer eingebracht, welche
dann wieder zurückgegeben werden mußten.
Wenn irgendein Hauptmann der großen Grenadiere jemals
dieses Werk lesen sollte, so wird er, des bin ich sicher, die Helme seiner
Truppen um zwei ganze große Fuß erhöhen lassen, aber, ich sage es ihm im
voraus, er mag es anstellen, wie er nur will, er und die Seinen werden doch
immerdar unendlich klein bleiben.
Welcher wunderbaren
Feinfühligkeit bedurfte es also nicht seitens unseres Philosophen vom Sirius,
dieser Stäubchen, von denen ich soeben gesprochen, gewahr zu werden. Als
Leuwenhoek und Hartsoeker als erste die Samenkörner erblickten, aus denen wir
entstehen, oder sie zu erblicken glaubten, machten sie nicht im entferntesten
eine so erstaunliche Entdeckung. Welche Freude empfand nicht Mikromegas, als er
jene kleinen Körperchen hin und her kribbeln sah, und alle ihre Wendungen und
Vornahmen untersuchte und verfolgte! Wie schrie er nicht auf! mit welcher
Freude drückte er nicht eines seiner Vergrößerungsgläser in die Hände seines
Reisegefährten! »Ich sehe sie,« riefen alle beide zu gleicher Zeit, »oh, sie
tragen Lasten, sie bücken sich, sie richten sich auf.« Und während sie dieses
sprachen, zitterten ihnen die Hände vor Freude, so neue Dinge zu sehen, und vor
Furcht, sie zu verlieren. Der Saturnier, der sich von einem Übermaß des
Zweifels zu einem Übermaß der Gläubigkeit hinüberfreute, glaubte wahrzunehmen,
daß sie an ihrer Fortpflanzung arbeiteten. »Oh,« rief er, »ich habe die Natur
auf frischer Tat ertappt.« Aber er ließ sich durch den Schein täuschen, was nur allzu oft geschieht, mag man sich nun eines
Vergrößerungsglases bedienen oder nicht.
Sechstes Kapitel:
Was ihnen
mit den Menschen begegnete.
Mikromegas,
ein weit besserer Beobachter als sein Zwerg, erkannte deutlich, daß die
Stäubchen miteinander sprachen, und machte seinen Gefährten darauf aufmerksam;
doch mißmutig über seinen Irrtum in Sachen des Zeugungsgeschäftes, wollte
dieser nicht glauben, daß derartige Tiergattungen einander Gedanken mitteilen
könnten. Er sprach ebensoviele Sprachen wie der Siriote, aber er hörte die
Stäubchen nicht, und so folgerte er, daß sie nicht sprechen könnten: wie
sollten auch andererseits die Sprachorgane dieser kaum wahrnehmbaren Wesen
gestaltet sein, und was konnten sie einander zu sagen haben? Um zu sprechen,
muß man denken, oder wenigstens beinahe denken; dachten sie aber, so hatten sie
auch so etwas wie eine Seele, und so etwas wie eine Seele dieser Tiergattung
zuzuschreiben, erschien ihm völlig albern. »Sie haben ja doch aber,« rief der
Siriote, »noch eben erst geglaubt, daß sie sich mit der Ausübung der Liebe
befaßten, und glauben Sie, man könne der Liebe obliegen, ohne zu denken und
Worte auszusprechen oder doch wenigstens sich einander verständlich zu machen?
Wollen Sie gar aufstellen, daß es schwieriger sei, einen Vernunftgrund als ein
Kind hervorzubringen? Für mich ist das eine wie das andere ein großes Rätsel. »Ich wage nicht mehr, weder etwas zu glauben, noch etwas zu
bestreiten,« sagte der Zwerg, »ich habe keine Meinung mehr. Wir wollen zunächst
diese Würmer zu untersuchen trachten – und erst nachher darüber streiten.« »Das
war wohl gesprochen«, erwiderte Mikromegas. Und allsobald zog er eine Schere
hervor, schnitt sich die Nägel, rollte aus dem Schnitzel seines Daumennagels
auf der Stelle eine Art großen Sprachrohrs wie einen mächtigen Schalltrichter,
und steckte sich die Spitze ins Ohr. Der obere Rand des Trichters umschloß das
Schiff und die ganze Besatzung: auch die schwächste Stimme drang in die
kreisförmig gelagerten Fasern des Nagels, so daß dank seines Erfindungsgeistes
der Philosoph von dort oben deutlich das Summen der Käfer von hier unten
vernahm. In wenigen Stunden gelangte er dahin, die einzelnen Worte zu
unterscheiden und schließlich Französisch zu verstehen. Der Zwerg brachte es
ebenfalls fertig, aber es wurde ihm viel schwerer. Mit jedem Augenblick wuchs
das Erstaunen der Reisenden, sie hörten winzig kleine Milben ziemlich
vernünftig sprechen: dieses Naturspiel dünkte ihnen unerklärlich. Man wird
gerne glauben wollen, daß der Siriote und sein Zwerg vor Ungeduld brannten, mit
den Stäubchen ein Gespräch anzuknüpfen, aber der Zwerg besorgte, seine
Donnerstimme und gar die des Mikromegas möchte die Milben so völlig betäuben,
daß sie nichts zu verstehen vermöchten. Es galt also die Stimmen zu dämpfen; zu
diesem Behufe steckten sie sich eine Art kleiner Zahnstocher in den Mund, deren
sehr verjüngte Enden dicht neben das Schiff hinunterragten. Der Siriote hielt
den Zwerg auf seinen Knien, und das Schiff mit seiner
Besatzung auf einem Nagel, er senkte den Kopf und flüsterte. Nach all diesen
und noch vielen anderen Vorsichtsmaßregeln begann er endlich folgendermaßen seine
Rede:
»Unsichtbare
Käfer, die im Abgrunde des Unendlich-Kleinen entstehen zu lassen der Hand des
Schöpfers gefallen hat, ich danke ihm dafür, daß er mir solche unergründliche
Geheimnisse zu offenbaren geruht. Vielleicht würde man an meinem Hofe euch anzuschauen
verschmähen, ich aber verachte niemanden und trage euch meinen Schutz an.«
Wenn jemals
jemand erstaunt gewesen ist, so waren es die Leute, welche diese Worte
vernahmen. Sie vermochten nicht zu erraten, woher sie kamen. Der Schiffspfarrer
sagte die Teufelbeschwörungsgebete her, die Matrosen fluchten, und die
Philosophen schufen schnell ein System, mit welchem sie es aber auch immer
versuchten, sie konnten nie und nimmer erkennen, wer zu ihnen sprach. Der Zwerg
vom Saturn, der eine etwas leisere Stimme als Mikromegas hatte, setzte ihnen
nun in kurzen Worten auseinander, mit welcher Gattung sie es zu tun hätten,
berichtete ihnen von der Reise vom Saturn herunter, sagte ihnen, wer Herr
Mikromegas sei, und nachdem er sie wegen ihrer Kleinheit bedauert hatte, fragte
er sie, ob sie sich stets in diesem elenden, der völligen Nichtsheit so dicht
benachbarten Zustande befunden hätten, was sie auf einer Weltkugel trieben, die
doch Walfischen zu gehören scheine, ob sie glücklich seien, ob sie sich
vermehrten, ob sie eine Seele hätten und noch hundert dergleichen Fragen mehr.
Ein Klugschwätzer aus der Philosophenschar, der etwas
beherzter als seine Genossen und außerdem ärgerlich war, daß man an seiner
Seele zweifelte, beobachtete den Fragesteller durch einen auf einen Quadranten
gestellten Diopter, wechselte zweimal den Standort und sprach vom dritten aus
folgendermaßen: »Weil Sie tausend Klafter von der Sohle bis zum Scheitel
messen, Herr, bilden Sie sich wohl ein, Sie seien ein . . .« »Tausend Klafter,«
rief der Zwerg, »gerechter Himmel, woher kann er unsere Größe wissen! Tausend
Klafter! Er irrt sich um keinen Zoll! Wie, dieses Staubkorn hat mich gemessen,
es ist Mathematiker, es kennt meine Größe und ich, der ich es nur durch ein
Vergrößerungsglas sehe, ich kenne die seine noch nicht.« »Ja, ich habe Sie
gemessen,« sprach der Naturwissenschaftler, »und ich könnte gern auch noch
Ihren großen Begleiter messen.« Der Vorschlag wurde angenommen; seine Exzellenz
legten sich ihrer Länge nach hin, denn hätte er sich aufrecht hingestellt, so
wäre sein Kopf allzu hoch über den Wolken gewesen. Unsere Philosophen steckten
ihm einen großen Baum an einen Ort, den der Doktor Swift nennen würde, den ich
mich aber aus meiner großen Achtung vor den Damen mit seinem Namen zu
bezeichnen wohl hüten werde, und dann schlossen sie mit Hilfe einer Reihe
zusammengebundener Dreiecke, daß das, was sie sahen, ein
hundertundzwanzigtausend Fuß großer junger Mann sei.
Da sprach
Mikromegas die folgenden Worte: »Mehr als je sehe ich ein, daß man niemals über
ein Ding nach seiner scheinbaren Größe urteilen soll. Oh Gott, der
du Wesenheiten, die so verächtlich erscheinen, mit Verstand begabt hast, dir
macht das Unendlich-Kleine ebensowenig wie das Unendlich-Große, und wenn's denn
möglich ist, daß noch kleinere Wesen leben als diese hier, so könnten sogar sie
einen höheren Verstand haben, als jene herrlichen Tiere, die ich im Himmel
gesehen habe und deren Fuß allein diese Weltkugel bedecken würde, zu der ich
hinuntergestiegen bin.«
Einer der
Philosophen antwortete ihm, er könne sich mit voller Gewißheit für versichert
halten, daß es in der Tat vernunftbegabte Wesen gäbe, die um vieles kleiner
seien als der Mensch. Er erzählte ihm nun, nicht alles, was Virgil
Märchenhaftes über die Bienen berichtet hat, aber das, was Swammerdam entdeckt
und Réaumur zergliedert hat. Und schließlich verkündete er ihm, daß es Tiere
gäbe, die für die Bienen das seien, was die Biene für den Menschen ist und was
der Siriote selber für jene unendlich großen Tiere sei, von denen er
gesprochen, und wiederum diese großen Tiere für andere Wesenheiten, vor denen
sie anzuschauen seien wie Staubgekörn. Allmählich wurde die Unterhaltung
interessant, und Mikromegas sprach folgendermaßen:
Siebentes Kapitel:
Gespräch mit
den Menschen.
Oh ihr
geistbegabten Atome, in denen seine Geschicklichkeit und seine Macht zu
offenbaren dem ewigen Schöpfer hat gefallen wollen, ihr
müsset doch gar reiner Freuden auf eurem Erdenballe genießen, denn da ihr nur
so wenig Materie besitzet und ganz aus Geist gemacht erscheint, müsset ihr euer
Leben damit verbringen, zu lieben und zu denken, denn das ist das wahre Leben
des Geistes. Nirgendwo habe ich echte Glückseligkeit angetroffen, aber
hienieden muß sie herrschen.« Auf diese Rede hin schüttelten alle Philosophen
die Köpfe, und einer von ihnen, der die anderen an Freimütigkeit übertraf, gestand
treuherzig, daß wenn man eine kleine Anzahl gar gering angesehener Bewohner
ausnähme, so bestände der Rest aus einer Schar von Tollen, Bösen und
Unglücklichen. »Wir haben,« sagte er, »mehr Materie, als uns nötig ist, um viel
Böses zu tun, wenn anders das Böse von der Materie kommt, und zuviel Geist,
wenn es dem Geiste entspringt. Ist Ihnen zum Beispiel wohl bekannt, daß zur
Stunde, da ich zu Ihnen spreche, hunderttausend mit Hüten bedeckte Narren
unserer Artung hunderttausend andere Tiere, die mit einem Turban bedeckt sind,
töten oder von ihnen niedergemetzelt werden, und daß man es fast auf der ganzen
Erde seit unvordenklichen Zeiten so gehalten hat?« Der Siriote erbebte und
fragte, welches der Grund solcher entsetzlichen Kämpfe zwischen so gebrechlichen
Tieren sein könne? »Es handelt sich,« erwiderte der Philosoph, »um einige
Schmutzhaufen, die so groß wie Ihre Hacken sind! Und nicht etwa, daß ein
einziger von diesen Millionen Menschen, die sich gegenseitig
würgen, auch nur einen Strohhalm von diesem Erdhaufen forderte, sondern es
handelt sich nur darum, festzustellen, ob sie einem gewissen Manne, den man
Sultan nennt, oder einem anderen Manne gehören sollen, der, ich weiß nicht
warum, Cäsar genannt wird. Weder der eine noch der andere hat jemals das kleine
Fleckchen Erde gesehen, um das es sich handelt, noch wird einer von beiden es
jemals sehen, und auch fast keines jener Tiere, die sich gegenseitig erwürgen,
hat jemals das Tier erblickt, für das sie es tun.«
»Oh ihr
Elenden,« schrie der Siriote empört auf, »kann man einen solchen Taumel
sinnloser Raserei fassen! Es kommt mich wahrlich die Lust an, drei Schritte zu
machen und mit drei Fußtritten diesen ganzen Ameisenhaufen lächerlicher
Mordgesellen zu zerstampfen.« »Geben Sie sich nicht die Mühe, sie wirken schon
selber genug an ihrem Untergang. Vernehmen Sie, daß jedesmal nach Verlauf von
zehn Jahren immer nur der hundertste Teil von diesen Elenden übrig bleibt; und
hätten sie in dieser Zeit auch niemals das Schwert gezogen, Hunger, Anstrengung
oder Unmäßigkeit rafft sie dennoch fast alle dahin. Überdies verdienen nicht
sie bestraft zu werden, sondern jene faulenzenden Unholde, die von ihren Stuben
aus um die Zeit ihrer Verdauung die Metzelei von einer Million Menschen
befehlen und danach Gott dafür feierlich danken lassen.« Der Reisende fühlte
sich von Mitleid ergriffen für die kleine menschliche Rasse, in der er so
erstaunliche Widersprüche entdeckte. »Da ihr zu der kleinen Zahl der Weisen
gehört,« sprach er zu den Herren, »und offenbar niemanden
für Geld tötet, so sagt mir bitte, womit ihr euch beschäftigt?« »Wir
zergliedern Fliegen,« antwortete der Philosoph, »wir messen Linien, wir stellen
Zahlen zusammen, wir sind in zwei oder drei Punkten, die wir begriffen haben,
einig miteinander, und streiten uns über zwei- oder dreitausend andere, die wir
nicht verstehen.« Sofort ergriff den Sirioten und den Saturnier ein Gelüst, den
denkenden Atomen allerlei Fragen zu stellen, um zu erfahren, in welchen Dingen
sie denn einig miteinander seien? »Wie groß schätzt ihr die Entfernung vom
Hundsstern bis zum großen Sternbild der Zwillinge?« Sie antworteten alle auf
einmal: »Zweiunddreißig und einen halben Grad.« »Wie weit rechnet ihr von hier
bis zum Mond?« »Rund gerechnet sechzig Erdradiusse.« »Wieviel wiegt eure Luft«,
und damit glaubte er sie zu fangen, aber alle antworteten ihm, die Luft wöge
ungefähr neunhundertmal weniger als ein gleiches Volumen leichtesten Wassers
und neunzehntausendmal weniger als Dukatengold. Der kleine Zwerg vom Saturn war
über ihre Antworten so erstaunt, daß er sich versucht fühlte, dieselben Leute,
denen er eine Viertelstunde vorher noch den Besitz einer Seele abgesprochen,
allesamt für Hexenmeister zu halten.
Endlich
sprach Mikromegas zu ihnen: »Da ihr so gut über das Bescheid wisset, was um euch
ist, wisset ihr wahrscheinlich noch mehr über das, was in euch ist: so saget
mir bitte, was eure Seele ist und auf welche Weise ihr eure Gedanken bildet?«
Die Philosophen redeten wiederum alle auf einmal, aber sie waren alle
verschiedener Meinung. Der älteste unter ihnen zitierte Aristoteles,
ein anderer sprach den Namen Descartes aus, wieder ein anderer nannte
Malebranche, ein vierter Leibniz, ein fünfter Locke. Ein alter Peripatetiker
rief voller Selbstvertrauen ganz laut: »Die Seele ist eine Entelechie und eine
Vernünftigkeit, aus der sie Kraft gewinnt, das zu sein, was sie ist, dies
stellt Aristoteles ausdrücklich auf, Seite 633 der Ausgabe des Louvre:
Ἐντελέχεια
ἐστὶ usw.
»Ich
verstehe nicht allzu gut griechisch«, sagte der Riese. »Ich auch nicht«, sagte
die philosophische Milbe. »Warum zitieren Sie dann aber einen gewissen
Aristoteles auf griechisch?« fragte der Siriote. »Weil man doch eben,«
erwiderte der Gelehrte, »das, was man gar nicht begreift, in der Sprache
zitieren muß, die man am wenigsten versteht.«
Nun ergriff
der Kartesianer das Wort und sagte: »Die Seele ist eine reine Geistigkeit,
welche schon im Leibe ihrer Mutter alle metaphysischen Begriffe empfängt und,
wenn sie ihn verlassen hat, in die Schule gehen und dort alles von neuem lernen
muß, was sie schon so gut wußte und niemals wieder wissen wird.« »Dann
verlohnte es sich also nicht,« erwiderte das Achtmeilentier, »daß deine Seele
im Bauch deiner Mutter schon so wissend war, wenn du mit dem Bart am Kinn so
unwissend sein mußt. Aber was verstehst du unter Geist?« »Was fragen Sie mich
da,« rief der Denker, »ich habe keine Ahnung, man sagt jedoch, er sei keine
Materie!« »Weißt du dann wenigstens, was Materie ist?« »Gewiß!« erwiderte der
Mensch. »Dieser Stein zum Beispiel ist grau, hat die und die Form und seine
drei Dimensionen, er besitzt Schwere und ist teilbar!«
»Wohlan,« rief der Siriote, »dies Ding da, das dir teilbar, schwer und grau zu
sein scheint, willst du mir gefälligst sagen, was es ist? Du siehst nur ein
paar Eigenschaften, aber den Urgrund des Dinges, kennst du den?« »Nein,«
erwiderte der andere. »Also weißt du auch nicht, was Materie ist!«
Darauf
richtete Herr Mikromegas das Wort an einen anderen Weisen, den er ebenfalls auf
seinem Daumen hielt, und fragte ihn, was denn seine Seele sei und was sie täte.
»Nichts,« antwortete der philosophische Jünger des Malebranche, »Gott allein
tut alles für mich, ich erblicke alles in ihm, tue alles in ihm, und er bewirkt
alles, ohne daß ich daran teilhabe.« »Überhaupt nicht da zu sein, käme auf
dasselbe heraus«, entgegnete der Weise vom Sirius. »Und du, mein Freund,«
wandte er sich an einen Leibnizianer, der ebenfalls da war, »was ist deine
Seele?« »Sie ist,« erwiderte der Leibnizianer, »ein Zeiger, der die Stunden
weiset, während mein Leib die Glocken spielen läßt, oder, wenn Sie so wollen,
läßt auch meine Seele die Glocken spielen, während mein Leib die Stunden
anzeigt, oder meine Seele ist der Spiegel des Weltalls und mein Leib der Rahmen
des Spiegels, das ist doch völlig klar.«
Ein kleiner
Anhänger Lockes stand dicht daneben, und als endlich auch an ihn das Wort
gerichtet wurde, sagte er: »Ich weiß nicht, auf welche Weise ich denke, aber
ich weiß, daß ich niemals anders gedacht habe denn auf Veranlassung meiner
Sinne. Daß es unkörperliche, geistige Wesenheiten gibt, daran zweifle ich
nicht; daß es Gott aber unmöglich sein sollte, der Materie Geist
zu verleihen, das bezweifle ich stark. Ich verehre die ewige Macht, und es
steht mir nicht zu, sie zu begrenzen, ich stelle nichts auf, sondern bescheide
mich, zu glauben, daß da mehr Dinge möglich sind, als man meinen möchte.«
Das Tier vom
Sirius lächelte, es fand diesen da nicht zum wenigsten weise, und der Zwerg gar
würde ohne den ungeheuren körperlichen Größenunterschied den Locke-Anhänger in
seine Arme geschlossen haben. Zum Unglück aber war noch ein anderes kleines
Tierchen in viereckiger Mütze da, das allen anderen kleinen philosophischen
Tierchen das Wort abschnitt; es sagte, ihm sei das ganze Geheimnis offenbar,
denn es stände im Summarium des Thomas von Aquino, und darauf sah er die beiden
Himmelsbewohner vom Kopf bis zu den Füßen an und machte ihnen klar, daß sie
selber und ihre Monde, ihre Sonnen, ihre Sterne und alles einzig für den
Menschen gemacht sei. Auf diese Rede hin warfen sich unsere beiden Reisenden
einander in die Arme und erstickten beinahe in jenem nicht zu unterdrückenden
Lachen, das nach Homer ein Gut der Götter ist; ihre Schultern und ihre Bäuche
schüttelten sich, und in diesen Lachkrämpfen fiel das Schiff vom Nagel des Sirioten
in eine Hosentasche des Saturniers hinab. Die beiden gutherzigen Riesen suchten
lange danach, endlich fanden sie die Besatzung wieder und stellten sie fein
säuberlich auf die Beine. Der Siriote hielt die kleinen Milben wieder in seiner
Hand und sprach mit großer Güte zu ihnen, obgleich er auf dem Grunde seines
Herzens ein wenig erbost darüber war, daß die unendlich Kleinen einen fast
unendlich großen Dünkel besaßen. Er versprach ihnen, ein
schönes philosophisches Buch für sie zu schreiben, und zwar eigens für ihren
Gebrauch winzig klein. In diesem Buche sollten sie den Endzweck der Dinge
angegeben finden. Und er überreichte ihnen vor seiner Abreise in der Tat dieses
Buch: es wurde nach Paris in die Akademie der Wissenschaften getragen; als aber
der Sekretär es öffnete, fand er nur leere Blätter: »Ah,« rief er, »ich hatte
es geahnt!«
Übersetzt von Ernst Hardt