Verica Tričković: um | schrift
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Stefan Heuer
Vom Herantasten, vom Sich-Annähern, vom Erfühlen –
der neue Gedichtband von Verica
Tričković
Wenn der Postmann zweimal klingelte, dann war dies in früheren Zeiten
nicht selten ein schlechtes Zeichen, bedeutete es doch zumeist Einschreiben vom
Arbeitsamt oder vom Vermieter. Heute aber verursacht mir dieses vertraute
Klingelzeichen keinen Magendruck mehr – ganz im Gegenteil. Mit Vermietern und
dem Arbeitsamt habe ich nichts mehr am Hut, und so bekomme ich heutzutage überwiegend
schöne Post. Und auch die Darreichungsform hat sich positiv verändert: Nachdem
ich mich bei meinem Briefträger über brutal in den Briefkasten gezwängte Bücher
und Zeitschriften beschwert habe, bringt er sie mir nun mit einem Lächeln und
Zigarette im Mundwinkel an die Haustür.
Eine besonders erfreuliche Sendung erhielt ich Ende Oktober. Der in
Frankfurt am Main beheimatete und inzwischen auch schon 20 Jahre bestehende
gutleut verlag, dessen pünktlich zur Frankfurter Buchmesse vorgelegtes Herbstprogramm
2022 sich ganz auf die Lyrik konzentriert und aus nicht weniger als 5 neuen Gedichtbänden
besteht, schickte mir "um | schrift" von Verica Tričković, erschienen als Band 21 in der Reihe staben. Nur zwei
Tage später erhielt ich mit "sirenenecho" von Dirk Uwe Hansen,
welches als Band 10 der Reihe licht erschienen ist, eine weitere gutleut-Novität.
Die anfängliche Idee, beide Bücher in einer
Doppelrezension vorzustellen, habe ich schnell wieder verworfen – beide Bände
haben es mehr als verdient, dass man ihnen die volle Aufmerksamkeit widmet.
Ladies first, und deshalb hier und heute zu "um | schrift",
dem neuen und bereits fünften Gedichtband der aus Mazedonien stammenden Autorin Verica Tričković. Nachdem ihre ersten beiden
Bände zu Beginn des Jahrtausends in serbischer Sprache erschienen, folgten 2007
und 2011 mit "Als rettete mich das Wort" und "Im Steinwald" 2 zweisprachige Bände (serbisch-deutsch) im
Leipziger Literaturverlag. Und nun also der erste ausschließlich in deutscher
Sprache verfasste und publizierte Gedichtband.
Der erste Eindruck, der schnell zur
Gewissheit wird: Die Gedichte von Verica Tričković, die auch als Übersetzerin und
Herausgeberin tätig ist, sind keine grell daherkommenden Hoppla-hier-komm-Ichs,
sondern ein Herantasten, in einigen Fällen ein Heranschleichen an das einzelne
Wort. Dabei ist es keineswegs ein aus einer Unsicherheit resultierendes Heran-tasten,
vielmehr fühlt es sich so an, als wolle sie sich der Sprache würdig erweisen. Eine
fein ziselierte Grabung in der eigenen Vergangenheit, die merklich bis in die Gegenwart
reicht, erklärbar aus ihrer Biografie, die sie 1999 nach kriegs-bedingter Flucht
dazu zwang, sich ein neues Leben in einem fremden Land und mit neuer Sprache zu
erschließen – der Buchtitel von 2007, "Als rettete mich das Wort",
mag da viel Wahrheit enthalten.
Wie jedes verängstigte Tier -
…
Ist jetzt Zeit zurückzukehren?Habe ich mäßigen Abstand gewonnen?Hat es lange genug abgehangen?Gibt es ein Lange genug für alle Dinge?Wonach richtet sich ein Kalender?
Sieben Kapitel mit, vom
Erscheinungsbild her, recht unterschiedlichen Gedichten, aber in jedem
einzelnen von ihnen präsent: Heimat, Verlust und Abschied, der Krieg und die Familie,
die Begrifflichkeit und das Gefühl der Freiheit.
Eine
bedrohliche Symbolik zieht sich durch das Buch, allen voran in Gestalt
unter-schiedlichster Vögel; Krähen und Elstern, Meisen, Schwalben … Was auf den
ersten Blick noch zu positiven Assoziationen wie Leichtigkeit und eben Freiheit
führen mag, entpuppt sich bei genauerer Überlegung als durchaus zweischneidig
und gar nicht mehr so wünschenswert. So gilt die Schwalbe als – neben dem Storch
wohl bekanntesten – Zugvogel in den meisten Regionen Deutschlands bei der frühjährlichen
Rückkehr aus ihrem Winterquartier zwar traditionell als Glücksbotin, aber unterwirft
sie sich nicht nur einer Mühsal, die jedes Jahr Hunderttausenden ihrer Artgenossen
das Leben kostet? Im Süden gefangen und gegessen, im Norden aufgrund ihres Nestbaues
und den damit einhergehenden Verschmutzungen an Hauswänden gefürchtet, führt
sie ein Leben ohne wahres Zuhause. Und auch die Meisen nehmen in diesem Buch
kein gutes Ende, verirren sich im Haus, prallen gegen Fensterscheiben.
Am eindringlichsten das Kapitel "heimschreiberinnen", und in ihm die Abteilung "fremden
| frauen | buch", in dem sich
Verica Tričković
mit der vielfach empfundenen Verunsicherung und Ohnmacht emigrierter Frauen und
deren Behandlung im Alltag auseinandersetzt:
scheinehe
• klara
sie
kam immer wieder mit einem neuen namen
und
jedes mal mit einem ehering am anderen finger
um
die nächste ehe vorzutäuschen
im
schlafzimmer hat sie
beischlafgeruch
vorgetäuscht
und
für das bad mit zwei zahnbürsten
hat
sie den preis einwandfrei angenommen
oder:
vollmacht • lila
ich bevollmächtige die bäume für mich zu sprechen
welche von euch war einmal zwischen gehen und bleiben
wie bringt sich ein kreislauf aus dem gleichgewicht
wurde mehr gefällt als wieder nachwächst
lässt sich das erinnern der hölzer revidieren
Verica Tričković
operiert mit sehr lyrischem Besteck. Dass sie auch anders kann, lässt sie an einigen
Stellen anklingen, beispielsweise unter "munddichte", welche
ja dafür bekannt ist, durch-aus auch mal schroffer daherzukommen:
munddichte |
2
erst wenn das ei
an das arschloch
anklopft
wird das nest gemacht
Ein ergreifender, bewegender, anregender Gedichtband.
Und auch das äußere Erscheinungsbild darf auf keinen Fall unerwähnt
bleiben, trägt es doch in nicht geringem Maße zum Genuss bei. Eine wunderbare, von
allen Seiten bedruckte Klappbro-schur aus griffigem Karton, auf der über die
bisherigen Titel der Reihe informiert wird. Schwarze Kapiteltrennungen und
Vorblätter mit von weiß-grauer Typografie beherrschten Grafiken, per-spektivisch
verblassend, in Größe und Überlappung changierend. Ganz feiner Stoff!