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Uwe Kolbe: Dämon und Muse

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Kristian Kühn

Konsequente Verschreibung
Uwe Kolbes am 7. Februar 2017 im Lyrik Kabinett gehaltene Münchner Rede zur Poesie


Stilsicher und vielschichtig, die ganze Rhetorik: Kolbe eröffnet sein Thema mit einer kaum beachteten Attacke gegen den Lyrikbetrieb, welchen er „Jahrmarkt der Innovationen“ nennt. Und, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, trennt er die „Hersteller von deutsch-sprachigen Gebilden, welche en gros und en détail üblicherweise Gedichte genannt und in vielen recht ansehnlichen Büchern verbreitet werden“ von jenen Poeten, die zum Wesensgrund ihres Schreibens gelangen.


Ausgehend von Paul Valerys „Notwendigkeit der Dichtkunst“ aus dem Jahre 1937 unterscheidet Kolbe diese Wenigen von den vielen Bürgerlichen, die auch ohne Poesie auskommen könnten. Damit setzt er Selbstfindung der Poesie gleich. Den Vertretern einer nicht-dionysischen, einer nicht dem Wahnsinn verfallenen Dichtkunst, und seien sie noch so gebildet und/oder hätten sie noch so „feinen Geschmack“ (Valery), werde nämlich Poesie oder Kunst zu keinem „Wesensbedürfnis“. Sie gäben ihr bürgerliches Ordnungsdenken (ihren Halt) nicht auf, wollten ihr Leben nicht aufs Spiel setzen, im Notfall entbehrten sie Poesie lieber, statt in ihr aufzugehen.

„Globalisierte Information“ könnte man mit Kolbe diese heutige Art lyrischer Arbeit nennen, von der schreibenden Hand ausgehend, und nicht von einem „lebendigen Leib“, wie Lorca es forderte.

Wer ist es nun, der solche Lebenstrennstriche zieht, indem er sich als lebendig von innen heraus bemerkbar macht? Kolbe greift zur Erklärung auf den russischen Dichter Lermontov zurück (bei ihm mit w), und zwar auf dessen Gedicht „Der Dämon“, welcher als Unsterblicher (ähnlich Mephisto im Faust) mehr weiß, alles zu benennen weiß, es aber nicht freiwillig oder ohne konsequente Verschreibung hergibt.


Kolbe spricht darauf das Erleiden an, nicht nur ein Warten und Hoffen, sondern das Vergebliche, das Teuflische, den Pakt, der zum Untergang, zur bürgerlichen Auslöschung führen mag, denn letztlich sagt er, ist der Dämon ja ein „dem betroffenen Menschen bei Geburt mitgegebener Geist. Mal übt er mehr, mal weniger Einfluss aus. In gewissen Fällen gewinnt er sogar die Oberhand. Das alles versteht sich auf den vorliegenden Anlass, bezogen auf die Sprachbegabung desjenigen oder derjenigen und auf den Umgang genau damit: Sprache.“

Diese innere Stimme, die aller Logik trotzt, die blasphemisch sein kann, besessen machen kann, nicht unbedingt, aber vielleicht, die eine getriebene Lebenskraft entfachen mag, auf Moral zynisch antwortend, aber sich auch in Form eines zusammenschnürenden Gewissens bemerkbar macht. Wechselnd. Ich denke, Platon hat das in seinem Gastmahl durch die Figur der Priesterin Diotima gut erklärt: Eros als ein Mittler, aus Bedürftigkeit und Überfluss gezeugt, mal nach oben ziehend, mal nach unten drückend, beides verbindend.

In der Mitte seines Textes zitiert Kolbe das Gedicht „Worte“ von Christoph Meckel, den er für einen „der wenigen lebenden großen Dichter deutscher Zunge“ hält:

„Worte, gefesselt an Welt, und losgerissen
von Atem und Stimme, Worte, deine grundlose Hoffnung“    


Und wer nun lenkt die inneren Vorgänge, wer führt die schreibende Hand (Rilke: „Werbung nicht mehr, nicht Werbung, entwachsene Stimme, / sei deines Schreies Natur“) zum Entwachsen, zu Apollon, zum Licht, zur ordnenden Syntax? Es ist die Initiationsgöttin, die Muse. Sie tritt – nach Kolbe – „nicht umsonst in derselben Gewichtsklasse an wie der Dämon.“ Sie führt (wie bei den Christen Maria zu Jesus) zu Apollon, vertritt ihn quasi, derweil der Dämon in der Unterwelt (wie ein Untoter) agiert.

Große Dichtung klingt für Kolbe nach Dämon, sie sprengt die Masken, die Spiegel. „Jede Nachricht, Neuigkeit, jede Zeitung ist nichtig dagegen. Die Unterwelt schaut dich an. Durch die Maske des Tags schaut Nacht.“

Nun ist Kolbe ganz bei der Orphik angelangt. So wie in der ägyptischen Mythologie jede Nacht (beim Wegtauchen des Sonnengotts) die Seele sich mit dem Körper des Toten neu verbindet, so wird die schreibende Hand geführt, wird lebendig. Wie wenn in der orphischen Kosmogonie Phanes, die Lichterscheinung des ersten Dionysos, der Erstgeborene erscheint und danach erst, nach dieser blitzartigen Epiphanie, Nyx, die Nacht geboren wird.

Oder wie es in den „Bakchen“ des Euripides heißt:

Pentheus: Erschien der Gott bei Nacht dir? Sahst du ihn?
Dionysos: Er sah mich, ich sah ihn; er schenkte mir seine òrgia.
Pentheus: Was ist denn deiner órgia Sinn und Wesen?
Dionysos: Unkündbar dem, den Bakchos nicht erleuchtet.
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Kolbe fährt – als wolle er uns in die orphische Geheimlehre einführen – mit einer Kette von Gewährsmännern fort: Hesiod, Novalis, Rilke, Robert Graves (Die weiße Göttin), Ted Hughes, Christoph Meckel, um bei Hölderlin als Abschluss zu verweilen. Vorab Hölderlins Klammern am Apollinischen, dann seine geistige Wandlung (später Umnachtung), hier nimmt Kolbe den pythagoreischen Mythos vom zweiten Tod des Menschen auf dem Mond zu Hilfe, wo Persephone, die Tochter der Demeter, als Unterweltsgöttin in einem Krater ganz langsam – nicht so abrupt wie Demeter auf Erden den Körper – der nun schon körperlosen Seele die Mentalkräfte und die Erinnerung entzieht. Und Kolbe schließt: „Den Mond am Himmel als Aufenthaltsort der Persephone gesetzt, lesen sich folgende Verse der zweiten Strophe von >Brot und Wein< nur logisch. Es heißt da von der Nacht: „Ja, es ziemet sich, ihr Kränze zu weihn und Gesang, / Weil den Irrenden sie geheiliget ist und den Toten, / Selber aber besteht, ewig, in freiestem Geist.““

Die Nacht also als „Zeit des Dichters, das große Schreibpult, an dem er das eigene Maß, die ihm gemäße Form“ zu finden hat.

So sah das die orphische Antike (etwa seit Pindar). So sieht es in abgeschwächter Form die Tradition bis heute. Roberto Calasso  beendet sein Buch über die Sprache der Poesie mit einer Interpretation einer alten Trinkschale, auf der der Dichter den Griffel hält, Apollon vor ihm befehlend seine Hand ausstreckt und der abgeschnittene Kopf des Dionysos-Orpheus – auf den Wassern schwimmend – raunt und flüstert, und Calasso sagt: „Zwischen diesen drei Wesen findet eine beständige Triangulation statt. Jeder Satz, jede Form ist eine Variation in diesem Kraftfeld. Daher die Zweideutigkeit der Literatur: Der Blickpunkt wandert beständig von einem dieser Extreme zum anderen, ohne daß es uns mitgeteilt würde – ja bisweilen erfährt es nicht einmal der Autor.“
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Wer also an der platonischen Lehre Gefallen findet, sich mit der Romantik bzw. dem Surrealismus oder der Hermetik verbunden fühlt, oder alles in einem, dem sei dieses schmale Heft, diese elegant verfasste Rede ans Herz gelegt, um zu verstehen, dass man beim Schreiben mit greifbaren und nicht greifbaren Kräften jongliert – quasi selbdritt.
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¹ Euripides: Die Bakchen 472 ff.
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Roberto Calasso: Die Literatur und die Götter. München, 2003. Kapitel: Absolute Literatur.
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Weiterführende Literatur könnte – neben dem schon erwähnten Text von Calasso – „Sprache und Tod“ von Giorgio Agamben (von Hegel ausgehend) sein.

Uwe Kolbe: Dämon und Muse - Temperamente der Poesie. Münchner Reden zur Poesie. Hrsg. von Holger Pils und Frieder von Ammon. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2017. 33 Seiten. 12,00 Euro.

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