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Verena Stauffer: In Sternen tanzen

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau
Verena Stauffer
In Sternen tanzen

über
FLÜCHTIGE MONDE von Yevgeniy Breyger


(...)
es regnet ständig meteore (all sei dank). und wenn
ein fänger nun partout nicht fangen will, erlebt er alles doppelt
schnell, das heißt den flug des balls und die erinnerung daran.


Breyger zu lesen bedeutet vor allem, jene Frage danach, ob wir nun in mehr als einer Welt leben, fünfdimensional beantwortet zu bekommen. Das bedeutet für mich nicht nur Berührung, soll heißen auf mannigfachen Ebenen angesprochen zu werden, sondern auch und vor allem, dass alles offen bleibt, zum Weiterdenken, zur Interpretation, dass alles Anstoß ist und diese Offenheit, diese Anstöße nicht nur in Erdnähe sondern auch ins All hinaus wirken.

Für jene, die geneigt sind diese Texte tatsächlich zu lesen, sollte es zu allererst darum gehen danach zu fragen, worüber Breyger mit seinen Lesern ins Gespräch kommen möchte und das möchte er mit seinen Gedichten. Welche Themen wirft er auf, welche Bereiche legt er auf den Tisch?

Flüchtige Monde ist ein verletzliches Werk, welches erst durch wiederholtes Lesen erarbeitet werden will, erst durch Überdenken einzelner Gedichte, Verse, Worte und durch das Verstehen der Fäden, die unter den jeweiligen Gedichten / Zyklen zarte Verbindungen ziehen, sie ineinander verweben, von mir auf poetologischer, theoretischer, aber auch auf Gefühlsebene verstanden werden möchte. Es ist ein vielschichtiges Werk voller Doppelbödigkeit, sprachlicher Verschiebungen, Verspieltheit, genialer Reime, Drehungen, überraschender Wendungen, tieftraurigem Humor, aber auch und vor allem ein die Tradition der alten Formen und Metrik aufnehmendes. Ein spielerischer Umgang mit dieser Tradition, ermöglicht sich einem Dichter erst, wenn er sie beherrscht.

Was mir auffiel, ist die Verwendung des unendlich Großen und des unendlich Kleinen, meist in Kombination mit menschlichem Geist und Natur. Auf dieses Phänomen stieß ich bei der Lektüre Walter Benjamins „Gespräch über den Corso“, in dem ein Bildhauer die Gabe aufweist, in riesigen Felsbrocken Gesichter und Gestalten zu erkennen. Dazu fand ich bei Brüggemann den Begriff der Aleamorphe, also Objekte, bei denen die Grenzlinien zwischen natürlichen und artifiziellen Formen verschwinden. Aleamorphe sind Projekte eines Zusammenspiels zwischen Natur und Künstler, sie entstehen durch das „Hineinsehen“ und durch das „Herausbringen“. Durch das Hineinsehen in die Natur, bei Breyger nicht nur in die Natur, sondern in unsere Lebenswelten, Wirklichkeiten. Dabei entsteht bei ihm oft maßlose Übertreibung und diese kann abweisend wirken, auf manche Menschen vielleicht sogar abstoßend, weil die Übertreibung in ihrer Größe nicht aufgefasst, aufgenommen werden kann. Sie bleibt beim ersten Hinblicken oft unverstanden und wird als solche nicht erkannt. 1


Beispiel 1, S.22
(...)
treibjagd. grinsende babys, bereitschaft.
feuerwehrwagen verfolgt von nem t-rex.
niemand über 1,40, besprechen geheimplan.
einhorn. harter exzess. zentrifugalkraft.
(...)

Beispiel 2, S. 80:
(...)
mein körper will als motor gelten. das glück
will nicht gespeist werden, will selbst speisen.
die tugend nachts zu schlafen, überlass ich lieber andren.
die olle nacht ist sich selbst überlassen,
kommt trotzdem vom kosmos nicht los.
wie ich mich zum kosmos verhalte? wie eine mücke
(...)

Breyger beherrscht die surrealistische Kombinatorik, er springt in Beziehungen hin und her, montiert, sammelt, verschiebt, als würde ein Kind über eine Blumenwiese laufen und in jedem Halm etwas anderes erkennen. Erfahrungen, kindliche Erinnerungen, Kerne, Planeten, Zucker, Monster, Dünen, Rheuma, Anfänge, Ende, Wölfe, Wolken, Regen, Bälle, Maschinen, Trägheiten, Zentrifugalkräfte, Objektivierbarkeiten, Triebe, Akustiken, Räume ... Er ist ein Dichter, in dem ein unendliches Kind sich erinnert und der uns unsere Wirklichkeit zeigt, uns sagt: Ihr versteht doch selbst nicht mehr, was hier passiert.

Breyger arbeitet mit der Aleatorik und Kombinatorik seiner Phantasietätigkeit, aber auch mit dem Gegenteil. Sein dichterischer Zufall scheint oft exakt geplant.

Nicht nur in „sich auf der flucht umdrehen“ bewegt sich Breyger in politischer Abstraktion, hier aber sehr eindeutig. Fünf frierende Freunde sitzen in einem Raum und unterhalten sich über soziale Felder, Getreidesorten, flüchtende Fliegen, aversive Bienenstöcke, Honig, Marx ... Sie schaffen sich als Basis abstrakte Modelle, die als Diskussionsgrundlage dienen, vorwiegend handelt es sich um Tiermodelle. Es sind Menschen, deren völlige Vergeistigung sie in die Lage versetzt, in absoluter Abstraktion Themen wie Krieg, Grund und Boden, Flucht, Gesellschaft und ihre eigene Sexualität abzuhandeln. Dieses dramatische Fragment stellt einen weiteren Kraftpol im Buch dar.

Die Vieldeutigkeit zeigt sich nicht nur hier, sondern im gesamten Buch als eine notwendige Bestimmung seiner Arbeit. Niemand errät die Herkunftshorizonte seiner Kontextualisierungen. Gerade die Gegenläufigkeit, gerade die Widersprüche in diesem Werk eröffnen eine Sprache, die sich jeder Verweisungsfunktion entgegenstellt, Metaphern lösen sich gegenseitig auf. Die Vieldeutigkeit kann jedoch auch eine atomisierende Wirkung in sich tragen, dies birgt eine Gefahr. 2

Die Frage ist, ob die Unwahrscheinlichkeit in Breygers Gedichten eine Wahrscheinlichkeit in sich trägt.

FLÜCHTIGE MONDE ist ein strahlendes Buch der Sprache, das philosophische, psychologische und geschichtliche Elemente beinhaltet. Es steht fest auf einem theoretischen Fundament, jenem eines Dichters, der ein Meister der Verbindung unterschiedlicher Wissensgebiete ist. Breyger schafft es, unsere Lebensrealität auf ihre ursprünglichen Möglichkeiten zurückzuführen und gleichzeitig weite, unvorhergesehene Verstehenshorizonte zu öffnen. Die Erwartungshorizonte an Dichtung werden vielfach gesprengt, so dass Breyger manchmal unverstanden zurückbleiben muss, was einem Dichter nicht zu wünschen ist, womit er aber rechnen muss, wenn er begangene Wege neu beschreitet und neue Wege, als wären sie die alten.

Breygers Ebbe ist die Realität, seine Flut die Simulation und überraschende Kontextualisierung dieser beiden. Der Autor schreibt aus der Perspektive des Mondes, der das Meer seiner Worte vor sich hertreibt, wie es ihm in den Sinn kommt, damit jedoch Sinn auf mehreren Ebenen zur gleichen Zeit trifft. Breyger schreibt nicht über den Mond, sondern aus dem Mond heraus.

Seine Texte handeln von Verbindungen, Verletzungen, vom Fallen, Stürzen, aber vor allem auch vom Wiederaufstehen und einem lyrischen „Du“, dem er fragend, nach Erklärung und Verstehen suchend, zuspricht.

(...). meine freunde?
ich gehe ihnen als romantisches beispiel voran,
habe gelernt, die blütenblätter zu schützen,
niemandem böse zu sein, lese heine.
(...)

Hier spricht ein lyrisches Ich einem lyrischen Du zu und im Leser geht sowohl das eine, als auch das andere auf, er identifiziert sich gleichsam mit dem Sprechenden und dem Angesprochenen. Sein Inhalt entsteht nicht durch den Reim oder durch die Form. Inhalt, Form und Reim gehen immer wieder neue Verbindungen ein, sein System bleibt flexibel, dadurch absichtslos und formiert sich so an bestimmten Punkten zu etwas, das ich als Evidenz bezeichnen möchte.

Mit Breyger hebt man ab, durch Beobachten des Unsichtbaren, des nicht Beobachtbaren und durch Schreibungen, ich sage bewusst nicht Be-schreibungen, weil es sich nicht um ein Beschreiben handelt, auch nicht um ein Abschreiben alltäglicher Begebenheiten. Breyger reißt das Alltägliche aus den Verankerungen unserer Gegenwart, spielt damit und führt es in einen Tanz der Bedeutungen.

Es wäre zuallererst festzumachen, worum es in seinen Werken geht, wenn nicht um den Mond als Mond. Es geht um das Fest und das Geheimnis der Sprache in der Anwendung der Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten, die Breyger immer noch weiter ausschöpft, als man es für möglich gehalten hätte. Sein sprachliches Assoziationsmeer versiegt nicht. Es ist kein Betreten von Oberflächen welcher Monde auch immer, es ist ein Eintauchen in diese, welches einen sich ins Bewusstsein einbrennenden Blick aus ihnen heraus ermöglicht. Ich halte fest: Breyger verwendet, als erster seiner Zeit, die Mondperspektive.

(...)
ich will ein tretschwan sein, um zumindest einen see zu kennen.
früher dachte ich, die stärke der planeten triebe mich voran.
sie war ein müdes kreisen.
die planeten schoben sich ineinander,
einsamkeit kam auf, zog vorbei.

Hier drängt sich mir ein Vergleich mit einem anderen Dichter auf:

(...)
Wie aber Liebes? Sonnenschein
Am Boden sehen wir und trockenen Staub
Und tief mit Schatten die Wälder und es blühet
An Dächern der Rauch, bei alter Krone
(...)

Hölderlins Mnemosyne in zweiter Fassung. Hölderlin schreibt sie aus der Gottesperspektive. Ein weiterer Vergleich:

Hölderlin, Mnemosyne:

Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Wenn nämlich über Menschen
Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig
Die Monde gehn, so redet
Das Meer auch und Ströme müssen
Den Pfad sich suchen. Zweifellos
Ist aber Einer. Der
Kann täglich es ändern. Kaum bedarf er
Gesetz. Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben
Den Firnen. Denn nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen
Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo,
Mit diesen. Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.

Breyger, S. 79:
(...)
wir wandern, wir wandern im frühling.
wir wandern, wir waschen einander die wäsche.
doch obacht! heb die luchse nicht auf ein podest,
sie sind katzen, wie wölfe hunde sind und spatzen
fliegende steine. so wirf sie.
ich will mit dir alt sein, dein süßer geruch beschämt mich nicht länger.
zusammen sind wir die vorhut der weltlichen düfte.
wo bist du?
hier fallen raupenmumien von ästen,
die kiefern winken gelassen zurück,
von dir keine spur. wir wandern. keine spur.
wandern. keine spur. wandern. keine spur.

Hier ist innezuhalten. Berührung. Zum tausendsten Mal. Wozu also noch eine Rezension? Alles ist gesagt, alles liegt offen da, schreibt der Autor selbst über seine Texte auf der Literaturplattform fixpoetry.

Breygers Sprache ist von Zärtlichkeit geprägt, sie ist auch zärtlich gegenüber furchterregenden Inhalten. Die für mich zärtlichste Stelle, die ich als einen Schatz erachte und echte Schätze haben es an sich, dass sie einem nur gehören, wenn man sie selbst hebt, erwähne ich hier nicht. Ein kleiner Hinweis darf sein: Oft sind Schätze im Sand vergraben.

Quellen:
1 vgl. Heinz Brüggemann: Walter Benjamin. Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, S. 118 ff.
2 vgl. Hans Blumenberg: Die Wirklichkeiten in denen wir leben. Reclam Universalbibliothek, Stuttgart 1981, S. 137ff.



Yevgeniy Breyger: flüchtige monde. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2016. 96 S. 19,90 Euro.
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