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Uri Zvi Grinberg: Gedicht voll Mond

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Foto: Ze’ev Aleksandrowicz
Uri Zvi Grinberg
Gedicht voll Mond
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer


So viel Mond überall heut Nacht: wie von Leichentüchern überall
in die niemand die Millionen meiner Getöteten, meiner Juden gehüllt:
Sie begrub man in blutdurchtränkten Fetzen, meine Werten … Fleisch, zerstückt!
Sie begrub man wie Tierkadaver … meine Augäpfel, meine Gebeugten – nackt!
Aus all den Leichentüchern, in die niemand meine Teuren, meine Juden gehüllt
ward dies Nachtgestirn hier gegossen … Meine Nacht!! Käm’ zu meinem Regiment
vergraben im Schoß fernen Bodens doch wie ein General mein Gott
mit ihnen mitsammen zu schlafen für eine Nacht!

Wie einsam sie sind in ihrem Grab meine Juden, meine Einsamen!
Selbst wo sie Chumasch, Kommentare, meine zwei Talmudwälzer zugleich unterbreitet…
ich erinnere mich des Monds, ihres Gesichts, in den Ländern meiner Wanderschaft
wie sie gezittert vor einem Goi … wie sind sie jetzt verstummt, meine Zitternden!
Wie haben wir sie vergessen wie die Toten, ferne! Wer befahl uns: genug
mit ihren Angstgeschichten – aus ist’s mit ihnen, meinen Vertriebenen – –

Auch ich, dessen Arbeit die Gefühle sind, gedenke ihrer nicht tag-
ein tagaus auf der Schalmei mit der Wucht ganzer Trauer
vielmehr: einmal mit herzenszartem Zitherspiel
dann mit einem Gedicht, an dessen Strophenbau ich feile – ‒
könnt’ ich doch wie der Dämmer jedes Wort tauchen in Röte!

So viel Mond überall heut Nacht: Geheimnis der Leichentücher überall!
Ihren Geruch hab’ ich in der Nase, ihr Weiß vor Augen … Straßen flackern:
Dies ist die Nacht zum Verrücktwerden, die Nacht nie gehörter Ausdrücke:
Nicht mehr lange und die Gräber öffnen sich, Tote brechen hervor
das Mondesrund ward schwarz … was hoch steht, neigt sich herab:
Wolken besprechen sich mit Gras und mit Erdbrocken – –

Und ich, dessen Arbeit die Trauerforschung ist, wiege Ziegel


Im November 2019 nahm die Übersetzerin an einem Forschungsworkshop an der Hebräischen Universität in Jerusalem teil, der dem Werk Uri Zvi Grinbergs gewidmet war. Das ins Deutsche übersetzte Gedicht entstand für den dort auf Hebräisch gehaltenen Vortrag „Nicht beschreiben, kraftvoll reden – Die Partitur der Emotionen von Uri Zvi Grinbergs Dichtung in Übersetzung“, der demnächst auch als Aufsatz in einem Sammelband in Israel erscheint.


Uri Zvi Grinberg wurde 1896 in dem galizischen Dorf Bialikamin in der Nähe von Lemberg, heute Ukraine, in eine chassidische Familie geboren, emigrierte 1923 ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina und verstarb 1981 in Ramat Gan, Israel.
 
Er gilt als bedeutendster Expressionist der hebräischen Lyrik. Sprachlich brillant verwebt er die Wucht der antiken biblischen Poesie mit Formen der europäischen Moderne. Grinberg dokumentierte literarisch die Pogrome in Osteuropa in der Zeit um den Ersten Weltkrieg und prophezeite noch vor der Schoa die Auslöschung der europäischen Juden. Hatte er in der Diaspora noch auf Jiddisch geschrieben, so schrieb er in Erez Israel fortan auf Hebräisch.
 
Grinberg, der einen lebenslangen Dialog mit „Bruder Jesus“ führte, veröffentlichte 1922 in der jiddischen, in Warschau erscheinenden Zeitschrift Albatros sein Gedicht „Uri Zvi farn Tzelem INRI“ – und gab ihm die Gestalt eines Kreuzes, was im katholischen Polen als Blasphemie empfunden wurde. In späteren Gedichten entfaltet der „Ostjude“ und Zionist Grinberg dieses Motiv weiter: Die Söhne Esaus, sprich die Christen, hätten den autochthonen, in Erez Israel geborenen Juden Jesus gleichsam kulturell nach Europa verschleppt, so dass er ihn jetzt nach Hause zurückholen müsse.

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