Ulrich Schäfer-Newiger: Überall tote Tiere oder: Der kleine Moment des Schwebens
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Selbstportrait
Ulrich
Schäfer-Newiger
Überall tote
Tiere oder: Der kleine Moment des Schwebens
Zu Marieke
Lucas Rijneveld, Kalbskummer Phantomstute, Gedichte, Suhrkamp, 2022
In seinem Essay Höhlenausgänge hat der Philosoph Hans
Blumenberg ziemlich zu Beginn, im ersten Teil, das er Die Höhlen des Lebens nennt,
dort in dem Kapitel mit der merkwürdig anmutenden Überschrift Austreibungen
des Lebens aus seinen Erfolgen festgehalten: „Das Leben kann nicht
bleiben, wie und wo es ist. …
Entwicklung ist nicht heimliche Sehnsucht zum Höheren; sie ist die
Bewältigung der Schwierigkeiten, die sich das Niedere selbst bereitet und mit
seinen Mitteln nicht mehr lösen kann. Dynamik entsteht aus Erschöpfung – auf
diesem Paradox beruht das Vertrauen des Lebens zu sich selbst in der Nähe
seiner Apokalypse. Genau um diese, von Blumenberg als allgemeine Formel
gemeinte Dynamik der Entwicklung in der Nähe der Apokalypse geht es –
heruntergebrochen aufs individuelle Ich – in den beiden Gedichtbänden Kalbskummer
von 2015 und Phantomstudie von 2019 des niederländischen Autors
Marieke Lucas Rijneveld, die der Suhrkamp-Verlag in einem handlich-gewichtigen
Buch mit über 220 Seiten in der hervorragenden Übersetzung von Ruth Löbner
zweisprachig herausgegeben hat. Gäbe es
als Pendant zu dem etwas altertümlichen Begriff „Entwicklungsroman“ den Begriff
„Entwicklungsgedicht“, würde er annähernd charakterisieren, mit welcher Art von
Texten wir es hier zu tun haben.
Der 1991 geborene Rijneveld ist der Shooting Star der
niederländische n Literatur. Für seinen Debütroman The Discomfort of Evening
(Deutsch: Was man sät) erhielt er 2020 den internationalen Booker
Price. Überhaupt erhielt er bislang acht niederländische Preise und Stipendien.
Seine Bekanntheit wuchs zusätzlich durch den zunächst vom Verlag erteilten
Auftrag, Amanda Gormans berühmt gewordenes Gedicht The Hill We Climb zu
übersetzen, und der anschließenden, recht unqualifizierten Kritik daran in den
sogenannten „sozialen“ Medien, so dass er den Auftrag wieder zurückgab.
An dieser Stelle sei eingeflochten, dass der Autor sich als
Non-binär bezeichnet; die verschiedenen Vornamen machen es deutlich. Auch damit
setzt sich der jetzt sich als männlich bezeichnende Autor in seinen Gedichten selbstreflektierend
auseinander, worauf zurückzu-kommen sein wird.
Tatsächlich handelt es sich bei den beiden Gedichtbänden um
einen einzigen Roman aus etwa einhundert, meist genau einseitigen, die äußere
Form stets beibehaltenen Prosagedichten. Sie gehen poetisch weit über den nur
hilfsweise als Annäherungsversuch verwendeten Begriff „Entwicklungsromans“ hinaus.
Da ist einmal die beeindruckende, aus überraschenden,
unerwarteten Schnitten, Szenen und Eindrücken komponierte, feinsinnige,
symbolträchtige und auch brutale Bildsprache. Schon der Anfang des ersten
Gedichtes zeugt davon: Wie gehst Du schlafen, wenn Du gerade ein Schaf
überfahren hast, zitternd auf / dem Bettrand, die kalten Hände wie rohe
Rinderrouladen auf den Augen, … Oder: Hochhäuser sind über die ganze
Stadt verteilt wie Sprungbretter. Der kleine / Moment des Schwebens ist zu
kurz, als dass er die Landung wert wäre. Ein drittes Beispiel: Denk an
die vielen ausgestreuten Bauern, in die Kühe eingezogen, die wie wandelnde /
Gräber zwischen den Blüten als Trauergestecke herumlaufen, wir klammern uns /
aneinander fest und betrachten das letzte Haus auf dem Flachland, das einstürzt
// wie ein Komposthaufen ohne Luftlöcher. Aus diesen wenigen Beispielen schon
wird deutlich: Das Modalwort „wie“ muss schier unzählige Male herhalten, um die
gewollt gegensätzlichen, unterschiedlichen Bild-vorstellungen miteinander in
Beziehung zu bringen. Die unmittelbare Lebensumgebung des Erzählers, Stadt und
Land, wirkt einprägsam ein auf die einmal wild assoziierte und dann wieder
fragmentierte Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt der Protagonisten (meist kindliche
Freunde, heranwachsende Geschwister). Und schließlich: Den Tieren geht es in
den Texten Rijenvelds schlecht, oftmals sterben sie einen grausamen Tod. Da
wird in einem Museumsfilm ein Kaninchen in die Tiefe geworfen, da ist eine
Katze zu früh an den Zacken eines Gartenzaunes kleben geblieben, da
läuft ein Hund mit einem Böller im Maul herum wir wollen / ihn retten aber
auch wissen, wie ein explodierender Hund aussieht, eine andere Katze gerät
in die laufende Strohpresse eines Bauern das arme / Tier wurde ausgequetscht
wie ein Spritzbeutel. Ein anderes Mal hat der Erzähler eine Biene
totgeschlagen, in den Mund gesteckt und kaputtgebissen, oder Kühe trieben nach
einer Sturmflut als aufgeblasene Ballons im Wasser. Oder er trauert um
eine tote Spinne, die er selbst mit der Serviette an der Wand zerquetscht hat. Ein
weiteres Beispiel noch:
Überall tote Frösche: zwischen den Saiten unserer Tennisschläger, umuns herum im feuchten Strandhafer, immer wieder legen wir ein kleinesLeben in die Mitte, spielen einen harten Aufschlag, sehen die hervorquellendenAugen, doch nirgends ein Zeichen von A. oder dass dieselbe Welt den Froschund ihn verbindet.
Da sind zum anderen diese vieldeutigen, z.T. dramatischen und
z.T. banalen Selbstwahrnehmungen, Zeichendeutungen, unverbundene Fragmente, Tode
und Spiele. Das alles wird in der poetischen Sprache des Autors zusammengeführt
zur Weltwahrnehmung eines in diese Welt ungefragt hineingestellten Subjekts.
Das sich dort zurechtfinden und Unerwartetes bewältigen muss und will. Gott und
Kirche spielen genauso eine Rolle wie Schulmilch, Kühe und Schafe, Vater und
Mutter. Einen Vater beim Schämen zu ertappen, fühlt sich an, als würde man
einen Regenmesser mit Leitungswasser füllen. Oder: Das Rauschen des
Vaterseins ist eine Kettensäge. Oder: Hab lange geglaubt, alle Nägel aus
Vaters Werkzeugkasten seien / für die Kreuzigung Jesu bestimmt. Bibelfeste
können sich bei den toten Fröschen an die zweite ägyptische Plage (2. Mose,
7,26; 8, 3, 9) erinnern oder an die Apokalypse des Johannes (16, 13). Der Tod
der Tiere steht immer im Zusammenhang mit menschlicher Technik, mit
menschlicher Auseinandersetzung mit der Natur, wozu ein Gartenzaun genauso
gehört wie eine Serviette oder eine Strohpresse. Vielleicht geht es von allen
Tieren dem Hund noch am besten, der später erwähnt und der auf den Namen
„Vater“ hört. Da kommen Abgründe einer Vaterbeziehung zum Vorschein. Der Konnex
zwischen einer zerquetschten Schmeißfliege mit abgebrochenem Flügel, einem
Gedicht und einem kurzen Leben ist deren Gewicht bzw. deren Leichtigkeit, so sieht
es der Dichter (in dem Gedicht Das Gewicht eines kurzen Lebens). Vielleicht
ist das eine Schlüsselsymbolik für diese beeindruckenden, nicht leicht zu
durchschauenden Texte.
Schreiben, Sehen, Bilder, Tiere,
Bauern, Freunde, Freundinnen, Umarmungsversuche, Streichel-versuche, Schulmilchwetttrinken,
Todesvorstellungen usw. sind Mosaiksteine, sind Elemente einer
Identitätswerdung, zu der auch das Geschlecht gehört, das man/frau beim Sturz
in die Welt nicht selbst ausgewählt hat und das wie alles andere unsicher ist,
mehrdeutig. Tertium datur, nämlich die Wahl, die als Möglichkeit sich offenbart.
Auch davon handeln einige der Texte. Einmal heißt es: Sie ist der Junge, der
ohne Milch wehrlos ist gegen sich und andere… An anderer Stelle: Die
Daseinsberechtigung von Zuckerstreuseln wird selten / ernstgenommen, genau wie
die der Non-Binären… In dem Gedicht Formen des Aufbrechens lesen
wir: Als das Entpuppen kurz bevorstand, machtest du mich darauf /
aufmerksam, dass Raupen geschlechtsneutral sind und erst als / Schmetterling
ein männliches oder weibliches Farbmuster zeigen / mit einer Bedenkzeit von
höchsten zehn Monaten. Ein anderes Gedicht – Nachtschaden – beginnt
so: Wie man Hühnern an den Ohrläppchen ablesen kann, welche / Farbe die Eier
haben, so müsste sich an dem Mädchen der Junge in ihr erkennen lassen. Die
Strohpresse auf dem Land ist ein Stotterer …. Und es folgt unmittelbar und
ohne Übergang die schon erzählte Geschichte mit der Katze, die in dieser
Strohpresse zerquetscht wird. Ein anderes Beispiel für einen solchen „Schnitt“
oder „Sprung“: plötzlich stellt sich
heraus, dass der Tod / schon immer unter der Haut gelauert hat. // Ein Mann und
eine Frau stehen nackt in einem Museum / verschrumpelte Körper wie
eingerissenen Landkarten, …
Oft gibt es diesen sehr kleinen, kurzen, kaum merkbaren, kaum
zum Atemholen reichenden Moment des Schwebens zwischen zwei solchen Bildern,
die scheinbar nichts miteinander gemein haben, außer dass sie von einem Autor stammen
und Teil dieser Welt sind. Dieser Schwebemoment ist ein wesentlicher Teil der
poetischen Technik des Autors.
Auch beim wiederholten Lesen dieser
vielschichtigen, eng gewebten, bildbeladenen Texte und seitenexakten
Textflächen kann leicht der Eindruck des sich immer wieder neu Wiederholenden
entstehen, einer Manie zu gewollten, unwahrscheinlichen, unerwarteten,
traumhaften Bild- und Symbolkombinationen und-sprüngen. Man kann sie bald nicht
mehr den einzelnen gelesenen Texten zuordnen, meint nicht mehr zu wissen, in
welchem Gedicht sie erschienen sind und wo sie hinführen.
Dadurch aber sind die Leser während
des Lesens unvermittelt vor die gleichen Schwierigkeiten gestellt wie der
Autor, der von seinem In-die-Welt-gestellt-sein, von seiner ganz einzigartigen,
unverwechselbaren, unaustauschbaren Lebenshöhle erzählt, in der er sich
zurechtzufinden hat. Eine Flucht aus ihr, etwa durch einen Sprung vom Hochhaus,
ist keine Option. Genauso wenig wie ein Abbruch des Lesens. Das Gegenteil ist
verlangt: Immer wieder neu, immer wieder anders lesen. Eine Entwicklung nach
Höherem ist nicht zu erkennen, aber stetige Dynamik, stetiges Wahrnehmen,
stetiges erfolgreiches oder misslungenes Bewältigen des unentrinnbaren Wirkens
der Dinge und Menschen. Das Lesen der beiden Gedichtbände Rijnevelds selbst ist
erleben.
Marieke Lucas Rijneveld: Kalbskummer. Phantomstute. Gedichte. Niederländisch, deutsch. Übersetzt von Ruth Löbner. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2022. 223 Seiten. 25,00 Euro.