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Volltext, Heft 1/2022

Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats

Michael Braun

Zeitschrift des Monats

REISE AUFS ABSTELLGLEIS

Volltext, Heft 1/2022


Am Ende einer publizistischen Free Lancer-Existenz wartet auf die freischwebenden Intellektuellen, die sie über viele Jahre mehr oder weniger mühevoll betreiben, stets die gleiche Misere: die panische Angst vor dem Ausbleiben der Aufträge, die Furcht vor Verarmung und dem langsamen Absinken in die Bedeutungslosigkeit, die letzte Reise aufs Abstellgleis. Hinzu kommen im herangerückten Alter die körperlichen Gebrechen, der Verlust an körperlicher Attraktivität, die schwindende Möglichkeit zu „glänzenden Auftritten“, das Schweigen der vermeintlichen Freunde. Diesen Prozess des Niedergangs hat Michael Rutschky, der geschmeidigste und beste Essayist der alten Bundesrepublik, der einst mit seinem epochalen Essay „Erfahrungshunger“ (1980) Furore machte, in drei schockierenden Tagebuchbänden aufgeschrieben. Im letzten Tagebuchband, der 2019 unter dem Titel „Gegen Ende“ erschien, hatte sich Rutschky nur noch auf die „Erfahrungsseelenkunde“ in eigener Sache konzentriert, auf das allmähliche Versinken in einer manifesten Depression. Schonungslose Selbstbeobachtung und radikale Indiskretion werden hier zum Produktionsprinzip. So entsteht in „Gegen Ende“ das Porträt eines Schriftstellers als alternder Mann, der penibel seine Verlassenheitsgefühle, Alkohol-Eskapaden und Impotenz-Ängste protokolliert.
          Als Rutschky im März 2018 den Folgen einer Krebserkrankung erlag, ging eine intellek-tuelle Ära der Bundesrepublik zu Ende. Denn um Rutschky und seine Frau Katharina (sie starb 2010) hatte sich seit Mitte der 1980er Jahre ein illustrer Kreis jüngerer Intellektueller versammelt, die sich regelmäßig beim großen Meister in der Wartenburgstraße in Berlin-Kreuzberg zum Gedankenaustauch versammelten. Zu diesem Kreis gehörten die Schriftsteller Stephan Wackwitz, David Wagner und Kathrin Passig, die ZEIT-Journalisten Jörg und Mariam Lau und, als wichtigste Bezugsfigur Rutschkys, der langjährige Merkur-Redakteur Kurt Scheel, der von 1980 bis 2011 die Geschicke des Merkur mitgestaltete und Rutschky zum meistgedruckten Hausautor der Zeitschrift machte.
            Die jahrzehntelange Freundschaft, die Kurt Scheel mit Rutschky verband, endete mit einer tiefen Enttäuschung. Denn der frustrierte Rutschky hatte seinen letzten Tagebuchband dazu genutzt, um seine Freunde und Bewunderer mit allerlei Boshaftigkeiten und verletzenden Bemerkungen zu überziehen. Kurt Scheel, den Rutschky zum Herausgeber seiner letzten Tagebücher bestimmt hatte, war der Enttäuschteste von allen. Wenige Tage nach dem Abschluss seiner Editionsarbeit an Rutschkys Tagebüchern nahm er sich im Juli 2018 in seiner Berliner Wohnung das Leben. In ihren Rückblicken auf den „Rutschky-Kreis“ haben mittlerweile Stephan Wackwitz und Jörg Lau die Distinktionsrituale des Ehepaars Rutschky, vor allem aber das semi-autoritäre Gebaren des Hausherrn, der von seinen „Schülern“ nur die Affirmation der eigenen Positionen erwartete, bloßgelegt.
           In der neuen Ausgabe der in Wien erscheinenden Literaturzeitschrift Volltext (Heft 1/2022) holt nun ein jüngerer Autor aus dem Rutschky-Kreis, der Schriftsteller Marc Degens, zu einer weiteren ambivalenten Würdigung des Rutschky-Milieus aus. Es sind umfangreiche Auszüge aus Degens‘ neuem Buch mit dem originellen Titel „Selfie ohne Selbst“, das hart an der Grenze zur Kolportage die Abgründe des Berliner Feingeistes ausleuchtet. Bei allem Respekt vor der „Rutschky-Schule“, die mit ihren Protagonisten zur großen Blüte des Feuilletons in den Neunziger Jahren beitrug, markiert Degens vor allem die Nachtseiten des Rutschky-Kults. In Andeutungen wird auch die Vorgeschichte des Freitods von Kurt Scheel ausgebreitet: „Ekkehard (Knörer, der jetzige Merkur-Redakteur, Anm. d. Verf.) erzählt mir, dass Kurt Scheel keine Rentenversicherung hatte, sondern sich seine Lebensversicherung auszahlen ließ, von ihr in den letzten Jahren lebte, diese aber nun aufgebraucht gewesen sei und er finanziell keine weiteren Rücklagen gehabt habe.“ Degens notiert an einer Stelle kokett, dass er beim Blättern in den Tagebüchern Rutschkys die (vergebliche) Hoffnung gehabt habe, „nicht darin vorzukommen“. Das ist wenig glaubwürdig. An anderer Stelle berichtet er davon, dass man ihn auf einer einschlägigen Büchermenschen-Party mit Marcel Beyer verwechselt habe.
          Der wahre Marcel Beyer veröffentlicht in Volltext einen fabelhaften Essay über den russi-schen Literaturtheoretiker Viktor Schklowski (1894-1984), dem grandiosen Propheten des Russischen Formalismus, der – so Beyer – auch einer der ersten Medientechniker der literarischen Moderne war, der über den Stumm- und Tonfilm und dessen frühen Helden Tarzan genauso kundig schreiben konnte, wie über seine Großstadt-Enthusiasmen in Berlin. Nach der Oktober-revolution wurde er der „konterrevolutionären Umtriebe“ bezichtigt und floh 1922 zuerst nach Finnland und dann nach Berlin, wo er seine großen Werke „Sentimentale Reise“ und „Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder Die Dritte Heloise“ schrieb.

Seit nunmehr zwanzig Jahren wird Volltext von dem österreichischen Publizisten Thomas Keul gemeinsam mit Fatima Naqvi (und einigen langjährigen Unterstützern wie z.B. Stefan Gmünder und Teresa Profanter) herausgegeben; die aktuelle Ausgabe ist ein würdiges Jubiläums-Heft. Denn wir finden darin noch weitere äußerst lebenswerte Beiträge: Norbert Gstrein liefert einen fulminanten Verriss des Meistererzählers und Literaturnobelpreisträgers William Faulkner und dessen Roman „Requiem für eine Nonne“. Felix Philipp Ingold schreibt ein Plädoyer für das Zitat als Grundlage allen Schreibens und relativiert mit einem Hinweis auf eine Sentenz des Schweizer Essayisten Ludwig Hohl („Wäre denn Schreiben so unermesslich verschieden vom Zitieren?“) jeden voreiligen „Innovationsanspruch“.
           Und Andreas Maier präsentiert eine zutiefst fatalistische Kolumne, die in einen Abschied mündet – von einem toten Vogel und vom Schreiben: „…Ich nahm einen Spaten, grub ein Loch, zeigte meiner Frau den Kernbeißer noch einmal, wie er auf dem Spaten nun auf dem Rücken lag. Jedes Detail schön…Ich nahm das Einzelexemplar der Gattung, konnte noch im Erdloch meine Augen nicht von ihm wenden, diesem Geschöpf, das in unserer Sprache namenlos ist und nur als Gattung/Art vorkommt, nicht als das tote Du dort im Loch. Dann hob ich Erde über dich und klopfte sie leise fest.“

Volltext, Heft 1/2022, c/o Thomas Keul, Goldschlagstr. 78/22, A-1150 Wien, 76 Seiten, 5,90 Euro.


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