Véronique Dehimi: Leg dich zu den Wölfen
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Hans-Karl Fischer
Véronique Dehimi: Leg dich zu den Wölfen. Tagebuch einer Reise. Stockheim (Wiesenburg Verlag) 2022. 112 Seiten. 15,90 Euro.
LEUCHTE INS DUNKEL VON DIR
„Leg dich zu den Wölfen‟ heißt ein sehr beeindruckendes, aber auch schwer zu bewältigendes Buch von Véronique Dehimi, die bis zu diesem Prosawerk als Lyrikerin hervorgetreten ist. Es handelt sich um ein Zwischenwesen aus Reiseerzählung und Roman; nicht nur, weil die Erzählerin ihr ganzes Leben an sich vorüberziehen läßt und es dabei hinterfragt, ist das Buch gegen die bloße Beschreibung von Eindrücken gefeit, sondern auch, weil es bei diesem etwa zweiwöchigen Ausflug nach Sibirien um eine Fähigkeit geht, die die Icherzählerin schon vorher hatte. Sie badet bei einer Lufttemperatur von minus dreißig und einer Wassertemperatur von einem Grad eine gute Viertelstunde lang.
Haarscharf,
aber zu guter Letzt vollständig, gelingt es ihr, mit der Wahl des Reisezieles,
das mit Kälte, Einsamkeit oder Gefangenschaft verbunden wird, an der
Selbststilisierung vor-beizuschrammen. Das Zustandekommen dieser überaus
erstaun-lichen Abhärtung wird nicht erklärt oder im Rückgriff auf seine Genese
geschildert. Die Chance des Reiseberichtes, im Jetzt zu verharren, wird dadurch
genutzt. Andererseits bekommt das Buch, das von Begegnungen mit Menschen und
Wölfen kündet, etwas Esoterisches, Spirituelles: materialisierte Spiritualität
nennt die Autorin selber ihre Haltung, die in die Ver-fahrensweise übergeht: Der
vollen und schönen Sprache mit den oft kurzen Sätzen merkt man zwar die
Überarbeitung der ursprünglichen Notizen an; dennoch ergibt sich durch den
Willen zum Stil eine neue Authentizität. So wenn die Autorin in der Nacht auf
dem Eis liegend den Sternenhimmel betrachtet und feststellen muß, daß sie nicht
mehr als ein Sternbild kennt.

Trotz
aller Ichbezogenheit interessiert sich die Erzählerin für die wenigen Menschen,
denen sie in Zelten oder Hotels begegnet; schon deshalb, weil Menschen dort
ebenso dünn gesät sind wie in Europa die unbeschadeten Landschaften.
Kernstellen
des Textes sind ein halbes Dutzend Gedichte sowie drei Wolfsträume, in deren
einem der Vater den Wolf totschießt, den die Tochter als Haustier halten will,
worauf die Tochter dem Vater das Gewehr aus der Hand reißt und ihn tötet, indem
sie ihm ebenfalls zwischen die Augen schießt.
Das
Buch, das mit den Rollenklischees vom abgehärteten Mann und von verweichlichter
Frau aufräumt, ruft beim Leser eine Katharsis hervor: indem die Erzählerin ihre
eigenen dunklen Seiten aufdeckt, wird auch der ohnehin bereits in die exotische
Umgebung Hineingezogene mit dem konfrontiert, was er bislang vor sich selbst
verschwiegen hat. Jedem, der glaubt, er habe etwas vor sich selber zu verbergen,
dies aber in der nächster Zeit enthüllen will, sei dieses konzise Buch über das
Eis aufs Wärmste empfohlen.