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Ulrike Schrimpf: Mein anfällig gewordenes Herz

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Elke Engelhardt

Ulrike Schrimpf: Mein anfällig gewordenes Herz. Gedichte, mit vier Grafiken von Axel Holst. Berlin (Corvinus Presse) 2024. 44 Seiten. 30,00 Euro.

Das Herz ist ein Muskel der pulsiert
zu Ulrike Schrimpfs Gedichtband „Mein anfällig gewordenes Herz“


In seiner Installation „Zeige deine Wunde“ von 1976 betrachtete Beuys den von ihm gestalteten Raum als „Krankenzimmer“, in dem der Betrachter mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wird, indem er „seine Wunde“ offenbart und dabei gleichzeitig Heilung erfährt.
            Ulrike Schrimpfs Band „Mein anfällig gewordenes Herz“ mit Drucken von Axel Holst, der kürzlich in der längst legendären Corvinus Presse von Hendrik Liersch, erschienen ist, hat eine ähnliche Wirkung. Er zeigt auf mindestens zwei Weisen die Wunden eines wirklich gelebten Lebens, einmal sprachlich, ein anderes Mal bildnerisch. Dabei sind die Drucke und Gedichte nicht einfach zwei Möglichkeiten, zwei Versionen eines Themas, vielmehr nehmen sie sich, auf je eigene Weise, sowohl der Anfälligkeit als auch des Herzens an sich an.
                Da ist z.B. dieses wirklich schöne und geheimnisvolle Coverbild des Bandes. Dass es ein Herz darstellt, erkenne ich an der Aorta, an der Farbe vielleicht auch. Dass es viel mehr als einfach „nur“ ein Herz ist, wird auf den ersten Blick deutlich. Denn da sind Arme, die knochig gestaltet in Füßen enden. Es gibt Augen, Verbindungslinien, die fast wie Locken aussehen und eine Zartheit, die sich durch eine Vielzahl beweglicher Gelenke zu schützen versucht. „Bitterschön“ hat der Dichter Fedor Pellmann Ulrike Schrimpfs Verse genannt, und dieses Adjektiv passt ebenso auf die Grafiken von Axel Holst.
Wofür, kann sich die Leserin nun fragen, ist das Herz, das hier Titel und Auftakt bildet, denn anfällig geworden? Und die Gedichte und Drucke würden antworten: für Liebe und Leid, für Krankheiten, und die Fähigkeit sich dagegen zu behaupten. Für Tod und Trauer und für die Stärke nach jedem Schlag, den das Leben uns zuweilen versetzt, wieder aufzustehen.

„mein anfällig gewordenes herz“, heißt es im titelgebenden Gedicht,
       
„[…] ist ein furchterregendes
        ding das ich auf keinen fall
        zwischen saugende lippen
        stecke lieber spucke ich
        jeden einzelnen buchstaben
        in einen magischen see mit der
        form eines lachenden riesen was
        klarerweise eine täuschung ist
        für mein anfällig gewordenes
        herz aber auf keinen fall darf
        es aufhören zu pulsieren.“
Und so folgen die Gedichte dem Herzschlag, dem Prinzip des An- und Abschwellens, des lebendigen Fließens. Sowohl Schrimpf als auch Holst gelingt es dabei, beides aufzunehmen, das Zarte und das Harte, das Verletzliche ebenso wie das Wehrhafte. Getränkt von Gegensätzen sind die Gedichte und die Drucke. Und das ist weder Spiel noch Integration, sondern die wirklich hohe Kunst, Gegensätze so nebeneinander stehen zu lassen, dass sie ebenso deutlich in ihrer Gegensätzlichkeit sind, als auch erkennen lassen, dass ohne diese unversöhnlichen Gegensätze kein Ganzes zu haben ist.
        Diese Kunst, möchte ich nach dem Lesen und Sehen behaupten, gelingt nur, wenn jemand genau hinsieht. Weniger unerschrocken als vielmehr von einer unstillbaren Neugierde geprägt.
          Und das tut Ulrike Schrimpf. Sie schreibt von Frauen und Müttern, untersucht Falten, die Lebewesen sein könnten, widmet sich der Trauer und den Körpern, die die Trauer bewohnt. Schreibt von Händen und Füßen, und endet in einem fulminant befreiendem Langgedicht.  

Die Gedichte, aber auch die Drucke in „Mein anfällig gewordenes Herz“ sind ebenso körperlich wie fantasievoll. Aus jeder einzelnen Seite spricht die Leichtigkeit die das Herz den Schlägen entgegensetzt. Die Selbstverständlichkeit, immer weiterzumachen. Das Wissen darum, wie schwer das zuweilen ist.

Wie bereits in ihren Romanen und Sachbüchern, besticht Schrimpfs Schreibstil durch die Unerschrockenheit, den Mut die eigene Verwundbarkeit zu zeigen, nicht auszustellen, aber sich aufrichtig mit ihr auseinander zu setzen.

Aus „verwundet“ macht sie bei der Leserin „verwundert“. Denn jedes einzelne der allesamt lesenswerten Gedichte verwandelt Wunden in etwas, das sich wie Wunder anfühlt.


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