Véronique Dehimi: Wo die Schatten der Fische ins Nachtblaue tauchen
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Hans-Karl Fischer
Véronique
Dehimi: Wo die Schatten der Fische ins Nachtblaue tauchen. Gedichte. Gerolzhofen (Wiesenburg
Verlag) 2021. 100 Seiten. 19,90 Euro.
STÄRKUNG DES ICH
Am Anfang des sechsten Gedichtbandes von Véronique
Dehimi steht als Motto ein Zitat Paul Celans: „Wer auf dem Kopf geht, der hat
den Himmel als Abgrund unter sich.“ Dieses Bild einer auf dem Kopf stehenden
Welt wird in einigen Gedichten direkt fortgeführt: „Im Grase unterm Apfelbaum /
wate ich im Himmel / schaukle mit tausend Blättern / den Kopf im
Wurzelwerk / Spiegel der Krone‟. Wie in dem Gedicht „Im Grase‟ ist die
bilderreiche Sprache des lyrischen Ich Dehimis keine, die mithilfe von
Metaphern Lebensbereiche miteinander verbindet; wie bei einem Kind in der
animistischen Entwicklungsphase ist die Welt der Bilder und Personifikationen
einfach vorhanden.
Véronique Dehimis Buch „Wo die Schatten der Fische
ins Nachtblaue tauchen‟, das gerade im Wiesenburg Verlag erschienen ist,
beginnt mit einem dreiseitigen Gedicht, „Verra-tener Frühling 2020‟, der
allerdings das einzige Zugeständnis ans Langgedicht ist; es endigt mit drei
Haiku als Schluß-akkorde. Die lyrischen Gebilde der in fünf große Zyklen unter-teilten
Gedichtsammlung werden gegen Schluß hin kürzer und kürzer und überdies
poetologischer.
Die poetologischen Poeme sind weniger
ausdrucksstark als die, welche die Natur im Angesicht ihres Untergangs
beschwö-ren: „wenn vom Himmel / tot die Vögel fallen / wenn schwarz die Saat
keimt (…) fehlt uns der Zuspruch / von Salbei und Storchenschnabel / wir holen
die Zeitspanne nicht ein / zwischen Kornblumen und Mohn‟.

Der „Zuspruch‟ der Natur, den man in älterer
moderner Lyrik, etwa in Dylan Thomas´ Langgedicht „Fern Hill‟ findet, wird bei
Dehimi jedoch nicht als „Begrüßungsgeld‟ aufgefaßt, das der Mensch bei seinem
Erscheinen als Kind von der Natur erhält; er steht unter dem Motto „Rette dich,
indem du die Natur rettest‟. Obwohl dieses Gedicht mit den hoffnungsvollen
Versen „bläuliches Strahlen im Rain / Wegwarten - / ein Neubeginn‟ endet und
die heute fast unmöglich gewordene Frühe aufblinkt, ist die Apokalypse der auf
ihrem Kopf stehenden Welt nicht sehr weit entfernt.
Neben sehr guten erotischen Gedichten wie
„Amazone‟, in denen das Ich, das Du und die Beziehung zwischen beiden
ausgelotet werden, finden sich auch Gedichte wie „Bildnis‟, in denen nichts
über das lyrische Ich, den Geliebten und die seelischen Zustände zwischen ihnen
gesagt wird. Das Gedicht „Bildnis‟ bleibt allgemein; mithilfe von
Doppeldeutigkeiten der Ausdrücke „im Rahmen‟, „im Bilde sein‟ und „aus der
Fassung bringen‟ wird ein Gedanke über Liebesbeziehungen von Max Frisch
illustriert: „Du sollst dir kein Bildnis machen.“
Oft entdeckt man Analogien und Kontraste von
Gedichten, die auf einander gegenüber-liegenden Seiten stehen. Dadurch gewinnt
die Lektüre des Buches etwas Stehendes: man betrachtet eine solche Doppelseite
wie die Muster zweier Schmetterlingsflügel; man sieht auf die kleinsten
Abweichungen. Ob das „rote Versprechen des Mohns‟ jedoch das „goldene
Ver-sprechen‟ eines Samens im Gedicht auf der gegenüberliegenden Seite
rechtfertigt? Vielleicht sollte man das Adjektiv „golden‟ im Sinne von
„erfüllend‟ den Gedichten der Vergangenheit hinterlassen.
An der Wäscheleineschaukeln sie kunterbuntbeim Anblick von Hügelwellenund wehenden GräsernMauersegler spinnengoldene Fäden über´s DachSchwalbengezwatzelWolkenreißverschluß undKrähenkontrabassder Apfelbaum blinzelt mirtschilpend zuInsektensäulen tragen Wolkenzwischen zwei Apfelbäumenlass deine Kindheit flatternso sprachen wir margeritischin der Häschengrubegeklaute KirschohrringeKirschkernaugen lügen nichtMutter trägt an ihrer SchürzeFlecken von Himbeergeleeder Klatschmohn im Gesprächmit den Kornblumenich blinzle durch die Ränderdes Alphabetsund staune über das roteVersprechen des Mohns