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Uwe Wittstock: Marseille 1940

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Horst Samson

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. München (C. H. Beck) 2024. 351 Seiten. 26,00 Euro.

Im Wirrwarr einer tödlichen Zeit
 
Schriftsteller auf der Flucht vor den Nazis -
Die Drehscheibe "Marseille 1940" von Uwe Wittstock


Das Buch "Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur" von Uwe Wittstock war noch nicht einmal richtig auf dem Markt, schon rauschte im Unisono der sich übertrumpfenden Rezensionen - mit ganz wenigen kritischen Ausnahmen - ein uneingeschränktes Lob durch den deutschen Blätterwald, das reißerisch veranlagte Voyeure der Literaturkritik anscheinend dringend befriedigte, aber an den Kriterien eines exzellenten Buches zum dramatischen, wie auch tragischen Exil deutscher Schriftsteller vor der Verfolgung durch Hitlers mörderische "Putztruppen" vorbeiflatterte, oft oberflächlich und frontal auf Unterhaltung und Spannung getrimmt. Doch es liest sich flüssig, was so fließend und ineinandergreifend gar nicht geschah!
          Was daran besonders stört, vor allem im Fall des nachverfolgten verlorengegangenen und - wie durch ein Wunder in dem Kompilierer Wittstock stilsicher hochgejazzten Wirrwarr der Zeit dann doch wiedergefundenen Regiments an Koffern der schillernden dirigistisch veranlagten und mit Selbstbewusstsein geimpften Alma Mahler-Werfel und ihres stillen, devoten Schriftstellergatten Franz Werfel.
Im wittstock'schen konstruierten Hin- und Her der Personen in der vorgegebenen Kulisse von 1940 fällt freilich viel über die Hintergründe des Exils, die literarische Arbeit, die Gedanken, Briefe und Gespräche sowie persönliche Betrof-fenheiten Zeugnis gebenden Fakten notgedrungen unter den Tisch des breit aufgezogenen Panoramas, zugunsten der detailbesessenen Beschreibung etwa zur Beschaffung der Papiere, die da wären Visa, Ausweise, Fahrscheine, Erlaub-nisse etc.!
       Dabei führt der gesamte, immer wieder ablenkende, sich oftmals ins unerhebliche Detail verlierende Erzählstrang um den fraglos verdienstvollen „Schleuser“ Varian Fry zu einer völligen Überlänge, die das Buch nur oberflächlich bereichert, aber um rund 100 Seiten an Beliebigkeiten und vorstellbaren Hürden verlängert, zudem dann literarisch Wissenswertes nicht zu beschreiben ist.
Während Wittstock Zeit und Seiten verliert, um Personen in den Vordergrund seiner Kompilation zu schreiben, mitunter leider Personen, die mit Literatur nichts oder nicht besonders viel am Hut haben, verliert er namhaftere Personen, wie Hannah Arendt, Walter Benjamin oder Bert Brecht öfters aus den Augen, wenn es um deren konkreten Alltag und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Hürden geht.
           Wittstock greift sich aus einer Fülle von Daten aus Büchern der Emigranten "beliebige" Sequenzen heraus, was in seiner, auf das von ihm flüssig beherrschte flockig-lockere, aber auch spannend geschriebene Erzählerische getrimmten Welt zu passen scheint beziehungsweise bereits in anderen Büchern steht. Das Verzeichnis der angeblich von Uwe Wittstock „Benutzten Literatur“ erstreckt sich am Ende des Buches in Kleinschrift über fünfeinhalb Buchseiten und umfasst erstaunliche 130 konsultierte Bücher und Schriften. Allein schon die Aufgabe des bloß losen Durchblätterns erzeugt Bauchschmerzen.
              Da wundert es nicht, dass er beim Schreiben den einen oder die andere aus dem Blickfeld verliert. Alfred Kantorovicz - um ein konkretes Beispiel zu nennen - taucht auf und fällt alsbald durchs Raster der Erzählung. Der Individualist geht auf halber Strecke verloren, da er auch nicht "zum Haufen passt“, wie Kantorovicz selber schreibt. Ist er dem Erzähler unsympathisch oder steht er ihm im Wege, man weiß es nicht, obwohl Wittstock es keineswegs versäumt hat, aus dessen Buch "Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten" jede Menge wertvoller Details zu extrahieren, beispielsweise über das insassenfreundliche, relativ offen geführte Lager "Les Milles" - eine Ziegelei "etwa 80 bis 90 km von Marseille entfernt", wo es weder Zwangsarbeit, noch Gefängniszellen gab und sich die "Gefangenen" relativ frei bewegen konnten, was Kantorovicz in seinem, auch im Anhang zitierten Buch „Exil in Frankreich“ sehr bildhaft, detailfreudig und ausführlich beschreibt.
               Das Leben in dem kleinen Fischerdorf Sanary-sur-Mer, der bedeutenden literarische Kolonie von 68 deutschen und österreichischen Schriftstellern und Künstlern, die nach 1933 dort Zuflucht vor Hitlers Schergen suchten und im sogenannten „deutschen Dorf“ Zuflucht fanden - so bezeichnete der Inhaber eines kleinen Geschäftes am Hafen mir gegenüber jene „Siedlung“ oberhalb des heutigen Kreuzweges gelegen (Anm. HS). Dort wohnten ganz großzügig vor allem Lion Feuchtwanger in einer stattlichen Villa mit Endlosblick aufs Meer, aber auch Thomas Mann auf der Straßenseite gegenüber, und etwas entfernter Franz Werfel auf dem Steilhang über dem Hafen. Der Fischerort geht – bevor überhaupt Fetzen davon auftauchen - in Wittstocks Buch zwischen den Seiten 56 und 59 unter den Röcken der Alma Mahler-Werfel verloren, flackert ab und zu noch in Zusammenhang mit Feuchtwanger kurz als Namen auf – im Unterschied zu anderen Ortschaften – bleibt Sanary-sur-Mer konturlos, obwohl in den Hafenkaschemmen kein Geringerer als Bert Brecht seine gegen Hitler gerichteten Balladen sang. Dafür kümmert sich Wittstock ausführlicher um Personen wie Miriam Davenport oder Mary Jayne Gold, lässt allerdings immer wieder Anna Seghers von seinem Radarschirm verschwinden.
               Auch die von Baumeister Wittstock über das große Wasser, nach New York geführte Brücke, suggeriert Weltläufigkeit, ist jedoch in ihrer Länge über die von NY aus geleistete Organisation von Hilfe für die Exilanten in Marseille überdimensioniert, gemessen an den erzählwürdigen Strapazen, Gefahren und tödlichen Brüchen, der nach Marseille drängenden oder sich dort bereits befindlichen, oft observierten und drangsalierten Schriftstellern, fast alles Juden, deren höchste Lebensziele dort auf den Besitz einer Schiffskarte zusammen schrumpften, und von denen viele diesen Moment nicht erlebten, weil sie an den Verhältnissen zerbrachen und an dem Druck der Hitlerschergen zugrunde gingen, oder weil das gerade erfolgreich aus dem Hafen von Marseille ausgelaufene Schiff im offenen Meer torpediert wurde und Überlebende davon nicht berichten konnten.
           Die Würdigung des verdienten wie mutigen, bewunderungswerten, auch findigen, aber gefährdeten Amerikaners Varian Fry, für den kein Einsatz zur Rettung eines Schriftstellers oder Künstlers aus Marseille zu hoch war, gerät dennoch zu breit, auch die immer wiederkehrende Beschreibung der Truppenbewegungen im Hintergrund erzeugt zwar dramatische Dringlichkeiten im Vordergrund der Handlung, bläht das Buch jedoch unnötig und ermüdend auf.
        „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“, dieses fälschlich Karl Valentin zugeschriebene Zitat, trifft auf Uwe Wittstock und sein Buch gewiss in lobender Absicht zu. Ja, es ist wahr, - und das muss man Wittstock lassen - er hat für sein dokumentarisch fundiertes Kompilationswerk fleißig nachgelesen, geblättert und akribisch aus Tagebüchern, Notizen und Memoiren "abgeschrieben", um sein Biographien-Mosaik authentisch zusammen zu setzen und weitgehend als Unterhaltungs- und Wecklektüre über eine mörderische Zeit glaubhaft zu erstellen und zu beleben.
                "Marseille 1940" ist das durchaus vertretbare Beschreibprinzip, von einer höheren Warte aus die Zeitläufte und biographischen Parallelbahnen quasi filmisch neu zu ordnen, zusammenzufügen oder zu trennen, ganz nach dem Drehbuch eines Regisseurs betrachtet, der aus einer überwältigenden Fülle des Materials auswählen muss und de facto notgedrungen ein so angelegtes Buch komponiert mit Fundstücken von da und dort, was manchmal - trotz des herausgefischten Wissenswerten, wie etwa zum proklamierten "Judenstatut" des französischen Regierungsmarschalls Pétain (Vichy , 3. Oktober 1940) leicht verärgert, wenn Wittstock höchst oberflächlich Hans Sahl kurz trifft, und ihn - aus meiner und Wittstocks jetziger Sicht despektierlich als Song- und Sketche-Schreiber für Erika Manns Kabarett "Pfeffermühle" am Wegrand des Buches stehen lässt, zusammen mit seiner ungewöhnlichen, höchst einprägsamen Haltung eines im Exil noch Exilierten, von Seghers und Brecht und anderen sowjetisch Orientierten tatsächlich Gemiedenen, weil Hans Sahl, der bedeutsame Dichter, Autor von Büchern wie "Memoiren eines Moralisten" und "Das Exil im Exil" sich nicht scheut, als Aufrechter Stalins Verbrechen ebenso wie Hitlers Verbrechen öffentlich zu verurteilen. Das schafft unter manchen Exilierten böses Blut - und hier öffnet sich gewiss eine traurige Pointe – denn eine solche, von Gerechtigkeit geprägte Haltung könnte dem Hans Sahl im Heute und Hier erneut Probleme bereiten.
            Trotz der hier kritischen Anmerkungen teile ich die Freude und Neugier vieler Leser am Thema Literatur und Exil, die dazu geführt haben, dass dieses 2024 im C.H.Beck Verlag erschienene, lesenswerte und mitreißende Buch von Uwe Wittstock - ebenso wie bereits sein vorheriges, ähnlich konzipiertes Fabrikat "Februar 33" ebenfalls auf die Bestsellerliste gelangt ist. Und das keineswegs unverdient!


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