Vladimir Koljazin: Ich stapfe wie ein Nilpferd über Leichen
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Vladimir Koljazin
Ich stapfe wie ein Nilpferd über Leichen
Monolog des russischen Soldaten Agafonov
(Übersetzung aus dem Russischen von Wolfgang Schiffer
auf
der Basis einer Interlinearversion des Autors)
Ich stapfe über die Leichen der Morgendämmerung
Gefallen heute und gestern und in der Zwischenzeit
Und ich denke wieso gehe ich als ob ich noch am Leben wär
Als ob es so sein sollte und ich ewig bin
Unsere zehn Männer sind tot ich dachte
es wären nur zehn
Und plötzlich tut sich ein Bild auf wie dem Ivan Shichkin
die Bären im Wald
Ich sehe dass ein
ganzer Hain voll Toter mir der Nachbar ist
♪ Over the dead here and there tam tam I walk like a
hippopotamus tam tam ♪
Ohne es zu merken
trete ich auf die Leben von Gestern
Sie liegen wie vom Himmel gefallen in einer nicht zu
umgehenden Reihe
Ohne Arme, einer, ohne Beine, vier, zwei ohne Kopf
Aber mit militärischen Dokumenten Erkennungsmarken mit persönlicher Zahl
Ein Blitzlichtgewitter der Militärfotografen schon sind sie ohne Gesicht
Gestern warst du ein Mensch heute eine Nummer
Ganz frisch und ahnungslos. Wo nur sind sie gelandet?
♪ I'm an old-timer, I know where to hide when the
whistle blows ♪
♪ And the lieutenant's driving, 'cause we're ordered
forward ♪
Ich will nach Hause ich bin es leid über Leichen zu gehen
Die Hälfte der Nacht über meine Katsapi, die andere
Hälfte über die Khokholi*
Hey, du da oben, komm her Ich bin ein Nilpferd
Geh du zur Armee und stampfe mit den Füßen aus den Hirnen
das Blut
Als ob es so sein sollte und ich ewig bin
Morgen wirst du ein ewiger Bräutigam sein und ich werde
gehen
Und mich verstecken hinter dem Denkmal des Unbekannten
Soldaten
Ich habe einen Eid auf das Vaterland geschworen nicht auf den Unsichtbaren da oben
Da da ich stapfe
wie ein Nilpferd über Leichen
Von ihm schon lange dem Spam dem Abfall überlassen
Der Soldat Agafonov ist heute noch ein Mensch
Doch dir da oben erweise ich nicht die Ehre
* Katsap ist in der Ukraine eine
erniedriginde Bezeichnung für Russen.
Khokhol ist in Russland eine
erniedriginde Bezeichnung für Ukrainer.
Vladimir Koljazin, geb. 1945 nahe Neshin in der
Ukraine, seit dem Armeedienst 1968 in Moskau lebend, ist ein russischer
Theaterhistoriker, Germanist, Übersetzer und Lyriker. Er absolvierte 1972 das
Staatliche Institut für Theaterkunst, später und bis heute arbeitet er als wissenschaftlicher
Mitarbeiter (Dr.h.c.) des Staatlichen Instituts für Kunstwissenschaft. Er
übersetzte u.a. Arthur Schnitzler, Martin Sperr, R.W. Fassbinder, Peter Handke,
Botho Strauss, Heiner Müller und Elfriede Jelinek ins Russische. Von ihm
erschienen in Russland u.a.: » Monografien über deutsch-russische
Theaterbeziehungen« (1998, 2. erw. Auflage 2013); »Mysterium und Karneval«
(2002); » Peter Stein: Schicksal eines Theaters« (2012), Hrsg. und Co-Autor
»Erwin Piscator« (2022). Poetische Lesungen in Moskau, Berlin, Wien. Vladimir Koljazin lebt in Moskau.