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Vincent Sauer: Urteilsfindungsstörung: Sterne und Prozente

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Lyrikkritik
01.12.2000 -
Jörg Langer sagt in seiner „Kauf-beratung“ zu
Baldur's Gate 2: Das Rollenspiel-Epos ist noch besser als Bal-dur's Gate 1.
Ein Mega-Rollenspiel setzt im Test neue Maßstäbe: Baldur's Gate 2 ist noch schöner, noch größer, noch komfor-tabler. Aber ist
es deshalb auch besser als der Vorgänger?
Vincent Sauer

[Der folgende Text wurde ursprünglich für einen Band geschrieben, der als Geschenk an Michael Braun zu seinem 65. Geburtstag geplant war. Da sich das Geschriebene nicht dazu eignet, im Kontext von Nachrufen und Erinnerungen zu stehen, sondern eine persönliche Reflexion zum Geschäft der Rezension darstellt, vielleicht eine wohlgesonnene Provokation, die wenig mit Lyrik zu tun haben will, scheint mir seine Veröffentlichung nur außer der Reihe, als abseitiger Gedankenanstoß richtig platziert.]  


Urteilsfindungsstörung: Sterne und Prozente   


Im Herbst 2019 lud mich der slowenische Literaturbund in seine Hauptstadt ein, um dort mit anderen Rezensenten und Dichterinnen auf einem Podium über die "Kunst der Kritik" vor Publikum zu sprechen. Wir hielten unsere Vorträge, Nachfragen blieben in der Regel aus oder wurden verschwiegen; eine Diskussion wurde pflichtgemäß angeleiert, sie ebbte ab nach vereinzelten Meinungsbeiträgen. Ich hatte zwei angenehme, umsorgte Tage mit netten Menschen. Fürs europäische Miteinander sollten die Referate auf Englisch verfasst werden. Meins trug so den Titel „The Demolition of the Bubble“. Das war eine Variation auf oder unabsichtliche Verballhornung von Wolfang Hilbigs Frankfurter Poetikvorlesungen Abriss der Kritik. Zugegeben, das Bild meiner Betriebskritik war nicht wirklich stimmig, denn Blasen kann man nur platzen lassen -- stete Arbeit negativer Art bringt nichts.

Zur Vorbereitung der Konferenz las ich u. a. in einer Sonderausgabe der Sprache im technischen Zeitalter vor meiner Zeit, die einen Beitrag von Michael Braun enthielt. Das Heft dokumentierte eine Konferenz zum Stand der Literaturkritik damals, im taufrischen Jahrtausend. Michael formuliert darin einige „Merksätze“, von denen mich zwei sehr beschäftigten, weil sie trafen, wie ich die literaturkritische Tätigkeit erlebt hatte.

2. Die Freiheit des freien Literaturkritikers besteht vor allem darin, daß er keine Zeit mehr hat, nach den Kriterien seiner Arbeit zu fragen. Statt dessen konzentriert er sich auf die Zeichenzahl seiner Drucksachen und auf die Beschleunigung seiner Textproduktion, da schon wieder die nächste Deadline droht.

4. Der freie Literaturkritiker hat einen Traum: Er darf schreiben über das Objekt seiner Leidenschaft, den famosen Roman, das unvergeßliche Gedicht. Aber nein: Das geliebte Objekt ist vergeben, die Konkurrenz war wieder einmal schneller.[1]

Um Verselbständigung anstelle von Selbstverständigung, um Gemütlichkeitsreflexe, den Zusammenhang von Bewerben und Besprechen, die neutralisierte Rezension als höhere Inhaltsangabe ging es auch mir. Der Vortrag in Slowenien deklinierte viel Frust durch. Diese professionelle Verstimmung nun erneut in deutscher Sprache aufzubereiten, scheint mir nicht hilfreich. Da Michael und mich einige Jahrzehnte trennten, will ich lieber versuchsweise rekonstruieren, wie mir die Textform Rezension zum ersten Mal bewusst begegnete. So erklärt sich vielleicht, zumindest für mich, warum ich in letzter Zeit viel lieber über Medienkunst schreibe als Lyrik, über digitale Kopfgeburten mit schwierigem Verhältnis zu Fleisch und Blut, die das Plätzchen der Sprache im Digitalen durchaus ernstnehmen.  

Das Kritisieren menschengemachter ästhetischer Phänomene, denen ich mich willentlich in Erwartung von Genuss und alltagsferner Erfahrung aussetze, habe ich anhand von Computer- bzw. Videospielen in den dazugehörigen Fachzeitschriften gelernt. Zum ersten Mal muss ich sie in der ortsansässigen Tankstelle oder bei Edeka vor der Kasse entdeckt haben. Die mit DVDs bestückten fetten Hefte erschienen zuverlässig monatlich, irgendwann hatte ich drei im Abonnement, vor dem Abi zeitgleich mit Literaturperiodika. Bewertungskästen am Ende jeder mit vielen Screenshots bebilderten Besprechung machten Stärken und Schwächen des großen Spaß Computerspiel transparent, da der zuständige Redakteur in den Kategorien Grafik, Sound, Umfang, Gameplay, Plot, Atmosphäre etc. null bis zehn Punkte verteilen konnte, sodass das perfekte Spiel hundert Punkte hätte haben müssen, was aber naturgemäß der Zahlenmystik keines erreichte. Eifrig las ich diese Hefte aus. Der urteilsgeile Nachvollzug einer Qualitätskontrolle kompensierte die reale Unmöglichkeit, alle begehrten Objekte selbst durchzuspielen; denn dafür hätten mir neben drei Videospielkonsolen und einem ständig aufgerüsteten Supercomputer aberhunderte Euro monatlich zur Verfügung stehen müssen. Längst gibt es erfolgreiche YouTube-Channels, in denen Männer um die Dreißig oder Vierzig für ihre Gefolgschaft Spiele spielen und dabei in einer Live-Kritik kommentieren. Wer "Walkthroughs" schaut, spart sich den Frust, nicht weiterzukommen, in der Handlung hängen zu bleiben, weil die eigenen Fertigkeiten nicht ausreichen, Bosse am Ende des Levels zu schlagen. Der Blinkist-Zusammenfassung einer großen Literatur, aufbereitet für die Uber-Fahrt des Managers, ist dem nicht unähnlich.

Pessimistisch könnte man sagen, diese Bewertungskästen sind ein Symptom für mangelndes Text- und Lesevertrauen; die Reviews, die mittlerweile oft einfach Tests heißen, bieten einen effizienten Weg zum normierten Unterhaltungswert; sie bilden einen komfortablen Urteilsservice. Kurze Recherchen ergaben, dass heutzutage nicht wenige Rezensionen leicht erkennbar sponsored content sind -- in der Spielebranche geht es schließlich um sehr viel Geld. Das war mir in der Schulzeit nicht klar, und die Kritikpunkte, die ich gerade mäkelnd aufgezählt habe, wären mir wohl egal gewesen.

Auch der wohlgeformte Urteilsspruch ist ein Weg in die Community. Ich bewarb mich mit 14 Jahren für die Teilnahme an einem Experiment des Stuttgarters Jörg Langer, der mit der GameStar eine der beliebtesten Computerspielzeitschriften Deutschlands in München mitauf-gebaut hatte. Langer plante eine Online-Plattform, bei der die Nutzer selbst wie Avatare, selbsterstellte Figuren, "Charaktere" in Rollenspielen -- dem Genre, das epischen Abenteuern, mit Kontrolle über ein Individuum, am nächsten kommt --, aufsteigen konnten, und zwar durch Produktion und Einpflegung von journalistischem Inhalt: Anfänglich übersetzte ich mühselig News über den Stand der Branche von amerikanischen Seiten ins Deutsche, dann wurden mir miese Spiele, die keiner wollte, zum Besprechen zugeteilt. Schließlich erhielt ich exklusive Links zu Beta-Versionen kommender Top-Hits. Ich stieg auf, levelte mich hoch im ungedruckten "Schöner Zocken", durfte mehr, weil mir mehr zugetraut wurde, weil mehr wohlverdiente Experience Points auf meinem Konto öffentlich einzusehen waren. Mich kontaktierten Quasi-Kollegen aus Amerika, wo ich noch nicht gewesen war, außer in vielen schönen Spielen. Ein Vorzeigekritiker schließlich war befugt, Spiele vor allen anderen auszutesten, sollte mit erfahrenen Kollegen Videos aufzunehmen, um der Welt die Meinung zu geigen. Eine Vermutung war schon damals, dass man für die Spiele nur deshalb nicht mehr zahlen muss, weil das Urteil selbst irgendwie wertschöpfend sein könnte. Die Gamification der Kritik war geboren, aber spielte 2007 für mich keine Rolle.

Aus privaten Erwägungen bzw. Snobismus beendete ich meine Laufbahn als Spielekritiker und Zocker mehr oder weniger schleichend gleichzeitig. Dann waren Sterne der Maßstab für die Güte von erwachseneren Kulturgütern, weil Filmzeitschriften und Musikjournale sie gerne verwendeten. Einen halben bis fünf vergebene Sterne, das diente lieblos dazu, Lektüren abzukürzen, war Entscheidungsstupserei, intransparent, bot aber doch ein klares Ordnungssystem (Mittelklasse, Advanced, Superior etc. pp.). Die Sternchen verwiesen mich, im Gegensatz zu den pedantischen Tabellen der Bewertungskästen, auf meinen Platz: Ich war Kunde, Endverbraucher. Hotels bekommen Sterne verpasst und Restaurants. Sie sollen nur garantieren, dass ich nicht verarscht werde, sondern kriege, was draufsteht, und mit klaren Erwartungen arbeiten kann. Die Bewertungskästen der Spiele sind kategorische Obsessionen; Sterne machten für mich alles kommensurabel und bäh.

Stellt sich die Frage, mit welchen Kategorien man sich behelfen würde, um Romane oder Gedichte in Bewertungskästen zu beurteilen? Psychologischer Tiefengrad der Figuren? Glaubwürdigkeit der Diegese? Metapherndichte? Anspielungsreichtum? Sowas wie die innere Formvielfalt eines Texts? Gegenwartstriftigkeit? Vielleicht sollte man das mal ausprobieren und ein brutales Wunder könnte geschehen. Entscheidend dafür, wie das Bewerten, also Wert beimessen, vonstatten geht, ist m. E. die Vorstellung, dass ein Spiel Möglichkeiten ausreizt, nicht hinter einen ominösen Stand der Technik zurückfällt. Quantität in den einzelnen Bereichen schlägt in eine Art Gesamtqualität um. Dieser Wunsch nach Fülle, das Gebot einer Fehlerlosigkeit klingt für mich auch in den notorisch oft verwendeten Kritikadjektiven "genau" und "vielstimmig" mit, die sich bei der Beurteilung von Lyrik nicht selten übersetzen ließen mit "wohlrecherchiert" und "referenzreich". Da drin stecken überprüfbare Mühen, da drin steckt ganz klar Arbeit, so gehört sich das.

Computerspiele sind eine heftige immersive Erfahrung, da sie Interaktion voraussetzen: Zwar verlangt die Literatur auch Augen und innere Stimme, bei Spielen hebe ich die programmierte Welt aber aus der Möglichkeit mit meinen tastenden, drückenden und Steuerknüppel drehenden Fingern und verändere sie ständig. Die Frage, ob man sie nun Kunst nennen darf oder nicht, ist müßig, und man reibt sich oft daran auf, ob eine Simulation, die auf meine Bereitschaft zur Teilnahme angewiesen ist, eine Fremdheit erzeugen kann, die als das wie auch immer geartete Andere der Kunst für viele Menschen doch wesentlich ist. Computerspiele, in denen ich Städte baue, Mafia-Clans an die Spitze morde o. Ä. sind nur ein unendlicher Sandkasten mit unzähligen Förmchen. Mir scheint diese Argumentation Schutzreaktion zu sein. Hinter-die-Kulissen-Lugende mögen belächeln, dass ausrangierte Hollywood-Drehbuchautoren die Storylines für Spiele schreiben, weil’s mit der ernsteren Kunst nicht geklappt hat. Das ist Unfug. Statt Exerzitien der Kunstkriteriensuche zu simulieren, sei auf das Werk von Jason Rohrer verwiesen, der ein wesentliches Kriterium des Spiels an sich austrickst. Man kann nicht gewinnen. „Passage“ von 2007 etwa ist eine intensive konzeptkünstlerische Beschäftigung mit Linearität und Unausweichlichkeit als Prinzipien des Lebens, wogegen kein Steuerknüppel ankommt. In "Stanley Parable" von Davey Wreden und William Pugh durchstreift man aus der Perspektive eines Sachbearbeiters einen leeren Bürokomplex und muss sich zu den Aufforderungen einer Erzählstimme verhalten, die einem vorgibt, welche Wege man zu gehen habe, wobei man der Autorität des körperlosen Kommentars schutzlos ausgeliefert ist, mit Konsequenzen zu rechnen hat, wenn man sich seiner Vorstellung der Geschichte widersetzt. Beide Spiele sind (auch) narratologische Experimente, die ihr Medium auf eindringliche Weise reflektieren.   

Zurück in den Gefühlshaushalt: Mich ließ die maximal differenzierte Fachkritik für Computerspiele dieser Versunkenheit vorgeblich Herr werden. Zwar wurden mir nicht sonderlich viele tradierte ästhetische Begriffe dafür an die Hand gegeben, aber es gab feste Kategorien nach denen verglichen werden konnte. Die vollkommen geschlossene Erfahrung eines sauber programmierten Spiels ohne Abstürze und andere Fehler im System, wurde ohne jegliche eigenen Programmier- oder Animierkenntnisse meinerseits zerlegbar, ich holte meine Immersion ein, die Produktion Computerspiel wird offengelegt, ihr Erleben fragmentiert. Das klingt nach eingebildeter Rache an der Blackbox. Vollkommen, endautonom kann man sich das Wirken alter Statuten ausmalen, sowas über Spiele zu denken, ist weglos, weil sie nun mal Spieler brauchen: den subjektiven Störfaktor in den avisierten hundert Prozent der Bewertungskästen. Unerschöpflichkeit übersetzt sich vielleicht im Wiederspielwert. Ich steige wieder ein als anderer. Der Unterschied zum Binge-Rewatch einer Serie ist gering. Das machen Fans. Aber hat die Kritik nicht oftmals Angst davor, höheres Fantum zu sein? Fan ist ja Kosename für Fanatiker. Spiele/Serien haben Fans, Literaturformen eher Aficionados. Liebhaber? Ist das nicht eine Beleidigung wie Leseratte? Ich schweife ab. Literaturkritik sollte ihr Verhältnis zu ihrem Gegenstand für sich klären und offenlegen, gegebenenfalls zu ihrem Interesse stehen; Transparenz nicht nur erzeugen, indem sie das Objekt durchleuchtet, sondern mit der Homestory der ästhetischen Erfahrung experimentieren.


[1] Michael Braun: Denker ohne festen Wohnsitz in der sekundären Welt. Über alte und neue Legitimationsprobleme der Literaturkritik. In: Sprache im technischen Zeitalter. Positionen der Literaturkritik (Sonderheft), Köln 2002, S. 87.


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