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Ulrich Schäfer-Newiger: Die schlaue Schlange

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Ulrich Schäfer-Newiger

Die schlaue Schlange.
Mythos, Melancholie und Revolte in Daniela Seels „Nach Eden“.

Die Arbeit des Mythos muss man schon im Rücken haben,
um der Arbeit am Mythos nachzugehen.
Hans Blumenberg

I Einleitende Erklärung

Die nachfolgenden Anmerkungen zu Daniela Seels „Nach Eden“¹ sind gelegentlich ausufernd. Das liegt auch am Gegenstand, nicht nur am mitunter unsystematischen Arbeiten des Verfassers. Denn dieses Gedicht, dieses filigrane, äußerst poetische und zugleich robuste Langgedicht, ist im Grunde ein anmaßend anmutender Versuch, Uraltes zu revidieren und neu zu erzählen: Nämlich die Menschwerdung, wie sie im jüdisch-christlich-muslimischen Kulturkreis berichtet wird. Daniela Seels Text soll sein und ist ein Gegenentwurf. Aus ausschließlich weiblicher Sicht. Das ist keine Einschränkung. Sondern im Gegenteil, eine Erweiterung, in unserer Gegenwart etwas notwendig Neues, wie sich zeigen wird. Er evoziert, wegen der Bezugnahme auf den uralten Mythos der Vertreibung aus dem Paradies, aber auch ein schier unbegrenztes Feld von Assoziationen und Interpretationen. Auch Abschweifungen. Ihr Gedicht ist leicht und schwer zugleich. Voller Anspielungen, voller Geschichten, voller Sprünge, voller Symbole, voller Fragen. Bei weitem nicht alle werden in den nachfolgenden Überlegungen gebührend behandelt.

Vielleicht windet das Gedicht sich aber auch wie eine Schlange. Die Schlange steht am Anfang. Die Schlange hatte es ihr gesagt, heißt es im ersten Text des Gedichts. Die angebliche Verführerin. Die listige, wie es in der Bibel / Schrift heißt. Wir wissen alle von der Geschichte, aber verstehen wir sie auch? Kaum jemand hat schöner über die Schlange gedichtet als Margaret Atwood. Allerdings aus ganz irdischem Blickwinkel. Zum Beispiel in ihrem Gedicht ‚Schlangenfrau‘: Einmal erwischt, trug ich sie, / schlaff und vor Angst erstarrt, ins Esszimmer, / davor hatten sogar Männer Angst. / War das ein Spaß! / ‚Tu das Ding in mein Bett und ich bringe dich um.‘ // Jetzt weiß ich’s nicht. / Jetzt wäre ich für die Schlange.

II Mythenlast

Die Mythen leben nicht aus sich selbst. Sie warten darauf, dass wir sie verkörpern, schrieb Albert Camus in seinem Essay Prometheus in der Hölle. Darum geht es der Lyrikerin Daniela Seel in ihrem Gedicht: Um die – in einen poetischen Text gekleidete - Verkörperung jener mythischen Eva in der Person der Erzählerin; die Eva, die als erste von der Schlange informiert wird, die als erste vom Baum der Erkenntnis isst, die als erste Gut und Böse zu unterscheiden weiß, die als erste von ihrer und aller zeitlichen Begrenztheit, also ihrer Sterblichkeit, weiß, die den Apfel weitergibt an Adam, die mit diesem Erkenntnisvermögen ausgestattet, auszieht aus dem Garten Eden. Die den Mythos auf der Grundlage dieses Wissens umformend und ihn überschreitend weitererzählt, bis hinein in die Gegenwart.

Und dabei der Frage nachgeht:  Wie ist Leben möglich mit der Erkenntnis, sterben zu müssen, ohne für die Antwort alte religiöse Mythen oder einen Gott zu bemühen? Das ist eine Frage, die Männer und Frauen in gleicher Weise betrifft. Können Frauen sie besser beantworten, weil sie als Gebärende sich eher mit Leben und Tod konfrontiert sehen als Männer? Auch das ist eine Frage, die sich aus Daniela Seels Gedicht ergibt.

Das ‚Thema‘ oder der ‚Gegenstand‘ des langen, vierundsiebzigseitigen Gedichts ist also alles andere als trivial. Der als „Vertreibung aus dem Paradies“ firmierende Mythos ist nicht nur ein christlicher, sondern gleichermaßen ein jüdischer und islamischer. Von allen drei abrahamitischen Religionen ist er weitererzählt worden, wenn auch jeweils leicht, aber entscheidend, variiert. Und er ist nach wie vor – auch in der täglichen Realität politisch, gesellschaftlich, theologisch – wirkmächtig. Die Tradition dieses Mythos, patriarchalisch genährt und forterzählt durch die toten Geschlechter, mag, um eine Formulierung von Karl Marx aufzugreifen, „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ lasten. Ein Ausdruck der Schwere also. Dieser Tradition will sich die Eva der Daniela Seel nicht mehr länger beugen, die Last wirft sie ab. Sie dreht sich um und sieht dem Mythos ins Auge (ich erlaube mir diese Formulierung), indem sie ihn aufhebt und zum Ausgangspunkt ihrer poetisch-ausgeklügelten, ihn gleich doppelt umdeutenden und überschreitenden Weitererzählung macht. Das Schwere wird leichter, auch wenn es zunächst nicht so scheint.

Daniela Seel nennt ihren Text im Untertitel „Gedicht“. Das ist nicht nur eine äußerliche Formalie. Bei dem Text soll es sich also um ein einziges Gedicht handeln. Diese Bestimmung ist ausdrücklich zu erwähnen, weil es sich um 74 einzelne Texte zu handeln scheint, denn sie sind meist nur jeweils eine Druckseite lang, jeweils ohne Titel. Manche bestehen nur aus ein oder zwei Zeilen. Und sind poetisch, sprachlich, ja auch dramaturgisch z.T. völlig unter-schiedlich. Darauf wird zurückzukommen sein. Sie scheinen auf den ersten Blick keine innere Verbindung zu haben, keinen festen Zusammenhang. Auf den zweiten Blick, während des fortschreitenden Lesens, ergibt sich ein Zusammenhang, eine erzählte, zusammenhängende Geschichte. Im Buch gibt es ein Inhaltsverzeichnis, hinten, in dem die einzelnen Texte durch ihre Anfangszeilen mit den jeweiligen Seitenzahlen identifiziert werden. Dem Gedicht als Ganzes ist eine Art Vorwort – ebenfalls in Gedichtform - vorausgeschickt, in welchem die Autorin ihr Motiv erklärt und den erzählerischen, poetischen, gedanklichen Ausgangspunkt für das Folgende setzt. Danach erst die Titelseite „Nach Eden“. Es gibt schließlich auch eine Art Nachwort, ebenfalls ein Gedicht, erkennbar dadurch, dass es durch eine Leerseite vom eigentlichen Gedicht abgesetzt ist.

Es folgt am Ende des Bandes ein äußerst interessantes Literaturverzeichnis, das die ganze literarische und mythologische Bandbreite der sachlichen Grundlagen des Gedichtes offenbart. Es reicht von einem Text über Assyrische Wasserbauten, beispielsweise über Jewish Ritual Practice Following a Stillbirth, über das gewichtige Werk von Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose, über eine Darstellung der Hexenprozesse, Humboldts Amerikanische Reisetagebücher, über Christine Lavant, Maria Sibylla Merian, über Darstellungen der NS-Euthanasie im Kalmenhof in Idstein, über Die Schrift, das ist die Buber-Rosenzweig Übersetzung der Hebräischen Fassung des Alten Testaments, bis zu mehreren Internetlinks u.a. zu einem wissenschaftlichen Bibellexikon.

III Mythenkorrektur und Revolte

Im Eingangsgedicht werden die Leser darüber aufgeklärt, um was es geht: Eva entscheidet sich. Für Erkenntnis und Lust. Für Mut. Das ist der Ausgangspunkt: die eigene Entscheidung, selbstbestimmt. Die Gelegenheit, die die Schlange ihr bietet, ergreift sie bewusst. Lasst mich von vorn beginnen. Von einer Frist, Eva, die Erste. Eva, sagt die Dichterin weiter, ist die erste, die weiß, dass sie stirbt. Damit sind weitere entscheidende Weg- und Textmarken für das, was folgt, gesetzt. Siebzehnmal werden die Wörter sterben, Sterblichkeit, starb, stirbt im Text vorkommen, vierzehnmal die Wörter Tod, getötet, tot, tot geboren. Diese Quantität hat seinen Grund, denn, so heißt es weiter: Nehme ich Eva ernst, / so ist die Vertreibung aus dem Paradies nicht Rauswurf, sondern / Auszug. Der Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit. Die Sterblichkeit als Preis für den Erkenntnisgewinn nimmt einen breiten, ja das Geschehen und die Gedanken der Erzählerin bestimmenden Raum ein. Und Eva, klärt die Autorin auf, wusste, was sie tat, als sie aß. Gott / hatte es ihr gesagt. Die Schlange hatte es ihr gesagt. Daniela Seel hat die Schöpfungsgeschichte, die zweite Schöpfungsgeschichte, diejenige, die von der Schöpfung der Menschen handelt, genau gelesen. Und sie hat sie aus Evas Sicht gelesen. Und darin ein mündiges Handeln, eine mündige Entscheidung Evas erzählt gefunden. Bisher wurde die Geschichte von der ‚Vertreibung aus dem Paradies‘ und ihre Folgen – in allen drei Religionen – ausschließlich von Männern erzählt und weitergesponnen.² Adam, der männliche Teil der zunächst paradiesischen Gesellschaft, kommt bei ihr konsequenterweise nicht vor.

Auszug statt Vertreibung, das ist eine Lesart, in welcher zum Beispiel der Begriff „Sünde“ keinen Platz hat. Die Geschichte des Auszuges aus dem Paradies kann nämlich aus guten Gründen so verstanden werden, dass der Mensch die Spannung zwischen dem idealen, aber unwirklichen Paradieszustand und seiner eigentlichen Bestimmung auflöst, indem er Gottes Verbot übertritt, weil er nur dadurch in die reale Welt entlassen werden kann.³ Die Über-tretung des göttlichen Verbots ist demnach anthropologische conditio sine qua non für seine Existenz.

Eine notwendige Abschweifung: In der biblischen Erzählung ist die durch den Apfelbiss gewonnene Erkenntnisfähigkeit, die Fähigkeit, Gut und Böse unterscheiden zu können, von vorneherein negativ konnotiert. Denn unterstellt wurde dem Menschen von Gott damit, ihm gleich sein zu wollen. Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist (1.Mose, 3,22). Überhaupt steht Wissen in der christlichen Mythenerzählung nicht hoch im Kurs: Das Wissen bläst auf; aber die Liebe baut auf, so Paulus (1. Korinther, 8,1), auf den wir sogleich zu sprechen kommen. Der Begriff der Sünde kam tatsächlich später nur in der christlichen Version der Weitererzählung des Mythos durch Paulus dort hinein, diesen Konvertiten (oder, um die politische Dimension des dem Begriff zugrundeliegenden Handelns zu betonen: diesen Renegaten) und ersten Chefideologen des Christentums. Er nämlich formulierte denunzierend: Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ (Röm 5, 12, in der Übersetzung der Lutherbibel in der Fassung von 1912). Dieser „einzige Mensch“ war Eva. Zuvor, im Alten Testament, war von Sünde noch nicht die Rede, genauso wenig wie in der jüdischen und islamischen Fassung des Mythos. Konvertit war Paulus bekanntlich, weil er vor seiner Bekehrung als Saulus die Christen verfolgte und noch an der Steinigung des heiligen Stephanus beteiligt war (Saulus aber hatte Wohlgefallen an seinem Tode. Ap.7,60). Später war ein weiterer Konvertit und Ideologe, Augustinus, geradezu besessen von seiner Erbsündenlehre, die er im Wesentlichen erfunden hatte und die seit dem Konzil von Trient (1545-1563) zum katholischen Dogma gehört. Ein Konvertit war auch Augustinus, weil er in seinen jungen Jahren ein „sündiges“ Leben geführt hatte (Lieben und geliebt werden war mir erhöhte Lust, wenn ich auch des Liebenden Leib genoss. So vertrübte ich das Rinnsal freundschaftlicher Fühlung mit dem Schlamm sinnlichen Begehrens). Er konvertierte also, salopp formuliert, vom Lüstling zum Heiligen. Es war auch jener Paulus, der in seinem 1. Brief an die Korinther die patriarchalische Erzählung des Schöpfungsmythos und des Alten Testaments überhaupt fortsetzte und auf die Spitze trieb: Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht der Frau übel an, in der Gemeinde zu reden; 1. Kor. 14.34).

Auf diese beiden Meistererzähler des Christentums ist hier näher eingegangen, weil es eben typischerweise Männer waren, die sich zuerst in ihren Konversionserzählungen selbst inszenierten und hernach alles besser wussten; Augustinus hat sie gar lustvoll zelebriert. Beide haben den Schöpfungsmythos aus ihrer Sicht und voller männlicher Überzeugung und Phantasie in patriarchalischer Weise weitererzählt und, das ist ihnen besonders wichtig: „der Stolz des Renegaten gründet darauf, beim Wechsel der Fronten die Wahrheit gesagt zu haben.“

Noch ein kleines philologisches Detail: In der letzten, von Martin Luther zu seinen Lebzeiten noch durchgesehenen und herausgebrachten Bibelfassung von 1545 gibt es, wie in der jüdischen Fassung des Alten Testamentes auch, keine extra Zwischenüberschriften vor den einzelnen Kapiteln, etwa dem Kapitel Mose 1.3. Erst in späteren Fassungen der Lutherbibel findet sich über Mose 1.3. die Überschrift Der Sündenfall. Irgendjemand muss ihn nach Luthers Tod da hineingeschmuggelt haben. Wahrscheinlich ist längst erforscht, wer das war. Bis zur neuesten Textfassung von 2017 hat sich dieser – missinterpretierende - Zwischentitel gehalten. Denn als „Sündenfall“ galt nach der „ursprünglichen Intention der hebräischen Bibel“ die ganze Angelegenheit nicht.Der wurde erst nachher durch christliche Weiter-erzählung des Mythos da hineingelesen. Ende der Abschweifung.

Zurück zu Daniela Seel und ihrem Gedicht: Die Ordnung des Gartens Eden geht fehl, erklärt diese Eva im einleitenden Gedicht weiter, denn er scheidet zwischen domestizierter Natur und wilder Natur und weil es von ihm aus – statt Garten – nicht weit ist zur Plantage, zu Ausbeutung und Raub. Und: Von Eva her denken heißt, daraus ausziehen und für die Zeit danach eine Frist bis zum Tod zu haben und diese anzuerkennen, für sich zu akzeptieren.

Ganz konsequent betrifft eine wesentliche Änderung des von der Autorin gelesenen und weitererzählten Mythos eine Angelegenheit, bei der die Männer eigentlich nicht mitreden können, nämlich Schwangerschaft und Geburt: Diese Eva lehnt es ausdrücklich ab, Geburts-wehen als Strafe zu empfinden. Und Schwangerschaftsprobleme, (dieses zusammenfassende, männlich-objektivierende Wort sei hier einmal erlaubt), Krankheitserscheinungen, die in den Fachbereich ‚Neonatologie‘ fallen, überhebliche, patriarchalische Arztgespräche in diesem Zusammenhang, beschreibt Seel mehrfach ausführlich-prägnant und kritisch. Bekanntlich sprach Gott, nachdem er entdeckt hatte, dass Eva und Adam verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, eine Art Fluch über Eva:

Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären, (Mose, 3,16).

Das ist praktisch gemeint als negativ wirkende Folge der Übertretung des Verbotes, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Diese Beschwernisse sollen den Charakter einer Strafe haben. Damit ist das uralte Bild oder die archaische, bis heute wirkende Vorstellung der Frau als zurecht bestrafte, Schmerzen leidende, als Schmerzensfrau, in die Welt gebracht. Dazu Eva im Gedicht von Daniela Seel:

Und zu gebären, zu wissen von Wehen, / vom Weh, soll Strafe sein? Nein. Da sage ich nein.

Albert Camus sah in dem Menschen, der ‚Nein‘ sagt, einen Menschen in der Revolte. Ist diese Eva der Daniela Seel ein solcher Mensch in der Revolte? Ja, sogar im doppelten Sinne. Einmal, weil sie sich gegen die Lebensbedingungen im Garten Eden auflehnt; weil sie die aus dem Mythos sich ergebende Bestimmung des Menschen (nicht erkennen zu können, was Gut und Böse ist) nicht akzeptiert. Zum anderen, weil sie auch die von der „Schöpfung“ (oder: Gott) vorgesehene Lebensform nach Eden, auf Erden nämlich, nicht so akzeptiert, wie sie das Leben vorfindet und wie sie es sehen soll. Sie benennt die Welt neu (S.84). Sie akzeptiert Geburtswehen nicht als Strafe. Sie beklagt, wie wir sehen werden, Naturzerstörung. Gewalt, patriarchische Lesart der Welt, Leid und Macht. Und sie erkennt und reflektiert ihre eigene Grausamkeit. Die Hälfte der Schöpfung, wenn diese Formulierung hier einmal erlaubt ist, nämlich die Männer, kommen gar nicht erst vor.  Auch das ist ein Ausdruck von Revolte.

Die Dichterin Daniela Seel ist mit der selbstbestimmten Zurückweisung des alten Mythos nicht die erste und nicht allein. Das Thema ist aktuell. Tatsächlich handelt es sich auch um keine Strafe, „sondern [es ist] genau das, was das Leben auf der realen Erde ausmacht: Menschen und Tiere werden nach einem langen und mühevollen Leben sterben.“

IV  Im Lande Nod

Das Gedicht wird nun die poetisch ausgeklügelte, vielschichtige Erzählung von der Zeit nach dem Auszug aus dem Garten Eden, von der Zeit nach dem Verlassen des Ortes der eigenen Herkunft. Oder, um es anders und noch einmal alttestamentarisch auszudrücken: Vom Leben im Lande Nod, jenseits Eden (1 Mose 4, 16). Dort nämlich sollte Kain, nachdem er seinen Bruder erschlagen hatte, das einzige noch lebende Kind von Adam und Eva, also unser aller Vorfahre, sein Dasein fristen. An einer Stelle (S. 45) heißt es im Gedicht: Nur Luft / ist die Grube Noth. Der Garten indessen schnakisch..

„Ausgeklügelt“ meint hier: Eine Erzählung unter Verwendung verschiedenster poetischer Techniken und Methoden. Meist gebraucht die Dichterin freie Verse, einmal eine rein listen-mäßige Aufzählung von ärztlichen Maßnahmen als Beschreibung einer Fehlgeburt, anderswo wieder reine Prosa, z.B. wenn sie an verschiedenen Stellen über Einzelheiten des Gebärens berichtet oder einen Auszug aus Alexander von Humboldts Reisetagebuch zitiert (S. 19). Wieder an anderer Stelle meint man, Hölderlin zu hören: Oder wünscht ich zu sein mit der Stimme / Seeheld, frei zu gewinnen das Freundlichste. (S.50). Zur poetischen Technik gehört auch der Wechsel der Erzählperspektive: Von der auktorialen Erzählerin, die etwas über Eva, von deren Entscheidungen, Bewertungen, Fragen, Befindlichkeiten, berichtet, über die in Ich-Form sprechende Erzählerin, gelegentlich wieder zurück zur allwissend über Eva Berich-tenden und vice versa. Eva und die Autorin sind oft, nicht immer, ein und dieselbe Person.

„Ausgeklügelt“ meint weiter: Unter Verwendung ganz unterschiedlicher Sachverhalte, Sujets, Begebenheiten und Topoi usw. wird dieses Leben dargestellt als Last, Leid, Schmerz, Tod – aber auch Lust. Wiederholt, in verschiedenen Variationen vorkommende Bilder und Motive dienen der Beglaubigung: Geburt, Walgesicht, nördliches Licht, Nacht, Zaun, Mauer, überhaupt Natursujets. Und Menschenverachtung und Menschheitsverbrechen, etwa Hum-boldts ganz unschuldig wirkender Bericht über die Exhumierung von Gräbern Eingeborener in Südamerika zum Zwecke der Forschung. Die Indianer sahen diese Operation mit großem Unwillen an, notiert er scheinbar erstaunt und naiv. Wie anders dagegen der kritische Bericht der Maria Sibylla Merian über die Behandlung von Sklaven auf Barbados durch die Holländer. Oder Assur-nasir-apli des II. Bericht über die Pfählung aller Überlebenden einer Schlacht, des Königs, in dessen Assyrien jenes Eden gelegen haben soll, das der Bibelerzählung als Vorbild diente. (Anderswo im Gedicht wird die Etymologie der Wörter ‚Eden‘ und ‚Paradies‘ erklärt). Dann wieder greift die Autorin anklagend die Menschen-tötungen auf, die während des 3. Reiches in Hadamar an geistig Kranken begangen, und wo noch nach dem Krieg im ‚Kalmenhof‘ ‚Zöglinge‘ schwer misshandelt wurden. Oder die Hexenverbrennungen im 16. Jhdt. unter Zitierung des Hexengläubigen Martin Luther. Und immer wieder: Dies alles sind Beispiele des Lebens der Menschen auf der Erde, nach Eden. Und das Elend dort verantworten, wenn man genau liest, Männer.

Mein Kind hat mir mein Sterben geschenkt, mit dieser Aussage beginnt das Langgedicht im ersten Text auf dessen erste Seite. Im zweiten Text heißt es: Wer bestimmte mich? / Manchmal möchte ich sagen: Mein Sterben. / Mein von Eva her. Also wieder und noch einmal: Die als real und realistisch anzuerkennende Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis als Mensch in der für ihn begrenzten Zeit wird hier ausdrücklich an- und ausgesprochen. Noch ein Beispiel (S. 64):

Zur Scham begabt, die Kennzeichen für
Erkenntnis ist, verband sie sich, möchte ich
Sagen, ihrem Sterben, von Eva her, starb sich zu.

Im ersten Gedicht geht es um ein gestorbenes oder todgeborenes Kind. Einzelheiten dieser Geburt werden präzise und listenmäßig aufgeführt (S. 15). An anderer Stelle (S. 20) heißt es:

Könnte ich meine Grausamkeit verlernen,
indem ich ins Sterben einkehre, nicht verdammt,
sondern zum Sterben begabt. Ein geräumiges,
gastliches Sterben, das alles Vergängliche
als verwandt denken kann. Das mich meint
von Eva her und um Grausamkeit weiß,
weil sie sich für Erkenntnis entscheidet.
Für Wehe und Weh. Für den Auszug aus Eden.

In den beiden zitierten Textbeispielen (und andernorts im Gedicht) werden Erkenntnis, Grausamkeit, Sterben, Wehe und Weh in einen Zusammenhang gebracht, der immer wieder subtil oder offen variiert und auf den im gedichtartigen ‚Vorwort‘ bereits hingewiesen wird. Noch einmal: Erkenntnis heißt Wissen vom eigenen Schmerz, von der eigenen Endlichkeit, heißt Bewusstsein vom eigenen Tod. Der vielfache, sich stetig wiederholende Bezug auf den Tod mag etwas Beschwörendes haben. Ich bin sterblich, sagt sich diese Eva immer wieder. Doch welchen Schluss zieht sie aus dieser Erkenntnis?

Zunächst einmal hat dieses Wissen Auswirkungen auf die eigene Befindlichkeit, bewirkt, auch davon erzählt schon der oben zitierte Auszug, eine gesteigerte Selbstwahrnehmung: ‚Ich bin nicht hier, um geliebt zu werden‘ / Daran habe ich versucht, mich zu halten (S. 14). Was nimmt diese Eva bei sich wahr? Christlich-theologisch ist Liebe einer der Zentralbegriffe. Liebe ist ein „fundamentales Bestimmungsmoment des Wesens Gottes“, heißt es in einem Wörterbuch theologischer Grundbegriffe. Weist diese Eva damit Gott ausdrücklich zurück? Kann sie nicht lieben? Freud sah im Verlust der Liebesfähigkeit ein wesentliches Melan-choliemerkmal. Aber um Verlust handelt es sich hier nicht, sondern um Zurückweisung fremder Liebe.  Ein anderes Beispiel (S. 23):

Wie gottverfolgt dagegen die Lebenden, Kreaturen
wie aus Goyas Schwarzen Gemälden, heimgesucht
von einem groben, überwirklichen Licht.

Flammender Hund des dreizehnten Tags,
Walgesicht du unter nimmer blutender Zunge,
im Fadenkreuz deines geflickten Augs schau ich
mich an, widersteh mir zu vergeben.

Diese eindrücklich-rhythmischen Verse zeugen von einem Ich-Bewusstsein, das in „schwarzen Gemälden“ von Goya, in „überwirklichem Licht“ in einem „Walgesicht“, einem „Fadenkreuz eines geflickten Auges“, seinen nicht alltäglichen Ausdruck findet. Die poeti-schen Bilder hinterlassen ein undeutliches Gefühl, eine dunkle Ahnung davon, dass mit dem Auszug aus Eden noch etwas anderes verbunden ist als Erkenntnisgewinn, etwas, das in Eva wirkt und sich festsetzt. (S.72): Freiheit, sagt Eva, ist / die entsetzliche Lust, sich an den Wind zu verlieren. Oder (S. 32): Dass ich / mich in Finsternis einfinde, polarnachtlang / überwintere, lichtledig, himmelswütig …

Lichtledig“ ist dabei ein wunderbar leichtes und schwebendes Wort, die Dunkelheit poetisch umschreibend. An anderer Stelle: …wenn Tobsucht mich sucht, wenn ich / mich aufbring, strauchele, gewichte, zu leicht, dass ich schrei -.

Sogar das Licht im Mutterleib stellt sich die Erzählerin einem Licht der Polarnacht verwandt vor (S.85). Und die Polarnacht, wissen wir, ist kalt. Bei dieser Autorin aber ist sie gastlich. Was meint diese positive Konnotation des Kalten, Dunklen? Anderswo heißt es: O Nacht, dass ich noch nachtlang sterben darf (S.62).

V  Melancholie und Revolte

Dunkelheit und Kälte positiv umschreibende und darstellende Begriffe und Wendungen sind hier, im Zusammenhang der Seel’schen Erzählung, deutliche Melancholiesymbole. Wie können wir hier, im Zusammenhang mit der Vertreibung, dem bewussten Auszug aus dem Garten Eden, zur Melancholie gelangen? In einer anderen christlichen Weitererzählung des Mythos, nämlich derjenigen der Hildegard von Bingen, lesen wir:

„Im gleichen Augenblick nämlich, da Adam das göttliche Gebot übertrat, gerann in seinem Blute die Schwarzgalle (melancolia); ... aus der sich dann in ihm die Traurigkeit und Verzweiflung erhoben, denn der Teufel blies bei Adams Fall die Melancholie in ihm zusammen, durch die er den Menschen bisweilen so zweifelsüchtig und wankelmütig macht.“¹⁰

Dass die gewonnene Erkenntnis für den Menschen melancholieauslösend war, hatte im mittelalterlichen Weltverständnis auch bei Hildegard von Bingen wahrscheinlich eher mahnenden, noch auf die „Sünde“ hindeutenden Charakter. Aber der Zusammenhang zwischen der Übertretung des göttlichen Verbots und Melancholie ist von ihr (erstmals?) formuliert. Der sogenannte ‚Sündenfall‘ wird mit der Melancholie so in Verbindung gebracht, dass der Mensch mit ihm „seinen idealen Gleichgewichtszustand als Sanguiniker“ verliert und es zur „Ausbildung krankhafter Temperamente des Phlegmatikers, des Cholerikers und des Melancholikers“ kommt.¹¹ Die Dichterin Helga. M. Nowak hat den Zusammenhang zwischen Wissen und Melancholie in ihrer Beschreibung von Dürers ‚Melencolia I‘ auf den Punkt gebracht, indem sie feststellte: „Dabei kommt ihre Trübsal bestimmt nicht aus mangelnder Kenntnis, im Gegenteil. Sie weiß schon alles.

Man kann nun an verschiedenen Stellen im Gedicht Daniela Seels Melancholiemerkmale auftun oder poetische Bilder als Melancholiesymbole deuten. Das allgegenwärtige Sterben und die Sterblichkeit wurden bereits erwähnt. Auch die Nacht (vor allem in Gestalt der Polarnacht), ein altes, spätestens im Barock ausdrücklich gekennzeichnetes Melancholie-symbol, wurde schon mehrfach erwähnt: Der Tag bedünckt mich Nacht / und Nacht der Tag zu seyn. (Andreas Tscherning, Melyncholey Redet selber). Ein weiterer, mehrdeutiger, aber der Melancholie zuschreibbarer Aspekt ist die Naturflucht oder Einsamkeitssehnsucht der Eva, die an verschiedenen Stellen zum Ausdruck kommt. Ein Beispiel: Ich (Seel) … wildere aus unter Reseden, unter die triftig gefiederten Trugdolden von Wolfsmilch …. Wilder mich aus in Polarnacht, unter die eisverlassenen / brüchig emportauchenden Felsmassen (S.16).

Ein anderes eindrückliches Beispiel für Einsamkeitssehnsucht ist die Aussage der Dichterin (S. 53): Ich wünschte, ich könnte die Bilder von Georgia O’Keefe lieben / wie die Wüste, die sie liebte. … Ich wünschte, ich könnte in ein Bild von Georgia O’Keefe / eintreten wie in diese Einfriedung aus Licht, die ein Traum von der / Unbeständigkeit der wilden Seele ist.

Die Wüstenbilder aus New Mexiko dieser amerikanischen Malerin, die von 1887 bis 1986 lebte, gehören zu ihren eindrücklichsten. Zum Teil sind sie surreal, phantastisch, perspektiven-verzerrende Hügellandschaften, die ihren Blumenbildern in Farben und Formen und Maltechnik nicht unähnlich sind. Ohne Grenzen, hell, lichtvoll. Um zu verdeutlichen, um was es der Erzählerin im Gedicht gehen könnte, wenn sie „in die Bilder“ der Malerin „eintreten“ könnte, zwei Zitate: Über ihre berühmten Bilder mit Skeletten in der Wüste äußerte die Malerin: „Die Knochen scheinen genau in das Zentrum dessen zu führen, was in der Wüste äußerst lebendig ist, obwohl sie weit und leer und unberührbar ist – und bei all ihrer Schönheit keine Freundlichkeit kennt.¹² Ein Freund der Malerin, der Fotograf Anselm Adams, sagte über diese Landschaft: „Der Himmel und das Land sind so ungeheuer groß, und jedes Detail ist derart genau zu erkennen, dass man, egal an welchem Ort, in gleißendem Licht zwischen sehr großen und winzigkleinen Dingen isoliert ist. Alles ist seitlich unter einem und über einem – und die Uhren stehen seit langem still.“¹³ Melancholisch ist hier die Betonung der Weite und Leere der Landschaft, die lichtbedingte Isolation des Betrachters von den Dingen und von der Zeit, während er sie betrachtet. Nur in einer solchen Landschaft, die nicht domestiziert ist, in der nichts vom Menschen beherrscht ist, die dem Menschen unverfügbar scheint, in der Licht der einzige Zaun ist, ist der Traum von der wilden, unbeständigen Seele möglich. Obgleich die Wüste baumlos ist und trocken.

Die Melancholie im Gedicht „Nach Eden“ kann demnach als Folge der Erkenntnis gewertet werden, dass das eigene Leben endlich und ein Gott keine Gewissheit ist. Camus schreibt dazu: „Die Gewißheit eines Gottes, der dem Leben einen Sinn gäbe, ist viel verlockender als die Macht, ungestraft Böses zu tun. Die Wahl wäre nicht schwer. Aber es gibt keine Wahl, und da beginnt die Bitternis. Das Absurde befreit nicht, es bindet.“¹⁴

Und zwar an die Realität des Lebens, dem sich die Eva der Daniela Seel stellt. Alle genannten Bilder, Symbole usw. sind mehrdeutig. Das Nordmeer zum Beispiel, die polare Front von der erzählt wird, eine Seefahrt, die angedeutet wird, (die Seefahrt als Metapher für das Leben?!), Temperatur, Salzgehalt, Dichte des Wassers werden unromantisch-sachlich aufgezählt, die sich mischen und entmischen, von Gesängen längst ausgerotteter Wale wird erzählt. Das immer wieder im Text erscheinende Walgesicht steht für die vom Menschen ausgerottete und gefährdete Tierwelt. Der Wal wieder ist ein symbolisch aufgeladenes Tier. Im Alten Testament kommt er vor, auch unter dem Namen Leviatan. Und Gott schuf große Walfische (1.Mose, 1, 21). Moby Dick kommt ins Gedächtnis, das gewaltige literarische Denkmal, das diesem Tier gesetzt wurde. Mikroplastik wird ausdrücklich erwähnt, Krankheiten werden akribisch aufgeführt, die während der Naziherrschaft ein Todesurteil für den Kranken bedeuteten. Alle diese Bilder evozieren einerseits eine Kälte, eine fehlende Wärme im Lande Noth, machen frösteln. Andererseits zeigen sie einen unprätentiösen, ja sachlich-unsentimentalen Blick auf den Menschen und seine Grausamkeit, auf die Natur, die beschützt werden muss.

Diese Erzählerin, diese Eva, vereinigt oder identifiziert sich nun aber nicht etwa mit der Natur, mit Tieren, verwandelt sich nicht in Pflanzen, oder Bäume (vgl. den Mythos von Apollo, der der Daphne hinterherjagt), also propagiert ausdrücklich nicht das Hinter-sich-lassen dieses vom Leid geprägten Lebens, oder, anders formuliert, des Anthropozentrismus im Sinne etwa einer Donna Haraway und ähnlicher Deuterinnen.¹⁵ Auf diese illusorische Einengung menschlichen Lebens lässt die Erzählerin sich nicht ein. Sie ist realistischer und – ich verwende absichtlich das in unserer Gegenwart gerne negativ konnotierte Wort – vernünftiger.

Dieser Realismus wird im Gedicht durch ein sehr lebendiges Kind der Erzählerin sichergestellt. Beide treten verschiedentlich in Dialog miteinander. Und das Kind stellt auch unangenehme Fragen. Einige sind von kantischer Natur, also: Drängen sich uns auf, weil wir nachdenken und reflektieren, können sie aber nicht beantworten, weil unsere Erkenntnisfähigkeit beschränkt ist: Mama, warum gibt es eigentlich die Welt und die Menschen? / Gab es auch einmal nichts?  Eine solche ‚letzte Frage‘ bleibt in normaler, alltäglicher Lebenspraxis unbeantwortet. Religiöse Lehrer und Propheten nehmen zu solchen Fragen Stellung. Die Philosophie dagegen ist eigentlich ein Diskurs darüber. Auch aus diesem Dilemma oder Kreislauf will die Dichterin ausbrechen – die Sprachlosigkeit als Reaktion auf sie wenigstens ein Stück weit überwinden. Im Gedicht lässt die Mutter/Erzählerin/Eva die Frage des Kindes nicht im Raum stehen. Sie erwidert: Das weiß niemand so genau. Vielleicht wegen Gott. Dann wieder das Kind: Aber Gott ist ja alles. Vielleicht ist die Welt dann in Gott gewachsen. Das ist eine kluge Antwort, vielleicht die einzig mögliche. Die Mutter lässt sie so stehen. Widerspricht nicht. Es bleibt ein Geheimnis: Gott ist alles. Er ist als Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Das Kind hört auch einmal die Bäume singen, bleibt also nicht an einer oberflächlichen Weltsicht hängen.

An anderer Stelle werden Fragen des Kindes allerdings nicht beantwortet: Wir sind Frauen. // Wann werde ich Mama? Darauf schweigt die Mutter. Offenbar ist es schwerer, auf diese Frage einzugehen als auf jene nach dem Urgrund der Welt. Oder: Mama, wann kommt Schnee? // Mir gefällt die Welt nicht. Hinter dieser letzten Aussage steckt hier nicht der antike-christliche Mythenrest von der Welt als Jammertal. Sondern der menschengemachte Klimawandel, die Erderwärmung. An anderer Stelle im Gedicht formuliert die Erzählerin nämlich: Der Schnee bleibt immer häufiger aus. / Er stirbt nicht einfach, ich rotte ihn aus. // Er wird wiederkehren in mir. Wenn ich Erde geworden bin. Der Mensch wird hier als Ursache für das Ausbleiben des Schnees identifiziert. Dessen Identifikation geschieht sehr mittelbar, poetisch, über die Figur der Eva. Und der Mensch wird an verschiedenen Orten im Gedicht hinterfragt, z.B. S. 17: Aber ist nicht der Mensch die invasivste Art? / Oder der nur nach Herrschaft strebende? / Der das eigene Sterben fliehende.

Flieht auch Eva dem eigenen Sterben? Sterblichkeit und Tod ziehen sich ja wie ein roter Faden durch den Text. Sie sind, das weiß Eva, die conditio sine qua non für die selbst-bestimmte Existenz nach Eden. Revoltiert Eva gegen den Tod? Empört sie sich wenigstens über ihn? Sie hat doch selbstbestimmt und eigensinnig diesen Weg gewählt! Wie hält sie das Wissen um den eigenen Tod, welches sie immer wieder betont, immer wieder hervorhebt, aus?

Ich meine: Zweifach. Einmal, indem sie poetisch über diese Erkenntnis redet und reflektiert z.B. (S.83):

In einer Stille leben, die das Gedicht ist,
in sie eingehen, unpersönlich, intim

Nichts zu vernehmen außer dem Rauschen
Von Gedanken, Blättern im Wind, darin
Knarzen, Schreie, Gesang in verwirbelnder Dichte.

Tagelang, nachtlang mit niemandem reden,
die Erscheinungen reden mit mir, Dinge,
Stimmen.

Das poetische Sprechen über die Welt und zugleich die Endlichkeit der eigenen Existenz ist ein tröstendes Sprechen. Es schließt nichts aus, weder Gott noch die harten, schmerzlichen Fakten einer Fehlgeburt oder der Naturzerstörung. Es schließt vor allem auch die nach-denkende, nachfragende Rede über sich selbst nicht aus.

Dazu gehört, weil auch Eva/die Erzählerin Mensch in der Zeitlichkeit ist, auch die eigene Gewalt. Über sie reflektiert diese Eva bewusst: In eine Stille eingehen, der die Geschichte / der eigenen Gewalt eingeschrieben ist, / entsetzensinne. Entsetzen über die eigene, innere gewalttätige Natur. Wohin gehen, wenn ich verschwinde, / meine Verantwortung, meine Gewalt?  Sie fragt das Kind: Werde ich die sein, von der du gelernt hast, was Grausamkeit heißt?  

Zum anderen hält sie dieses Wissen über die eigene Endlichkeit aus, weil sie die Welt nach Eden so annimmt, wie sie ist. Gesagt hat sie zum Beispiel dem Kind ganz pragmatisch und unmelancholisch: Vergiss / meinen Namen, aber vergiss nicht / das Gewehr, wenn Du in der Polarnacht / aus dem Haus gehst. Die Polarnacht ist eine Orts- und Zeitbestimmung, die im Gedicht immer wieder erscheint, zu der sich die Erzählerin auf ganz merkwürdig-emphatische Weise hingezogen fühlt. Die Polarnacht als Sehnsuchts- und Gefahrenort. Die Kälte draußen und innen die eigene Gewalt mögen Erkenntnisgegenstände und Symbole für eine Welt jenseits von Eden sein. Dem Tod begegnet sie so:

Das Licht im Mutterleib stelle ich mir
dem Licht der Polarnacht verwandt vor,
gastlich, unbändig, unbeirrt, möchte ich
sagen, vom Tod.

Unbeirrt vom Tod: Diese Aussage ist die Quintessenz der zweiten Revolte der Eva. Im Übrigen erwählt man sich in der Revolte, schreibt Camus, kein abstraktes Ideal aus Herzensarmut oder zum Ziel steriler Forderungen. Man fordert, dass allein in Anschlag komme, was im Menschen sich nicht auf Ideen abziehen lasse, jener großherzige Teil von ihm, der zu nichts anderem dienen kann als zum Dasein.¹⁶

Zu alldem benötigt diese Eva keine Männer. Denn für eine solche Erkenntnis und die eigene Verantwortung dafür, mit dieser Erkenntnis umzugehen, bedarf es „nur“ der eigenen Reflexionsfähigkeit. Auch das sagt uns das Gedicht und dessen letzte Zeile: Ich habe, was ich brauche.

Der hochpoetische, sprachpräzise Text von Daniela Seel ist vielleicht die einzige, ange-messene Möglichkeit, jenseits überkommener, stumpf gewordener Rationalität, den Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies heute ohne falsches Pathos, Übertreibung und ohne Illusionen zu überwinden, indem er neu gelesen wird. Und er gehört neu gelesen, weil die alte Lesart noch immer übel wirkt. Daniela Seel hat den Mythos damit gewissermaßen zu Ende gebracht, sie hat die äußerste Verformung gewagt, welche die überkommene Vorstellung der Figur der Eva gerade noch oder fast nicht mehr erkennen lässt.¹⁷

Alles in allem war die Schlange also schlau. Denn ihre List bestand darin, dem Menschen über den Umweg der Verführung und des Verbotsverstoßes zu sich selbst, zu der Erkenntnis der eigenen Natur zu verhelfen. Und zur Natur des Menschen gehört wie das Leid auch die Poesie. Beide gehören zusammen, auch das will uns das ungewöhnliche Gedicht von Daniela Seel sagen. Mit der Vorstellung vom Kunstwerk als notwendiger Frucht eines Leidens verbindet sich so jene andere, wonach im Schreiben eine heilende und versöhnende Kraft liegt, die das ‚Leid‘, aus dem das ‚Lied‘ erwachsen ist, in diesem überwindet.¹⁸

Oder kürzer, auf den Punkt gebracht, formuliert von Margret Atwood in einem weiteren Gedicht über die Schlange:

Oh Schlange! Du bist ein Argument für Poesie.


¹ Daniela Seel: Nach Eden. Gedicht. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2024. 90 Seiten. 22,00 Euro.
² Und von ihnen ausweichend und entlastend interpretiert, auch in der Literatur: Das untilgbare Geburtsmal des Leidens auf der Stirn des Menschen ist nur der Stempel des Kummers in der Seele des Schöpfers. Herman Melville: Moby Dick, dtv-Dünndruckausgabe 1979, S.560.
³ Peter Schäfer: Die Schlange war klug. Antike Schöpfungsmythen und die Grundlage westlichen Denkens, C.H. Beck, München 2022, S. 56.
So die Formulierung bei Peter Schäfer, Fn. 1, S. 345.
 Augustinus: Bekenntnisse, Kösel-Verlag München, 1955, S. 97.
 Helmuth Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug, Erinnerungen, Berlin 2020, S. 187, zitiert nach: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Nr. 1/ 23, Seite 1. Zum neuesten Stand vgl. Matthias Politycki, Zeitenwende für die Männlichkeit; FAZ vom 1.2.2025, (digitale Ausgabe) S. Z3.
Peter Schäfer, a.a.O. S, 328.
 Vgl. z.B.: Aurelie von Blazekovic: Eine Frau zu sein, tut weh, in: Süddeutsche Zeitung 30.1.2025, S. 9. Es handelt sich um eine Besprechung des Buches von Eva Biringer: Unversehrt – Frauen und Schmerz. HarperCollins, 2024. Blazekovic verweist auf Beispiele künstlerischer und literarischer Bearbeitungen dieses Themas: etwa Frida Kahlos Bilder oder Miranda Julys Roman ‚Auf allen vieren‘.
Schäfer, a.a.O. S. 329.
¹⁰ Hildegard von Bingen: Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen und der Heilung der Krankheiten. Salzburg: Otto-Müller, 1957. S. 220, zitiert nach: Scheidegger, Milan, Geschichte und Philosophie der Melan-cholie, S. 6, abgerufen von www.yumpu.com.
¹¹ Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, Springer-Verlag 1997, S. 192.
¹²  Zitiert nach: Britta Benke: Georgia O’Keefe, Blumen in der Wüste, Taschen, 2011, S. 60.
¹³  Ebda, S. 66.
¹⁴  Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos, Karl Rauch Verlag, 1956, S.88.
¹⁵  Vergl. zum Stand der filmischen und literarischen Bearbeitung solcher transhumanistischer Verwandlungs-phantasien: Kathleen Hildebrand: Da wird sie zum Tier. Frauen verwandeln sich in Hunde, es wächst Moos auf ihren Wangen, sie fliehen in den Wald – im Film und in der Literatur. Was steckt hinter dieser Sehnsucht? In: Süddeutsche Zeitung vom 31.1.2025, S. 9.
¹⁶ Der Mensch in der Revolte, S. 34.
¹⁷ So die Formulierung von Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Suhrkamp 1996, S. 295 zum überwun-denen / zu Ende gebrachten Mythos.
¹⁸ Ludwig Völker in der Einleitung zu: „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher Melan-cholie-Gedichte, Phillip Reclam, Nr. 7984, S. 27.


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