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Verena Stauffer: Kiki Beach. Liebesgedichte

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Jürgen Brôcan

Verena Stauffer: Kiki Beach. Liebesgedichte. Berlin (Kookbooks) 2025. 72 S., 24,00 Euro.

Der Trick ist, die Energie der Spaltfragmente zu nutzen


Selten einmal führen Cover und Buchgestaltung dermaßen in die Irre wie bei Verena Stauffers Gedichtband, der den verdächtig harmlosen Titel »Kiki Beach« trägt und sich dann auch noch unverhohlen als »Liebesgedichte« outet – mit einem Umschlag- und Vorsatzpapier in kitschigem Rosa, auf dem stilisierte blaue Palmen prangen. Man kann allerdings ahnen: Dies ist natürlich kein Wohlfühlangebot, sondern ein Weckruf zur Aufmerksamkeit, ein lauthalses »Vorhang auf!« zu einem Poesiebreitbandfilm von allerfeinster Finesse. Denn wer das bisherige Gedicht- und Prosawerk der Autorin kennt, der weiß, daß sich sofort dahinter eine Wunderkammer von Mehrfachbedeutungen öffnet.

Allein schon der Gattungsausweis »Liebesgedicht« zeigt den Mut zur Widerborstigkeit. So einfach ist diese Bezeichnung nämlich nicht, denn ihre vielleicht häufigste Ausprägung findet sie zwar in der Anrufung eines geliebten Menschen, erotisch aufgeladen in den französischen Blasons, spielerisch werbend in den Minneliedern des Mittelalters, fast genauso oft aber behandeln Liebesgedichte die Gefühle der Sprechenden, ihre Freuden, Ängste, Verluste, ihre Sehnsüchte und Demütigungen, ihr Scheitern. Doch wie nun über Liebe schreiben in einem Jahrhundert, das stärkerer, vermeintlich ›romantischer‹ Empfindungen – zumindest in der Literatur – nicht ferner sein könnte und die Metapher des Herzens als zu verräterisch für den allzeit souveränen, unberührten Geist abgeschafft hat? Deshalb heißt es auch »Aufgepaßt!«, denn dieses Buch ist zugleich eine Bühne und eine Reihe von Screenshots aus einem Film, inclusive des Vor- und Abspanns.

Und dort, im Vorspann, wird »die Leserschaft« aufgerufen: »Open your Eyes and Jaws | To Dream«. Das Irrealis, der utopische Impetus der Dichtung übernimmt, und das bedeutet, im Buch und durch das Buch werden sich gleich wundersame Dinge ereignen. Das Motiv der Liebe stellt sich in dieser konzeptuellen Lyrik nämlich dermaßen komplex dar, daß nur die Summe der Aspekte sie einfangen kann. Formal betrachtet verbinden sich die deutsche und die englische Sprache miteinander, verbinden sich Zitate und deren Nachahmung zu einem Konglomerat, bei welchem sich die einzelnen Bestandteile leicht wieder trennen lassen, ja zu einer flüchtigen Verbindung, die weniger der Notwendigkeit als dem Lustprinzip entsprungen zu sein scheint. Und formal betrachtet erinnern viele Gedichte dieses Bands zudem an einen Wechselgesang – allerdings ist es durchaus denkbar, daß die Sprecherinstanz hier auch in einen Dialog mit sich selbst tritt.
Verena Stauffer präsentiert eine wilde Collage aus Virtualitäten, Anspielungen, Ausprägungen, Metamorphosen der Liebe ebenso wie ihrer Darstellung in den Künsten. Bemerkenswert, weil konstitutiv, sind die verschiedenen Arten der Überblendung: Mythologie und Gegenwart werden zu einer höchst präsenten Form des Erlebens. Aus einer kurzen Bemerkung des Geschichtsschreibers Herodot entwickelte sich im Laufe der Epochen eine Liebesgeschichte, die von Xerxes Vernarrtheit in eine Platane erzählt, berühmt geworden durch eine Oper von Georg Friedrich Händel. Die Lustbarkeit einer Kiki Beach verwandelt sich in den galaktischen Überfluß einer Kinky Bitch. Der »Garden of Orchids«, der Orchideengarten, wird in der lesenden Phantasie – insbesondere bei Kenntnis von Stauffers Romanwerk – schnell zu einem ›Garden of Orchis‹, einem Hodenhortus. Beinahe omnipräsent diese Übertragungen, Erzeugungen: der Sprung von goat, der Ziege, zu GOAT, dem Ausruf der begehrlichen Bewunderung. Wie das Annähern und Entfernen der Emotionen geschieht der Positions-wechsel der Sprache selbst, der Sprung von einer Sprachebene zur anderen. Hymnischer Ton und Schnulze stehen hier dicht nebeneinander, in unvermuteter gegenseitiger Akzeptanz.

Die Ziege wendet sich am Screen mir zu, oh
1 neue Nachricht von ihr, wie cool, Bro
Sie sagt: Glaub an dein inneres Licht, yo
Glaub an den Lauf der Geschicke, glaub an die Brücke

Was also ist die Liebe? Zwischen Künstlichkeit und Kitsch, medialer Vermittlung und sozialer Erwartung existiert – von all dem in größerem oder kleinerem Maße beeinflußt – die echte Empfindung, das wahre Erleben. Aber womöglich erst nach der Lektüre? »Wir sind im Bild Teil der Natur geworden. Teil von Leben, Sterben und Unendlichkeit.« Oder ist die Liebe in der Kunst womöglich sogar die intensivere? Denn ihre Schattenseite ist zweifellos der Abschied, die Enttäuschung: »Der Schatten ist wichtig, man braucht ihn zur Erholung, man braucht ihn fürs Licht.« Auffällig ist die Einbettung der literarischen Liebesmotive in die Bildlichkeit der Natur. Doch wiederum: »wo ist das Naturgedicht?« Die Antwort: »Ein Naturgedicht ist der Rost am kleinen Gartentor«. Das Naturgedicht ist nicht wie der Rost, es ist der Rost. Was also wäre demnach das Liebesgedicht?

Vielleicht eine Abfolge von Tricks, Träumereien, Wunschbildern, »ein Zusammenspiel | Aus dem ein neues Land entsteht aus | Virtualität und Realität – beides ist echt«. Ein Verwirrspiel, bei dem »Teleny« (ein Charakter aus einem erotischen Roman, den man Oscar Wilde zugeschrieben hat) eben keine Erklärung liefern kann, weil man seinen wirklichen Namen wohl tatsächlich niemals erfährt, höchstens metaphorisch als »Mount Teleny«, das »Geschenk der Erde, im Schatten des Einsamen«, aufwärts, »hoch hinauf, tief hinein | In gesperrte Gebiete, aufgelassene Stollen | Der Trick ist, alte geheime Fährten aufzuspüren«. Der wirkliche Name verschwindet völlig in diesem Spiel der Masken und Verwandlungen, und es spielt auch keine Rolle, denn eine große Ähnlichkeit verbindet alles, so Teleny mit dem König von Persien, Xerxes, der Vulkanausbruch in Pompeji mit den in Wüsten gezündeten Bomben, gegen die man ein Liebesgedicht an die Erde und die Ewigkeit ertönen lassen muß. Die Liebe ist am Ende wohl das, was wir aus ihr machen, in der Realität wie in der Kunst, solange es denn möglich ist. Und zur Liebe gehört auch, sie immer wieder infrage zu stellen durch eine unabreißliche Abfolge von Fragen, von denen sich einige beantworten lassen, andere dagegen vorerst nicht:

Kann eine Welt aufgehen, die wie aus einem Nebel
Neu erschaffen wird, in der andere, fremde Räume
In neuen Linien gezeichnet, in welchen Erinnerungen
An Vergangenes und altes Vermächtnis nur Phrasen sind
In der das Neue wirklich geboren wird und reich an Fantasie?

Verena Stauffers Gedichtband ist nicht nur eine Frischzellenkur für das alte und fälschlicherweise überkommen geglaubte Genre des Liebesgedichts, sondern auch ein Paradebeispiel dafür, daß Konzeptbücher keine Kopfgeburten sind, vielmehr aus höchst aktiven Silben bestehen. Der Trick ist, die Wörter so aufzuspalten, so daß sie weitere Energien freisetzen, um noch mehr Zitate und Anspielungen ins hochenergetische Feld zu versetzen – das Gedicht.


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